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50 Kehlen klingen mir gute Wünsche und Anfeuerungsrufe entgegen und schon bin ich unterwegs. Ich weiss gar nicht, wie mir geschieht. Der Fernsehmann läuft vor mir her und filmt konzentriert. Er folgt mir für den ersten Kilometer, bis er genügend Material für die Sendung im Kasten hat.

      Martin, ein Freund aus Lehrlingszeiten, begleitet mich spontan die ersten 15 km bis zu seinem Wohnort Aarwangen. Wir folgen dem Fluss Aare auf der «Veloroute 5». Martin und ich haben uns schon lange nicht gesehen und deswegen sind wir in ein angeregtes Gespräch vertieft. In Bannwil schlägt er vor, den Fahrradweg zu verlassen. Auf dem Wanderweg auf der linken Seite sei es viel schöner und er kenne die Strecke, die habe er schon mit dem Velo befahren. Absolut kein Problem für so ein Wägelchen, meint er noch. Das stimmt ja auch für die ersten zwei Kilometer. Der kiesige Pfad wird aber immer schmäler und schmäler. Kräftezehrend holpern wir über knorrige Wurzeln durch den Wald. Der Pfad macht unvermittelt eine scharfe Linkskurve und staunend stehen wir doch tatsächlich vor einer steilen Treppe. Die Kinnlade fällt mir herunter und einen fragenden Seitenblick in Richtung meines Freunds kann ich mir nicht verkneifen. «Du bist doch der lokale Führer – und jetzt so was», frotzle ich. Schmunzelnd meint Martin, dass er sich an keine Treppe erinnern könne und überdies werde er dieses Jahr ja auch schon 50 Jahre alt, da verdränge man einiges! Trotz seiner cleveren Argumentation gibt es kein Zurück. Mein vergesslicher Freund packt hinten an und ich suche mir einen guten Griff auf Mollys Vorderseite. Mit einem enormen Kraftaufwand hieven wir den bleischweren Einkaufswagen keuchend die 30 Stufen hinauf. Obschon wir von der Anstrengung völlig ausgepumt sind, können wir uns vor lauter Lachen kaum erholen. Ich klopfe der sperrigen Mrs. Molly schnaufend auf ihren Deckel. Was denkt wohl sie über diesen schwierigen Beginn?

      Ja Christian, auch ich habe mir den Start unseres neuen Abenteuers anders vorgestellt. Du hast davon gesprochen, dass wir es gemächlich angehen werden. Und nun das! Auf unserem gemeinsamen Trip durch Australien hatten wir auf den 3059 km nie eine derartige Treppe als Hindernis zu überwinden. Nach wenigen Kilometern pfeifst du schon aus dem letzten Loch – wie sollen wir es so bis nach Moskau schaffen? Ich weiss, dass du mit einer schweren Erkältung gestartet bist und deine fiebrig glänzenden Augen sprechen Bände. Martin hatte keine Probleme, mich die Stufen hinaufzutragen, doch dich hat diese Anstrengung schon ziemlich ans Limit gebracht. Aber irgendwie hat es mir schon gefallen, von euch zwei Männern wie eine Sänfte raufgetragen zu werden. So darf es ruhig weitergehen!

      Nachdem wir uns beruhigt haben, geht es durch den Wald und nach weiteren 500 Metern stehen wir vor einer Rampe. Dieses Mal ohne Stufen, aber unwahrscheinlich steil, nass und schmierig! Ohne grosse Diskussion packen wir an. Ich mühe mich stossend auf der unteren Seite ab, während Martin gleichzeitig mit voller Kraft am Wagen reisst. Zwei oder drei Mal müssen wir eine Rast einlegen. Ich verkeile mich mit den Absätzen im Dreck, damit sich Molly nicht plötzlich selbstständig macht und den Hang runterpurzelt. Nachdem das «pièce de résistance» überwunden ist, lassen wir uns Zeit den Puls auf einen normalen Rhythmus sinken zu lassen. Und da kommt die Schokolade, die ich geschenkt bekommen habe, gerade richtig. Das gibt wieder Kraft und die restliche Strecke verläuft ganz entspannt. Entspannt auch deshalb, weil mich Martin für einige Zeit an den Holmen von Molly ablöst. Mit einem Augenzwinkern verabschiede ich mich in Aarwangen schweren Herzens von ihm. Jetzt bin ich definitiv auf mich allein gestellt. Und was habe ich aus unserer Treppen-Odyssee gelernt? Im Zweifelsfall werde ich in Zukunft lieber auf dem beschilderten Veloweg bleiben und auch einen Umweg oder ein bisschen Verkehr in Kauf nehmen. Treppen sind definitiv nichts für uns!

      In Wolfwil gönne ich mir eine halbstündige Siesta. Auf einer Parkbank mit Sicht auf den Fluss verpflege ich mich mit Banane und Schokolade. Unvermittelt fährt ein graues Auto vor und ein älteres Ehepaar steigt aus. Sie hätten mich eingangs des Dorfs beobachtet. Das ist doch der verrückte Kerl, der zu Fuss nach Moskau wandert, habe sie zu ihrem Mann gesagt. Deshalb haben sie postwendend das Auto geentert und sind mir hinterhergefahren. Wir unterhalten uns eine Weile und zum Abschied fragt mich die Dame schüchtern, ob sie ein Foto von mir und meinem Einkaufswagen machen dürfe. Klar darf sie. Sie zückt ihr Smartphone und brav posieren Molly und ich. Nach der Verabschiedung packe auch ich zusammen und nehme die nächsten paar Kilometer unter die Füsse. Es ist noch immer bitter kalt und die Wollmütze bleibt definitiv den ganzen Tag auf dem Kopf. Die Route verläuft mehrheitlich im Wald. Hier treffe ich eine vierköpfige Familie auf ihrem Sonntagsspaziergang. Was hat ein Einkaufswagen im Wald zu suchen, scheinen Mutter, Vater und die Kinder staunend zu denken. Gerne kläre ich sie auf. Sie können nicht glauben, was ich vorhabe, wünschen mir aber trotzdem eine gute Reise.

