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hat übernachten lassen. Hari hat ein bisschen was getrunken und deshalb heute leider wieder Migräne, daher liegt er vermutlich immer noch auf dem Sofa.«

      »Eine Befragung? Sicher wieder eine seiner dummen Ideen und Theorien. Er soll sich mal um seine Arbeit kümmern, wenn er sich da so reinhängen würde, wie in seine Theorien, dann …«

      Ulla stockt. Sie sieht mich an, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie schluchzt.

      »Es … es tut mir leid. Ich … ich will doch nur … ich mache mir solche Sorgen um Harald. Eigentlich will ich doch nur, dass es ihm gut geht, und dass er sein Leben endlich irgendwie auf die Reihe bekommt. Seit dem Unfall …«

      Sie beißt sich auf die Unterlippe und schließt die Augen. Tränen laufen ihr über das Gesicht.

      »Ulla, ich … es tut mir leid, ich … «

      Ulla weinend in meiner Wohnung, das wirft mich komplett aus der Bahn. Ulla, die sonst alles und auch sich unter Kontrolle hat. Ich weiß nicht mehr weiter und klappe den Mund wieder zu.

      Sie wischt sich über die Augen, fasst sich wieder.

      »Nein, mir tut es leid, dass ich vor dir sitze und rumheule wie ein kleines Mädchen. Ich bin froh und dankbar, dass du ein Auge auf Harald hast. Wer weiß, wo er wäre, wenn er dich nicht hätte. Es ist nur … ich bin seine große Schwester, und ich mache mir immer noch Sorgen um ihn, genau so wie früher, als er ein kleiner Junge war. Und seit dem Tod unserer Eltern fühle ich mich noch mehr dazu verpflichtet, für ihn zu sorgen. Er ist so ein Träumer, das war er schon immer.«

      Sie sucht in ihrer Tasche nach einem Taschentuch, findet es schließlich, trocknet sich damit die Augen und putzt sich die Nase. So verzweifelt wie gerade eben habe ich Ulla noch nie gesehen. Sie ist immer die Chefin gewesen, hat Hari hart rangenommen und herumkommandiert.

      Langsam beginne ich zu begreifen, was wohl der tiefere Grund für ihr Verhalten ist.

      »Ja, manchmal ist er wohl tatsächlich ein bisschen – unorganisiert.«

      Sie blickt mich mit ihren verheulten Augen an und lächelt sogar ein bisschen.

      Wenn sie lächelt, erkennt man, dass sie Haris Schwester ist, dann ist die Ähnlichkeit echt verblüffend. Ich überlege. Sehr oft habe ich Ulla nicht lächeln gesehen, und Hari lacht in letzter Zeit auch selten – außer gestern, als er voller Begeisterung Sina seine Theorie erklärt hat.

      »So könnte man es auch ausdrücken – ›unorganisiert‹.«

      Sie macht eine kleine Pause, das Lächeln verschwindet.

      »Ich weiß, dass ich ihm schon sehr zusetze mit meiner Kritik an seinem Lebensstil. Vielleicht setze ich ihn zu sehr unter Druck? Ich will ihn ja nicht bevormunden, aber wenn ich sehe, dass er die einfachsten alltäglichen Dinge komplett vergisst? Soll ich ihm zusehen, wie er am Ende noch verhungert, weil er nicht dran gedacht hat, sich was zu Essen zu besorgen? Ich glaube ja nicht, dass er den Schussligen mimt, um mich zu ärgern.«

      »Nein, auf keinen Fall! Hari ist tatsächlich … bleiben wir bei unorganisiert. Aber er ist froh, dass sich seine große Schwester um ihn kümmert. Ich bin sicher, dass er das zu schätzen weiß, auch wenn er dir das vielleicht nicht sagt.«

      Da ist es wieder, das kleine Lächeln.

      »Und ich glaube auch nicht, dass er verhungern würde oder so. Ich denke eher, dass du manchmal zu schnell für ihn bist, zu weit nach vorne denkst. Bis Hari bewusst wird, dass die Geschäfte am Sonntag gar nicht offen haben, hast du schon für ihn eingekauft.«

      Und ihm eine ordentliche Standpauke gehalten, denke ich mir, traue mich aber nicht, es auszusprechen.

      Ulla überlegt.

