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Das ist lieb von dir«.

      Er lässt sich kraftlos zurückfallen.

      »Schon in Ordnung.«

      Sie dreht sich zu mir.

      »Und du, Martin? Bleibst du auch da?«

      »Ich glaube, ich gehe jetzt auch. Ein bisschen frische Luft ist sicher nicht verkehrt.«

      »Okay. Du kannst mit mir mitkommen, meine Arbeitsstelle ist fünf Minuten von hier, und direkt davor ist eine Bushaltestelle.«

      »Alles klar.« Ich trinke den Rest Kaffee aus und stelle meine Tasse dann zu ihrer ins Spülbecken.

      »Gut, dann los.«

      Sie zieht ihren grünen Mantel an, reicht mir meine Jacke, schlüpft in die roten Stiefel, zieht die Mütze über ihre kurzen, braunen Haare, legt Schal und Handschuhe an. Dann nimmt sie ihre ebenfalls knallbunte Tasche und öffnet die Wohnungstür.

      »Halt, ich darf die Augen nicht vergessen.«

      Sie öffnet den zweiten Schub der schmalen Kommode, die neben der Wohnungstüre steht, und nimmt einen kleinen Beutel heraus, den sie in die Manteltasche steckt.

      »Augen?«

      »Wirst du gleich sehen. Komm mit.«

      Ich muss kurz an ›Minority report‹ denken. Haben sie im Altenheim Schleusen mit Augen-Scannern? Wir gehen aus der Wohnung. Bevor sie die Türe schließt, steckt sie den Kopf noch mal durch die Tür.

      »Gute Besserung, Harald.«

      Aber Hari ist schon eingeschlafen.

      11: 03: 23

      Die Luft ist frisch, es riecht nach Winter. Der Nebel hängt in den Straßen. Obwohl viele Leute unterwegs sind, um noch ihre Besorgungen für’s Wochenende zu machen, hört und sieht man fast nichts. Wir gehen die Straße entlang, fast wie in Watte, auch unsere eigenen Schritte scheinen gedämpft zu sein. Oder sind das die Nachwirkungen der letzten Nacht?

      »Was hast du heute noch vor, Martin?«

      »Nicht viel. Dieses Wochenende habe ich keine Gigs mehr, keine Proben, gar nichts. Vielleicht gar nicht mal so schlecht nach der letzten Nacht. Und du?«

      Sina lacht.

      »Arbeiten! Dann heim. Essen. Schlafen. Und vorher vielleicht noch die Diskussion mit euch gedanklich aufarbeiten. Harald hat ein paar … interessante Theorien. Seltsam, aber interessant.«

      »Wobei dein Vorschlag mit dem Douglas-Adams-Zitat auch ziemlich … interessant war.«

      Sina ist wie Hari und ich von Douglas Adams schwer begeistert. Nachdem Hari seine Theorie lang und breit vorgetragen hat, hat Sina auf den Anfang vom zweiten Band der Anhalter-Trilogie verwiesen. Sinngemäß steht da, dass es eine Theorie gibt, wonach das Universum in dem Augenblick durch etwas komplizierteres ersetzt wird, in dem der Mensch glaubt, alles verstanden zu haben. Manche würden behaupten, das sei schon passiert.

      Wir haben den Faden dann gemeinsam weitergesponnen. Theoretisch könnte es tatsächlich möglich sein, dass die Welt am Anfang sehr einfach war und die Erde tatsächlich irgendwie der Mittelpunkt. Nachdem die Menschen versucht haben, mehr von ihrer Umgebung zu verstehen, musste die Computersimulation (wenn es sie denn gibt) dem Rechnung tragen und komplexer werden. Planetenbewegungen, heliozentrisches Weltbild, Atomtheorie. Immer dann, wenn die Menschen an eine Grenze stoßen, kommt eine Komplexitätsebene hinzu.

      Max Planck wurde ja Ende des neunzehnten Jahrhunderts von einem Physikstudium abgeraten, weil schon alles erforscht sei. Einige Jahre später: bäm! – Quantenmechanik, alles noch mal von vorn.

      Wir gehen schweigend weiter, bis Sina unvermittelt stehen bleibt.

      »Hier ist es!«, zischt sie.