      Langsam werden die Beine schwer. Ich spüre jeden Knochen in meinem Körper. Nach läppischen 23 km fühle ich mich leer, schlapp und ausgebrannt. Im Wald zwischen Fulenbach und Boningen habe ich genug. Ich finde einen Grillplatz, der mir sogar einen rustikalen Tisch mit Bänken bietet. Wild campieren ist in der Schweiz und in weiten Teilen Mitteleuropas eigentlich verboten, aber das ist mir egal. Schnell ist das Zelt aufgestellt. Auf dem Gaskocher wärme ich mir lustlos eine Nudelsuppe und streiche mir dazu ein Sandwich, das ich grosszügig mit Salami und Käse belege. Nach dem Essen scheint die Welt wieder einigermassen in Ordnung zu sein. Während ich diese Zeilen schreibe, frieren mir die Finger schier ab und deswegen verziehe ich mich schon kurz nach 20 Uhr in mein behagliches Nest.

       Bekannt wie ein bunter Hund

       Tag 2: Montag, 6. Mai 2019, 28 km (51 km)

      Ich habe sehr schlecht geschlafen. Ich benötige immer einige Tage, um mich an die relativ harte Matte und den Schlafsack zu gewöhnen. Es ist noch dunkel und ich liege für eine Stunde im herrlich warmen Bett. Es ist ruhig, nur in der Ferne kann ich das leise Rauschen der Autobahn hören. Genau um 5: 15 Uhr fangen die ersten Vögel zu zwitschern an, wie um mir zu sagen, dass ich meine müden Knochen aus dem Schlafsack schälen sollte. Das mache ich dann auch eine halbe Stunde später. Ich komme nur sehr schwer in die Gänge. Ich fühle mich noch immer schlapp und der starke Husten fördert unappetitliche Mengen grünen Schleim aus dem Hals. Der heisse Kaffee bewirkt Wunder und mit dem kochenden Wasser rühre ich auch den Porridge an. Den Haferbrei verfeinere ich mit getrockneten Früchten und Nüssen. Mein Appetit scheint das einzige Gesunde an mir zu sein und ich verschlinge mit Heisshunger die stolze Portion. Ein Raureif liegt auf den Pflanzen und ich wärme die klammen Finger an der heissen Tasse. Eine Stunde später ist das Camp abgebaut und Mrs. Molly beladen. Sicherheitshalber kettete ich sie über Nacht, fünf Meter neben meinem Zelt, mit dem Fahrradschloss an einen Baum. Das erscheint jetzt sogar mir ziemlich grotesk und übertrieben. Wer will schon mitten im Wald einen Einkaufswagen klauen? Aber man kann ja nie wissen – sicher ist sicher. Während der Nacht fand übrigens die gesamte Ausrüstung im Zweimannzelt Platz.

      Die ersten Kilometer führen mich gemächlich durch den Wald. Im Dorfzentrum von Boningen treffe ich zwei Bauarbeiter. Einer fährt mit seinem Bagger gerade über die Strasse. Er fällt um ein Haar aus seiner Baumaschine, als er mich erblickt. «Bist du nicht der verrückte Kerl, der zu Fuss nach Moskau läuft? Ich habe die Story gerade eben im Radio 32 mitbekommen!» Sein Arbeitskollege kommt dazu und will alles ganz genau wissen. Selbstverständlich werden die Handys gezückt, um dieses spezielle Treffen zu verewigen.

      Die erste Etappe führt mich mehr oder weniger am Ufer der Aare entlang. Ich passiere Aarburg und kann nach wenigen Kilometern unerkannt durch das Zentrum von Olten marschieren. Die Beschilderung der Route ist tadellos und ich komme flott voran. Nach der Ortschaft Winznau kann ich schon den Kühlturm des Kernkraftwerks Gösgen erspähen. Von weitem präsentiert sich das Bauwerk ziemlich surreal: Aus einem intensiv gelbblühenden Rapsfeld wächst dieser Betonkoloss in die Höhe. Und wie von einem Spinnennetz umhüllt, führen zahllose Starkstromleitungen in alle Himmelsrichtungen. Ich lasse den Kühlturm hinter mir. Später ist dann wieder fertig mit «unerkannt bleiben». Drei Mal werde ich auf das Radiointerview angesprochen. Ein Autolenker fährt mir sogar hinterher, um mir eine gute Reise zu wünschen und mir persönlich die Hand zu schütteln. Solche Aufmerksamkeit bin ich mir nicht gewohnt, aber ich freue mich sehr über jede einzelne Aufmunterung.

      Die letzten 6 km bis nach Aarau führt der Weg flach und asphaltiert dem Flusslauf entlang. In Rombach, einer kleinen Gemeinde direkt neben Aarau, komme ich heute bei Freunden unter. Sie wohnen in einem modernen Terrassenhaus mit Aussicht auf die Stadt.

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