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dem Barnabas-Evangelium die Spreu vom Weizen zu trennen. Carlucci wusste, dass in diesem Evangelium noch viele Originalsätze des heiligen Mannes enthalten waren, die er aber in seiner Abhandlung in Ermangelung der entsprechenden Paralleltexte nicht übernehmen konnte. Es spielte aber dennoch keine Rolle, denn die rund 70 Stellen, die er als Fälschung entlarvt hatte, reichten völlig aus, um eine Manipulation der Texte zu erkennen, und zusammen mit den anderen Evangelien hatte sich ein Teil der wahren Botschaft des Propheten auch in diesem Evangelium herauskristallisiert:

      Das Erreichen eines höheren Bewusstseins über das Zähmen des niederen Selbst, damit der Mensch seinen inneren Frieden wieder erlangt, der zum Weltfrieden nach außen projiziert und zur Bildung einer neuen Weltordnung führen würde, die aber nur über die Gründung einer Bruderschaft, wie der Essener Täufer sie uns vorgestellt hatte, zu erreichen wäre.

      Die Vermutung Carluccis, dass der Verschwörer andere Evangelien benützt haben musste, die er untereinander mischte, um sein Lügenwerk zu verfassen, bestätigte sich nicht nur mit dem folgenden Kapitel, das das fehlende Stück zu dem Kapitel „Verfluchen des Feigenbaums“ aus dem Neuen Testament darstellte. Dieser Text gab die Stelle aus dem Friedensevangelium wieder, in dem Moses Gott bittet den Menschen, die seine Gebote nicht halten konnten, später, wenn sie für die Wahrheit die nötige Reife erlangt hätten, einen Boten zu senden, der die Gebote Gottes erneut offenbaren würde…

      Das Prinzip war immer das Gleiche: Der Verschwörer entnahm Signalwörter oder Signalsätze aus den Originalevangelien, die er in einem zweckdienlichen Kontext neu verfasste: Winter - Feigen - trocknen - Feigenbaum, der keine Früchte trägt…

      Mit dem anhängenden Text aus dem Barnabas-Evangelium und mit der Anleitung des Essener Täufers, Feigen im Sommer für den Winter trocknen zu lassen, konstruierte der Verfälscher das „Verfluchen des Feigenbaums“, das ränkevoll auf das Verfluchen des jüdischen Volks hinauslief.

      Es war einmal ein Stadler, der einen Weinberg besaß. In der Mitte gab es einen Garten, der mit einem schönen Feigenbaum bepflanzt war. Drei Jahre lang kam der Besitzer und der Feigenbaum trug keine Früchte. Als er feststellte, dass alle andere Bäume Früchte trugen, sagte er zu seinem Weinbauer:

      „Hau diesen schlechten Baum ab, er belastet unnötig den Boden.“ Der Weinbauer antwortete:

      „Tu dies nicht, Meister, denn es ist ein schöner Baum!“

      „Schweig!“ sagte der Besitzer, „denn mir ist an unnützer Schönheit nichts gelegen. Du solltest wissen, dass die Palme und der Balsambaum edler sind als der Feigenbaum. Ich hatte im Innenhof meines Hauses eine Palme und einen Balsambaum angepflanzt, die ich von einer teuren Mauer umgeben ließ, dennoch als sie keine Früchte trugen, sondern nur Blätter, die verfaulten und den Boden vor dem Haus verdarben, ließ ich beide entfernen. Und jetzt soll ich einen Feigenbaum begnadigen, der weit weg vom Haus und von meinem Garten steht, und er für meinen Weinberg eine Last bedeutet, wo jeder anderer Baum Früchte trägt? Nein, ich werde dies gewiss nicht länger dulden!“ Da sagte der Weinbauer:

      „Meister, die Erde ist zu fett. Warte noch ein Jahr, ich werde die Zweige des Feigenbaums beschneiden und werde die Fettigkeit des Boden wegnehmen und magere Erde und Steine hinzutun, und er wird Früchte tragen.“ Der Eigentümer antwortete:

      „Nun geh und tu dies. Ich werde warten bis der Feigenbaum Früchte trägt. “33

      Die Israeliten kannten zwar nicht die göttliche Wahrheit, dennoch waren sie die einzigen, die allein einen Gott anbeteten. Alle anderen Völker waren Götzendiener, die Götter aus Holz, Stein oder Metall anbeteten. Aus diesem Grund konnten sich die Israeliten als „das Volk Gottes“ bezeichnen. Nicht weil sie gerecht waren, sondern weil sie trotz ihrer Sünden näher an der Wahrheit waren als alle anderen Völker, die sichtbare Götzen anflehten. Nur aus diesem Volk, die eine Grundlage für das Verstehen der göttlichen Wahrheit hatte, konnte der Prophet aufstehen, der ihnen die Wahrheit über das göttliche Gesetz offenbaren würde. In der Tat brachte der Feigenbaum (Israel) in dem oberen Kapitel, obwohl er im Garten des Gutsherrn (Gott) wuchs, keine guten Früchten. Es war ja nicht anders zu erwarten, denn der Weinbauer (der Prophet) hatte den Boden (seine Lehre) noch nicht bereitet.

