Скачать книгу

ist schon dabei, seinen Stand für die Nacht zuzuklappen, aber eine Frau Ende Zwanzig steht noch da und betrachtet interessiert die bunten getöpferten Teller, Schüsseln und Tassen.

      Sie trägt knallrote Stiefel und einen apfelgrünen Mantel, dazu eine gestrickte Mütze, Handschuhe und einen Schal, für die bunt noch eine Untertreibung darstellt.

      »Nur zu«, ermuntert ihn Harald, »du bist sowieso noch ein oder zwei Personen im Rückstand.«

      Der Glühwein zeigt mittlerweile Wirkung. In Haralds Hinterkopf meldet sich ein diffuses Brummen, das Harald aber geflissentlich ignoriert. Er genießt es, mit Jonesy zu diskutieren, abstruse Gedankengebäude zu errichten – und einfach mal komplett abzuschalten. Hoffentlich ist sein Kopf morgen immer noch glücklich und zufrieden.

      Nachdem der Budenbesitzer mit Nachdruck die Verschläge am Stand schließt und damit unmissverständlich klar macht, dass er definitiv nichts mehr verkaufen will, verabschiedet sich die Frau mit einem entwaffnenden Grinsen und geht weiter, in Richtung Stehtisch.

      Vielleicht hat Jonesy recht, und wir müssen uns die auffälligen Leute schnappen, solche, die Individualität ausstrahlen, überlegt Harald. Jonesy stellt die Tasse ab und wendet sich der Frau zu.

      »Entschuldigung, mein Kumpel und ich streiten uns immer, was nach ›Einstein‹ kommt. Was würden Sie sagen?«

      Die Frau bleibt stehen. Harald verdreht innerlich die Augen. Jonesy und sein Einstein-Zweistein-Gequatsche. Vermutlich sagt sie auch –

      »Ganz klar: Fjotufjo«, erwidert sie grinsend.

       Martin Jone, 2018-12-01

      10: 37: 46

      Fjotufjo.

      »Guten Morgen, Jungs! Nicht erschrecken, gleich wird’s laut.«

      Mfgrl. Rrt. Wa-?

      Ein infernalisches Krachen und Quietschen ertönt. Sina sitzt fröhlich an ihrem Esstisch, eine uralte Kaffeemühle zwischen den Knien, und dreht die Kurbel.

      »’n Morgen. Ob der allerdings noch gut wird bei dem Krach?«

      Ich blicke mich um. Einen kurzen Moment lang weiß ich nicht, wo ich bin, dann fällt es mir wieder ein. Wir sind immer noch in Sinas Wohnung. Ich liege auf einer Yogamatte auf dem Boden, Hari auf dem Sofa. Er sieht nicht gut aus.

      Die Frau, die wir gestern angesprochen haben, hat sich dann als sehr echt herausgestellt. Sie heißt Sina Keske, ist 29 und arbeitet als Altenpflegerin. Wir sind dann ins Gespräch gekommen und – nachdem die Buden dann langsam alle dicht gemacht haben – in eine Kneipe weitergezogen. Letzten Endes war dann irgendwann der letzte Bus weg, und sie hat uns angeboten, dass wir bei ihr pennen können. Vorher haben wir dann bestimmt bis kurz vor vier weiter diskutiert.

      Und Fjotufjo? Sina hat das Wort ›Einstein‹ genommen und jeden Buchstaben durch seinen Nachbarn im Alphabet ersetzt. Und überhaupt hat sie ein Faible für Sprache: Gedichte, Geschichten, skurrile Wortverdrehungen – das ist ihre Welt. Was kommt nach Einstein? Klar, Fjotufjo.

      »Ich habe heute Spätschicht und muss bald los. Wollt ihr auch Kaffee?«

      Mein Kopf brummt. Erinnerungsfetzen an die lebhafte Diskussion an Sinas Esstisch, Haris Theorien, unsere ›Feldstudie‹ … Spätschicht. Genau.

      »Sehr gerne, für mich ohne Milch …«

      »… und Zucker, ich weiß.« Sina grinst spitzbübisch. Sie schüttelt das frisch gemahlene Kaffeepulver in eine Stempelkanne und gießt heißes Wasser darüber.

      »Harald, willst du auch?«

      Hari winkt ab.

