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gemeinsamen Sohn David zur Welt. Dieser benötige intensive Betreuung, da er mit einem Gendefekt auf die Welt kam. Seit einiger Zeit leben er und seine Frau getrennt. Man sieht es der Wohnung an, dass Reinhard allein haust, es herrscht, sagen wir mal, eine gemütliche Unordnung. Beim leckeren Abendessen geniesst er es sichtlich, wieder einmal Gesellschaft zu haben und er kommt aus dem Erzählen nicht heraus. Er ist wirklich nicht zu bremsen und schweift gerne und ausführlich vom Thema ab, um dann eine Viertelstunde später zum eigentlichen Punkt zurückzukehren. Reinhards grösste Leidenschaft ist das Kajakfahren. Ganze 16 Stück lagert er in einem seiner vielen Schuppen! Ich wette, er kennt praktisch jeden Fluss in Europa und viele davon befuhr er schon persönlich. Mit leuchtenden Augen schwärmt er von der Freiheit auf dem Wasser. Diese Woche will er unbedingt mal wieder auf den Rhein paddeln gehen, der habe im Moment den perfekten Pegelstand. Die Zeit vergeht im Nu und da die Literflasche Riesling auch schon leer ist, beschliessen wir, zu Bett zu gehen.

       20 Steigungsprozente

       Tag 10: Dienstag, 14. Mai 2019, 33 km (272 km)

      Um 7 Uhr streichen wir gemeinsam unsere Stullen. Ich bevorzuge Butter und Honig, Reinhard belegt seine Scheiben grosszügig mit Wurst und Käse. Eine halbe Stunde später schaut seine Frau Doris herein. In ihrem Schlepptau befindet sich Sohn David, der in eine Behindertenwerkstatt zur Arbeit geht. Glücklicherweise muss auch Doris ihrem Job nachgehen, denn das Klima zwischen den Eheleuten ist, schlicht gesagt, ein wenig unterkühlt. Reinhard lässt sich nichts anmerken und kurz darauf beendigen wir unser Morgenmahl. Ich packe meine Siebensachen zusammen. Aus dem Nichts kommt Reinhard mit der Idee, wir könnten doch morgen auf der Donau eine gemeinsame, eintägige Kajaktour starten. Ja, das wäre schon was, aber ich bin im Moment vom Wanderfieber gepackt und möchte weitermarschieren. Er ist sichtlich enttäuscht. Ich fülle die Wasserflaschen auf und schon bin ich abfahrbereit. Zum Abschied knipst mein sympathischer Gastgeber einige Fotos von Mrs. Molly und mir. Er will dem lokalen Zeitungsblatt einen bebilderten Artikel über uns liefern.

      Wie gestern zeigt sich auch heute das Wetter von seiner besten Seite. Kühl ist es noch immer und unten auf der Ebene bläst mir ein sehr unangenehmer Wind ins Gesicht. Der Weg führt durch riesige landwirtschaftliche Flächen. Raps, Weizen und Wiesen wechseln sich ab. Ein prächtiger Feldhase sitzt auf der Fahrbahn, der beim Näherkommen mit weiten Sprüngen panikartig das Weite sucht.

      Um die Mittagszeit trudle ich in Riedlingen ein. Die Besiedelung der Stadt geht auf einen Besitz von Ludwig des Frommen aus dem Jahr 835 zurück. Riedlingen ist eine der wenigen Orte der Region, die früher trotz ihrer geografisch günstigen Lage von Plünderungen und Kriegswirren weitgehend verschont geblieben ist. Aus diesem Grund treffe ich auf eine sehr gepflegte und intakte Altstadt. Viele aufwändig restaurierte Fachwerkhäuser säumen die Gassen. Hier treffe ich auch die Gruppe Französinnen, die gemeinsam mit dem Fahrrad auf einer Tour sind. Sie überholten mich vor der Stadt und grüssten mich lauthals mit einem fröhlichen «bonjour». Dieses Jahr seien sie schon zum 16. Mal auf einer einwöchigen Radeltour. Nur für Mädchen sei diese Woche, erzählt die charmante Anführerin mit ihrem französischen Akzent. Die Ehemänner müssten zuhause selbstständig zurechtkommen, was mittlerweile ganz gut klappe. «Mädchen», denke ich schmunzelnd – die meisten der Gruppenmitglieder sind nach meiner vorsichtigen Einschätzung schon längst im Pensionsalter. Für das obligate Gruppenfoto posieren Molly und ich sehr gerne.

      Heute verläuft der grösste Teil der Route flach und asphaltiert. Auf den Wiesen suchen sich eine Handvoll Störche und Fischreiher ihr Futter. Ein Bussarden-Paar schwebt durch die Luft und hält nach Beute Ausschau. Unzählige Schwalben schwirren über das Wasser der Donau, um sich mit Insekten den Bauch vollzuschlagen.