      »Was ist hier?« Automatisch senke auch ich die Stimme zu einem Flüstern, obwohl keiner zu sehen ist.

      »Siehst du die Straßenlaterne? Die Schraube hier sieht aus wie eine Nase, und die abgeblätterte Farbe hier hat was von einem grinsenden Mund. Fehlen nur noch die Augen.«

      Sie kramt in ihrer Manteltasche.

      »Ta-da!«

      Ein kleiner Beutel mit selbstklebenden Kulleraugen baumelt vor meinem Gesicht. Zwei Stück davon holt sie aus dem Beutel und klebt sie an die Laterne.

      »So gefällt mir das viel besser.«

      Sie betrachtet grinsend die Laterne, und die Laterne schaut nun grinsend zurück.

      »›Seltsam, aber interessant‹ trifft ja irgendwie auch auf dich zu«, sage ich – und bereue es im selben Augenblick. Könnte man als alles zwischen billiger Anmache und Beleidigung auffassen, obwohl ich es weder so noch so gemeint habe.

      Sina lächelt mich an.

      »Ich fasse das als Kompliment auf und hätte den Spruch gerne auf meiner Urne. Hat aber noch Zeit.«

      Ich lächle unsicher zurück.

      »Bin noch nicht ganz da. Sorry, wenn ich irgendwelchen Bockmist labere.«

      »Aber ich bin da.«

      Sie deutet mit dem Daumen hinter sich.

      »Da muss ich rein. Ich wünsche dir einen entspannten Tag, Martin.

      Man sieht sich.«

      Ich klappe meinen Mund auf, um noch irgendwas zu sagen, aber bevor das Gehirn Verbindung zum Mund aufnehmen kann, ist Sina mit all ihren Farben in dem grauen Gebäude verschwunden. Ich starre auf die Tür und murmle: »Dir auch.«

      12: 07: 56

      Das Quietschen der Bremsen holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich sitze im Bus und blicke auf: meine Haltestelle. Ich springe zu schnell auf – ein Fehler – aber der kurze flaue Moment ist vorbei, als ich auf dem Gehsteig stehe.

      In meiner Wohnung lasse ich mich aufs Sofa fallen. Kaffee? Später. Essen? Viel später. Ich greife zu meiner alten Übegitarre, schalte das Effektgerät ein und setze den Kopfhörer auf. Eigentlich sollte ich an dem neuen Song weiter basteln, aber irgendwie bleibe ich an den ersten beiden Akkorden hängen. Ein bisschen Chorus, ein bisschen mehr Ping-Pong-Echo und viel mehr e-Moll – eintauchen, eins werden mit dem Instrument und dem Sound …

      16: 29: 07

      Ich erwache aus der Trance, als es an der Haustüre klingelt. Wie spät ist es eigentlich? Ein kurzer Blick auf das Telefondisplay – halb fünf und neun entgangene Anrufe. Von Ulla. Ich gehe zur Tür und öffne. Draußen steht – Ulla. Sie wirkt aufgebracht, die Augen ein bisschen gerötet, so als ob sie geweint hätte.

      »Hallo Ulla.«

      »Hallo Martin.«

      »Sorry, ich habe Musik gemacht und hatte den Kopfhörer auf.«

      Ich deute in Richtung Decke, zu meinen Lieblingsnachbarn im Stockwerk über mir.

      »Mietwohnung. Du hast schon ein paarmal angerufen, das hab ich jetzt erst gesehen.«

      »Kein Problem, ich war … ich hatte … ich war sowieso gerade in der Stadt und dachte …«. Sie sucht nach Worten.

      »Darf ich reinkommen?«

      »Sicher. Setz dich.«

      Ich räume schnell zwei Stühle für uns frei. Wir setzen uns.

      »Danke.«

      Sie atmet tief durch.

      »Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten. Ich dachte, vielleicht wäre Harald bei dir? Ich erreiche ihn seit eineinhalb Tagen nicht.«

      Sie klingt aufrichtig besorgt.

      »Hari und ich haben uns gestern auf dem Weihnachtsmarkt getroffen. Ich hatte einen Gig mit Hanna. Danach haben wir eine …«

      Ja, was eigentlich? Einen Feldversuch für seine Theorie, die Ulla als Hirngespinst abtut?

      »…

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