      »Für mich gar nix, danke, mir geht’s nicht gut. Migräne.«

      »Migräne? O je, du Armer. Schmerztabletten hab ich momentan keine da. Aber ich hab’ was für dich, das macht’s vielleicht ein bisschen leichter. Moment.«

      Sie geht ins Badezimmer und kommt mit einer kleinen Dose wieder. »Hier, streich dir das an die Stirn und die Schläfen.«

      »Was ist das?« Hari blinzelt.

      »Tigerbalsam. Keine Angst, der beißt nicht, aber in die Augen solltest du es nicht reiben.«

      Hari massiert sich Stirn und Schläfen mit der weißen Paste und reicht Sina die Dose.

      »Riecht gut. Danke.« Er sackt zurück aufs Sofa und schließt die Augen.

      »Migräne hatte ich in der Pubertät ganz oft.« Sina senkt die Stimme fast zu einem Flüstern, während sie den Stempel der Kanne herunterdrückt und den Kaffee in zwei Tassen eingießt. »Mir war vor Schmerzen manchmal richtig schlecht, hab mich dann den halben Tag lang übergeben müssen, das war schlimm.« Sie schiebt eine Tasse in meine Richtung. »Für dich.«

      Ich stehe langsam auf. Einen kurzen Moment lang scheint das Zimmer leicht zu schwanken, dann ist alles gut. Ich gehe zum Tisch und setze mich.

      »Danke.«

      Ich trinke einen kleinen Schluck. Der Kaffee ist heiß und stark, und ich spüre, wie das Koffein den Kopf klarer macht. Ich nippe noch einmal und setze die Tasse ab.

      »Der tut gut.«

      Eine Zeitlang sagt niemand etwas. Hari hat die Augen geschlossen und atmet konzentriert. Die Migräneschübe hatte er schon während des Studiums immer wieder mal, und dann ging gar nichts mehr bei ihm. Ich blicke mich um und betrachte die Kalligrafie an der Wand etwas genauer.

      »Von dir?«

      »Mhm.« Sina nickt.

      In formvollendeten Buchstaben steht dort: ›Dieser Satz beinhaltet fünf Punkte.‹

      »Der Spruch ist auch von Dir, vermute ich?«

      »Ja klar. Ich habe mal einen Kurs für Kalligraphie besucht, und als Abschlussprojekt durfte jeder einen Satz kalligrafieren. Die meisten hatten tiefsinnige Sprüche wie ›Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt‹ oder ›Beginne jeden Morgen mit einem Lächeln‹. Ganz furchtbar.«

      Ich nicke und muss an Ulla und ihre Kühlschrankmagnete denken.

      »Ich hätte als Alternative noch ›Hier könnte Ihre Werbung stehen‹ vorgesehen, fand diesen Satz dann aber doch besser. Funktioniert übrigens auch auf englisch.«

      This phrase contains five points. Stimmt.

      Hari stöhnt leise. Für den Rest des Tages würde er wohl mehr oder weniger dahinsiechen, und morgen ist dann hoffentlich wieder alles vorbei.

      »Wollt ihr was essen?«

      Ich schüttle den Kopf – und bereue es sofort. So schnell wirkt der Kaffee dann doch nicht.

      »Nein, danke, ich brauche nichts. Kaffee reicht völlig.«

      Hari macht ein undeutliches »Mmh-mmh«.

      »Hab ich mir schon gedacht.« Sina grinst wieder, mitleidig.

      »Dir fehlt gar nix?« frage ich.

      »Nein, mir geht es gut. Ihr beiden hattet ja gestern schon einen gewaltigen Vorsprung in Sachen Alkohol, den hätte ich nur schwer einholen können. Außerdem muss ich ja dieses Wochenende arbeiten.«

      Sina blickt auf die Uhr, die an der Wand hängt.

      »Ich muss los. Wie sieht es mit euch aus? Ihr könnt gerne noch da bleiben, wenn ihr wollt.«

      Hari sieht überhaupt nicht so aus, als könnte er aufstehen, geschweige denn zu sich nach Hause kommen.

      Sina stellt ihre leere Tasse ins Spülbecken und füllt eine Karaffe mit Wasser. Dann nimmt sie ein frisches Glas aus dem Hängeschrank über der Spüle und stellt beides neben Hari auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer.

      »Hier, falls du Durst hast. Du kannst gerne hier bleiben, so lange du willst. Wenn du gehst und ich noch nicht zurück bin, zieh’ einfach die Haustür zu.«

      Hari

Скачать книгу