      In diesem authentischen Kapitel verflucht der Prophet nicht den Feigenbaum, sondern der Weinbauer (wie Moses) bittet den Gutsherrn noch um etwas Geduld. Er wird den Baum beschneiden (Taufe/Fasten) und einen guten Boden hinzutun und dann, sagt der Weinbauer zuversichtlich, wird der Baum gute Früchte tragen. Sogar der Gutsherr (Gott) ist davon überzeugt und lässt ihn gewähren.

      Anhand der Modifikation des authentischen Textes durch den Verschwörer im Kapitel „Das Verfluchen des Feigenbaums“ lässt der Bösewicht nach wie vor sein Motiv erkennen, die Juden zu diskriminieren und als Sündenbock zu benutzen, um die Römer aus dem bösen Spiel herauszulassen.

      In den beiden folgenden, fast identischen Texten aus Heliand und aus dem Friedensevangelium verflucht Gott nicht sein Volk, sondern gewährt ihm, wie im Gleichnis vom Feigenbaum, Auszeit zur Reifung.

      Das Evangelium des Friedens-Heliand:

      Nun sagten andere:

      „Moses, der größte in Israel, erlaubte unseren Vorvätern, das Fleisch reiner Tiere zu essen, und verbot nur das Fleisch unreiner Tiere. Warum verbietest du uns denn das Fleisch aller Tiere? Welches dieser Gesetze kommt von Gott: Mose Gesetz oder dein Gesetz? Und Jesus antwortete:

      Gott gab Moses euren Vorvätern zehn Gebote.

      Diese Gebote sind hart, sagten unsere Vorväter und konnten sie nicht halten. Als Moses das sah, hatte er Mitleid mit seinem Volke und wollte es nicht umkommen lassen. Und so gab er ihnen zehn Mal zehn Gebote, weniger harte, damit sie diese zu befolgen vermochten.

      Ich sage euch, wahrlich, wären eure Vorväter fähig gewesen, Gottes zehn Gebote zu halten, so hätte Moses niemals zu seinen zehn Mal zehn Geboten Zuflucht nehmen müssen.

      Denn wessen Füße stark sind wie der Berg Zion, der bedarf keiner Krücken; wacklige Beine dagegen kommen mit Krücken weiter als ohne sie. Und Moses sagte zum Herrn:

      Mein Herz ist betrübt, denn mein Volk wird verloren sein.

      Sie sind ohne Erkenntnis und können deine Gebote nicht verstehen. Sie sind wie kleine Kinder, die ihres Vaters Worte noch nicht fassen können. Gestatte, Herr, dass ich ihnen andere Gebote gebe, damit sie nicht umkommen. Vermögen sie nicht mit dir zu sein, Herr, so lass sie nicht gegen dich sein, damit sie durchhalten können.

      Und ist dereinst die Zeit gekommen, dass sie für deine Worte reif geworden sind, so enthülle ihnen deine Gesetze.

      Daher zerbrach Moses die beiden Steintafeln, auf denen die zehn Gebote geschrieben standen, und er gab an deren Stelle zehnmal zehn. Und aus diesen zehnmal zehn haben die Schriftgelehrten und die Pharisäer hundertmal zehn Gebote gemacht“.34

      Das Evangelium der Essener:

      Dann sagte ein anderer: „Moses, der größte in Israel, erlaubte unseren Vorvätern, das Fleisch von‚reinen’ Tieren zu essen und verbot das Fleisch der unreinen Tieren. Warum verbietest du uns das Fleisch aller Tiere? Welches Gesetz ist von Gott? Das von Moses oder dein Gesetz?

      Und Jesus antwortete: Gott gab euren Vorvätern durch Moses zehn Gebote. ‚Diese zehn Gebote sind schwer‘, sagten eure Vorväter und konnten sie nicht halten. Als Moses dies sah, hatte er Mitleid mit seinen Leuten und wollte sie nicht zugrunde gehen sehen. Und darum gab er ihnen zehn mal zehn Gebote, weniger schwer, dass sie diesen folgen könnten. Wahrlich, ich sage euch, wenn eure Vorväter fähig gewesen wären, die zehn Gebote Gottes zu halten, hätte Moses niemals zehnmal zehn Gebote geben müssen. Denn derjenige, dessen Füße stark sind wie der Berg Zion, braucht keine Krücken. Aber der, dessen Glieder zittern, kommt mit Krücken weiter als ohne sie. Und Moses sagte zum Herrn: ‚Mein Herz ist erfüllt mit Sorge, denn meine Leute sind verloren. Denn sie sind ohne Wissen und nicht fähig deine Gebote zu verstehen. Sie sind wie kleine Kinder, die noch nicht die Worte ihres Vaters verstehen können. Erlaube mir, Herr, dass ich ihnen andere Gesetze gebe, damit sie nicht untergehen. Wenn sie nicht mit dir sein können, dann lass sie wenigstens nicht

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