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aktiv das Universum veranlasst hat. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass das Universum etwas ist, was aufgrund der physikalischen Gesetze irgendwann einfach passieren muss.«

      »Und wer hat sich die Gesetze ausgedacht?«, merke ich an.

      Ich halte von dem Schöpfungsgedanken der Bibel auch nichts, aber in Haris Gegenwart bin ich gern der ewige Widersacher und suche Gegenargumente, obwohl ich eigentlich auf seiner Seite bin.

      »Manche behaupten, dass es unendlich viele Universen gibt, mit allen möglichen Parameterkonstellationen. Bei einigen sind die Parameter so kombiniert, dass das Universum gleich wieder kollabiert oder zu schnell auseinanderfliegt, bevor sich überhaupt komplexere Strukturen bilden können. Wir sind halt in einem, in dem die Parameter so sind, dass Zeit genug war für Sterne und Planeten. Nachprüfen lässt sich das aber nicht«, fügt er schnell hinzu, als ich schon zu einer Gegenfrage ansetzen will.

      »Okay, klingt plausibel, das löst das Schöpferproblem. Zumindest vorerst. Aber …«

      Ich mache eine dramatische Pause.

      »Was, aber?«

      »Aber wo kommt dieser übergeordnete ›Raum‹ her, in dem deine ganzen Universen aufploppen?«

      Ich deute die Anführungszeichen mit den Fingern an, weil ich weiß, dass mir Hari sonst sofort widerspricht. Raum und Zeit entstehen erst beim Urknall. Das ist jedenfalls die momentan amtliche Lesart.

      »Irgendjemand oder irgendwas muss doch festgelegt haben, welche Parameter überhaupt zur Verfügung stehen. Und selbst wenn du in verschiedenen Bereichen komplett andere physikalische Gesetze hättest: irgendeine gemeinsame Basis brauchst du, und die muss von außen kommen, wird dem Gesamtsystem quasi übergestülpt.«

      Hari nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Glas, bevor er antwortet.

      »Ich habe mich schon gefragt, ob das alles hier« – er deutet um sich herum – »einfach Mathematik ist. Mathematik entsteht meiner Meinung nach fast aus sich selbst. Wenn du die Null und die Eins hast und weiterzählst, hat du die natürlichen Zahlen. Plus und minus, mal und geteilt und die höheren Rechenarten bauen alle aufeinander auf, da gibt es eigentlich keine logische Alternative. Behaupte ich.«

      »Ja gut, aber wie entsteht daraus ein Universum?«

      »So genau weiß ich das auch nicht, ist ja keine Theorie, nur eine Überlegung. Aber nimm die Zahlen, 1, 2, 3, und so weiter. Obwohl sie alle gleich aufgebaut sind, nach eins kommt zwei, nach zwei kommt drei, gibt es zum Beispiel Primzahlen, die nur an ganz bestimmten Stellen auftreten. Also im Grunde eine emergente Eigenschaft.«

      »Und du meinst, ganz vereinfacht ausgedrückt, dass so etwas wie ein Universum – oder sogar alle möglichen Universen – deshalb existieren, weil man zählen kann?«

      »Sehr, sehr vereinfacht ausgedrückt: ja.«

      »Aber brauchst du dann nicht trotzdem jemanden – oder etwas – das rechnen kann? Etwas, das die Welt dann nicht erschafft, sondern sie erzählt?«

      Hari grinst wegen des spontanen Wortspiels, wird aber sofort wieder ernst.

      »Könnte sein. Ja, wahrscheinlich. Es gibt aber Theorien, wonach der Raum selber zählen und rechnen könnte. Konrad Zuse, der Mann, der den ersten Computer gebaut hat, hat sich mit so etwas auseinandergesetzt. Leider findet man dazu nicht allzu viel im Netz. Und rechnender Raum entsteht vermutlich auch nicht spontan.«

      »Rechnender Raum – das klingt schon sehr futuristisch.«

      »Zuse hat seit den 1940er Jahren darüber nachgedacht.«

      »Hat sich dann vermutlich nicht auf breiter Front durchgesetzt«, merke ich an. Der Name Zuse sagt mir was. Sein Z3 ist quasi der erste frei programmierbare digitale Computer gewesen. Groß wie ein Schrank. Aber rechnender Raum?

      »Deswegen muss es aber nicht zwangsläufig falsch sein.«

       Harald Stein, 2018-11-30

      09: 58: 17

      Heute ist Freitag. Harald sitzt in seinem Arbeitszimmer. Ein paar letzte Tests, dann sollte der lästige Bug in der Terminansicht behoben sein. Ja, es sieht gut aus.