      In Zwiefaltendorf fliesst der Fluss Zwiefalter Ach in die Donau. Hier gäbe es eine lokale Bierbrauerei, die aber leider geschlossen ist. Gleich um die Ecke geht es nach Datthausen. Dieses Dorf ist etwas höhergelegen. Das Schild am Anfang der Steigung lässt das Blut in meinen Adern gefrieren: 20 Steigungsprozente werden da, ohne Vorwarnung, angekündigt! Das ist jetzt wirklich steil. Es sind zwar nur 100 Meter oder so, aber ich muss viermal stehenbleiben um durchschnaufen zu können. Zum Anhalten stelle ich Molly quer zur Fahrtrichtung in die Strasse, damit sie sich nicht selbstständig macht. Eine Bremse könnte ich jetzt sehr gut gebrauchen. Das anschliessende Anfahren ist enorm mühsam. Mit vorgebeugtem Körper und ausgestreckten Armen muss ich vollen Schub geben und mit ganzer Kraft drücken, damit ich in Schwung komme. Viel steiler darf es nicht mehr werden! Drei Kilometer hinter Datthausen finde ich einen makellosen Platz im Wald. Aus Erfahrung lernt man und deshalb habe ich mich seriös vergewissert, damit ich nicht wieder in der Nähe eines Jägerhochsitzes, respektive in dessen Kugelfang, übernachte.

       Spaghetti bolognese umsonst

       Tag 11: Mittwoch, 15. Mai 2019, 38 km (310 km)

      Ein älteres Ehepaar mit Fahrrädern, das ich gestern kurz vor Feierabend bei der steilen Rampe traf, ist sehr überrascht, als es mich erblickt. «Was, Sie sind auch schon hier, das gibts doch nicht!» Ich muss lachen und nehme die beiden auf die Schippe. «Ich habe offensichtlich weniger lang wie Sie geschlafen und mein Frühstück war auch nicht derart reichhaltig wie in Ihrem Hotel.» Sie müssen mir schmunzelnd beipflichten und so machen sie sich von dannen.

      Die Altstadt von Munderkingen wirkt wegen einer Baustelle nicht gerade einladend. Ich kaufe mir im Vorbeigehen in einer Bäckerei eine Zimtschnecke und spaziere kauend weiter. Beim Bäcker konnte ich mich nach dem nächsten Supermarkt erkundigen. «Einfach dem Radweg folgen und nach etwa einem Kilometer, ausgangs der Stadt, haben Sie eine grosse Auswahl.» Die Angaben der Verkäuferin stimmen haargenau und ich kann die Proviantsäcke wieder auffüllen. Zusätzlich zu meinem Vorrat leiste ich mir einen lecker aussehenden Fertigsalat mit Käse und Croûtons – den werde ich am Mittag, zusammen mit einem belegten Brot, verspeisen.

      Trotz hartnäckigem und kaltem Gegenwind komme ich flott voran. Die Blessuren an den Füssen stören mich nicht allzu sehr, respektive, ich ignoriere sie gekonnt. Meine beiden Fersen sind noch immer lädiert und darum pflege ich sie intensiv. Nach dem Aufstehen versuchte ich ein weiteres Mal, die beiden wunden Stellen zu tapen. Schon vor der Abreise besorgte ich mir diese supermodernen, extrateuren orthopädischen Pflaster. Sehr fachmännisch klebte ich diese auf die Abschürfungen. Ich weiss beim besten Willen nicht, wie das andere Leute bewerkstelligen. Bei mir begeben sich diese Dinger spätestens nach einer Viertelstunde auf Wanderschaft und nach einer Stunde kleben diese verdammten Pflaster irgendwo an meinen Füssen, auf alle Fälle nicht dort, wo sie hingehören. Ich hinke bis zur Mittagspause in den Trekkingschuhen und wechsle dann auf die Sandalen, um den Füssen eine Abwechslung zu gönnen.

      Ehingen präsentiert sich als recht hübsche Kreisstadt. Im Zentrum wird sogar ein kostenloses WLAN angeboten, das aber bei mir mal wieder nicht funktioniert. Ich überquere die Strasse und stehe vor der grossen Stadthalle. Hier funktioniert das Internet plötzlich tadellos. Zur Stadthalle gehört auch das Restaurant zur Linde und die Tür zur Wirtschaft steht sperrangelweit offen. Ich gucke neugierig in die Gaststube und frage den Wirt, ob ich mit meinem Einkaufswagen reinkommen darf. «Ja klar, selbstverständlich, komm nur – was bist denn du für einer?» Axel, der Wirt, seine Ehefrau Beate und die drei letzten Gäste bestaunen mich sprachlos. Sie schütteln alle ihren Kopf und bewundern den Einkaufswagen. Die Fragen prasseln nur so auf mich ein. Brav wie gewohnt gebe ich gerne Auskunft. Die Wirtsleute haben diesen Betrieb erst vor kurzem gepachtet. Hier im Parterre bieten sie seit neustem einen einfachen Mittagstisch für Schüler und Arbeiter an. Axel meint treffend, wer derart viel wandert, sollte auch genügend essen. Spontan lädt er mich zu einem kostenlosen Teller Pasta bolognese ein – Widerspruch zwecklos. Auf diese Weise komme ich unverhofft zu einem zusätzlichen Mittagessen. Mampfend sage ich zu Axel: «Diese schmackhaften Teigwaren geben mir Energie für mindestens 10 km.» 20 Minuten später schliessen die grosszügigen Wirtsleute die Gaststube, um im ersten Stock, wo sich das gediegene à la carte Restaurant befindet, die Vorbereitungen für das Abendgeschäft zu treffen.

      Relaxt

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