      »Meinst du wirklich? So habe ich das noch gar nicht gesehen.«

      »Hab ein bisschen Geduld mit ihm. Du weißt doch, Jungs sind immer langsamer als Mädchen, das war doch schon in der Schule so. Ihr wart uns doch immer meilenweit voraus, stimmt’s?«

      Ich grinse Ulla an. Sie grinst zurück.

      »Ja, da ist vielleicht was dran. Wenn du das sagst.«

      Ihr Grinsen wird breiter.

      »Ganz bestimmt. Ich war auch mal ein Junge, bin also vom Fach.«

      »Du meinst also, ich soll ihn einfach mal machen lassen? Auch auf die Gefahr hin, dass er am Sonntag vor dem Supermarkt steht?«

      »So ein Erlebnis kann sehr lehrreich sein, glaub mir.«

      Mir ist das tatsächlich mehr als einmal passiert, ich weiß also, wovon ich rede. Aber auch das sage ich ihr nicht.

      »Hm.«

      Sie scheint die Situation in Gedanken durchzuspielen, wirkt aber noch nicht vollends überzeugt.

      »Darf ich offen zu dir sein, Ulla?«

      Ich probiere es jetzt trotzdem und hoffe, dass ich mich in der Wortwahl nicht vergreife.

      »Ja klar, Martin, ich bitte darum!«

      Also gut.

      »Weißt du – Hari mag dich sehr gern, auch wenn er das nicht zeigt. Vielleicht ist es ihm auch selber gar nicht bewusst, aber …«

      Jetzt kommt’s.

      »Wie soll ich es formulieren? Sei mir nicht böse, wenn ich das sage, aber manchmal sind deine Äußerungen ihm gegenüber schon recht, naja, lautstark, und wenn er dich nicht gern hätte, hätte er schon längst mal zurückgebrüllt oder wäre auf und davon gelaufen.«

      Ulla sagt gar nichts. Sie schluckt. Dann vergräbt sie das Gesicht in den Händen und schluchzt. Sie klappt regelrecht in sich zusammen und weint hemmungslos. Das habe ich ja prima hinbekommen.

      »Ulla, tut mir leid, ich wollte dich nicht – in Frage stellen oder so.«

      Ihr Rücken bebt. Ich glaube, ich sage erst mal gar nichts mehr. Hat sie das so getroffen? Ich bin doch wirklich sehr vorsichtig mit meiner Wortwahl gewesen. Oder? Vermutlich nicht vorsichtig genug.

      Nach einer kleinen Ewigkeit nimmt sie die Hände vom Gesicht.

      »Danke für deine Offenheit, Martin. Du hast absolut recht.«

      Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.

      »Weißt du, es gab vor vielen, vielen Jahren mal eine Situation – ich weiß gar nicht mehr den Anlass. Harald war damals noch sehr klein, war gerade in die Schule gekommen. Jedenfalls gab es Ärger, weil er die Hausaufgabe vergessen hatte. Harald hat einen Brief mitgebracht, in dem die Eltern zu einem Lehrergespräch vor geladen wurden. Er hat die Situation überhaupt nicht begriffen und sogar gelächelt, als er Mama den Brief gab. Vielleicht hat er gedacht, es wäre was Besonderes, dass nur er einen Brief mit nach Hause nehmen darf.

      Mama war eigentlich immer sehr geduldig mit uns und ist eigentlich nie laut geworden, aber an diesem Tag – ich weiß nicht warum, aber sie war einfach in schlechter Stimmung, und dann auch noch dieser Brief. Jedenfalls hat sie Harald an diesem Tag angebrüllt. Ich glaube, es war das erste und einzige Mal, dass sie überhaupt so laut geworden ist.

      Ich kann mich noch an Haralds Gesicht erinnern: zuerst das Lächeln, dann die Überraschung, weil Mama ihn anschreit, und dann aber nicht Angst oder Trauer, sondern – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Er ist irgendwie nach innen … verschwunden? Da war nur noch seine Hülle, sein Gesicht, aber die Augen waren leer, er hat sich da komplett zurückgezogen.

      Später hat sich Mama dann bei ihm entschuldigt, ihn umarmt, und ich glaube, alles war wieder gut. Aber ich habe gesehen, wie Harald sich eingekapselt hat, und das machte mir Angst, große Angst. Und ich habe mir fest vor genommen, dass so etwas nie wieder passiert, ich habe geglaubt, dass er sonst vielleicht irgendwann nicht mehr wieder heraus findet.«

      Sie blickt mich lange an.

      »Verstehst du, was ich meine?«

      Ich nicke nur.

      »Und

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