      Harald lädt die Änderungen hoch, schreibt noch eine kurze Info an seine Kollegen und fährt den Computer herunter. Heute feiert er ein paar Überstunden ab. Abends spielt Jonesy mit Hanna auf dem Weihnachtsmarkt, und bis dahin: keine Termine, keine Verpflichtungen, keine lästigen Telefonate.

      Harald hat Jonesy seit dem Gespräch in der Pizzeria nicht mehr getroffen. Zu viel zu tun. Und Jonesy ist momentan entweder in der Arbeit oder irgendwo in Sachen Musik unterwegs. Ein paar kurze Textnachrichten, ein paar Mails – für mehr hat es in letzter Zeit einfach nicht gereicht.

      Und jetzt? Harald überlegt. Jonesy ist noch in der Arbeit. Ulla auch. Das ist gut – und schlecht, denn falls ein Mieter anruft, muss er ran. Also raus aus der Wohnung.

      Das Hallenbad am Stadtrand hat einen eher mittelmäßigen WellnessBereich, aber Harald setzt sich gerne ins Dampfbad. Dort ist es still, im Gegensatz zur Sauna, in der immer Entspannungsmusik vor sich hin plätschert – Harald muss an Jonesys Musikboxprojekt denken und schmunzelt. Das Dampfbad, der perfekte Ort zum Nachdenken.

      10: 45: 03

      Draußen ist es nasskalt und grau, es regnet leicht. Die wohlige Wärme im Dampfbad tut gut. Außer Harald ist nur eine ältere Frau in der Kabine, die er im Dampfschleier nur schemenhaft wahrnimmt. Sie hat ihn beim Eintreten misstrauisch von oben bis unten gemustert und ist dann demonstrativ ein Stück weiter weg von der Tür gerutscht. Sicherheitshalber ist Harald dann in die entgegengesetzte Ecke gegangen.

      Aber immerhin: unter diesen Voraussetzungen wird sie kein Gespräch mit ihm anfangen, er hat also seine Ruhe. Gut.

      Er schließt die Augen und denkt an das Gespräch mit Jonesy. Sie haben in der Pizzeria dann noch eine ganze Zeitlang an der Idee weitergesponnen. Jonesy hat interessiert zugehört, wie Harald Zuses Theorie im Schnelldurchlauf vorgestellt hat. Dann irgendwie der Schwenk zu einer möglichen Computersimulation und der Frage, ob man überhaupt an irgendwelchen Kriterien feststellen könnte, ob man sich in einer solchen Simulation befindet. Würde man Bugs als solche wahrnehmen? Wie würden sie sich äußern?

      Zumindest gibt es vermutlich keine Hotline, an deren Ende Leute wie ich sitzen und sich irgendwelche Beschwerden anhören müssen, denkt Harald. Sein Job ist … ja, an sich okay, Bezahlung ist in Ordnung, die Kunden meistens freundlich, Chef und Mitarbeiter eigentlich super. Eigentlich. Aber?

      Harald atmet langsam aus. Während des Physikstudiums hat er sich die Zukunft ganz anders vorgestellt. Grundlagenforschung, neue Hypothesen und Theorien aufstellen und sich den Kopf darüber zerbrechen, warum die Welt so ist, wie sie ist, und nicht ganz anders. Vom Schreibtisch aus, mit Papier und Bleistift und ab und an einem Computer die Welt erkunden, neue Möglichkeiten entdecken, ihre Wahrscheinlichkeiten berechnen. Naturkonstanten aus komplexen Formeln und versteckten Zusammenhängen ableiten. Sich viele Fragen stellen: Warum ist das Universum so groß? Warum haben wir genau drei Dimensionen? Warum läuft die Zeit nur in eine Richtung? Tut sie das überhaupt, oder sieht es nur für uns so aus? In vielen Formeln, die die Wirklichkeit abbilden, kommt die Zeit entweder gar nicht vor, oder sie kann tatsächlich vorwärts und rückwärts laufen, ohne ein Gesetz zu brechen.

      Und jetzt? Kundenbetreuung und Softwareentwicklung. Auch hier jede Menge Fragen: warum kann ich mich nicht mehr einloggen? Warum taucht die Trainingseinheit mit XY nicht in der Monatsabrechnung auf? Warum kann ich nicht mehrere Trainingsstunden gleichzeitig in der Maske eintragen? Für die Nutzer unter Umständen wichtige, ja fundamentale Fragen und Probleme, aber trotzdem …

      Die Frau in der Kabine steht auf und geht.

      Kann man denn überhaupt objektiv einteilen, welche Fragen wichtiger oder fundamentaler sind? Aus der Grundlagenforschung sind quasi nebenbei viele technische Errungenschaften entstanden, die unseren Alltag erleichtern, das ist richtig, aber: kann der Mensch überhaupt herausfinden, wie das Universum funktioniert?

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