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Mücken. Die Soldaten aber sahen aus wie stählerne Kampfroboter, in ihren Schutzanzügen, die sie unempfindlich gegen Kugeln, Gas, Gift und Bazillen machten. In ihren Händen trugen sie schwere Kampfapparate, die tödliche Geschosse versprühten, oder Laserstrahlen, die alles zerschmelzen konnten.

      So marschierte die unaufhaltsame Armee von Hüben nach Drüben, um jeden Feind erbarmungslos zu töten. Doch seltsam, sie fanden keinen Feind. Am ersten Tag drang die Armee zehn Kilometer ins feindliche Gebiet ein, am zweiten Tag zwanzig. Am dritten Tag überquerte sie den großen Fluss. Überall fanden sie nur verlassene Dörfer, abgeerntete Felder, ausgeräumte Fabriken, leere Lagerhäuser. „Sie verstecken sich, und wenn wir an ihnen vorbei sind, überfallen sie uns von hinten!“, brüllte der Oberstgewaltige. „Durchsucht alle Heuschober und alle Misthaufen!“ Die Soldaten durchstöberten die Misthaufen, aber alles, was sie dabei fanden, waren haufenweise Ausweispapiere: Personalausweise, Geburtsurkunden, Heimatscheine, Reisepässe, Impfzeugnisse, Immatrikulationsbescheinigungen, Rundfunkgebühren-Ermäßigungs-Berechtigungsscheine, Hunde-steuerentrichtungsnachweise und hunderte andere Dokumente. Und aus allen Lichtbildausweisen waren die Fotos herausgerissen. Was das bedeuten sollte, konnte sich niemand erklären. Ein großes Problem waren die Wegweiser. Sie waren abmontiert oder verdreht oder übermalt, aber manche stimmten auch, so dass man sich nicht einmal darauf verlassen konnte, dass sie falsch waren. Immer wieder gingen Soldaten verloren, ganze Kompanien verliefen sich, Divisionen fuhren in die Irre und so mancher verlassene General schickte fluchend Motorradfahrer in alle Richtungen, um seine Soldaten zu suchen. Der Oberstgewaltige musste sofort alle Vermessungsbeamten und Geographielehrer von Hüben zum Militär einberufen, damit das eroberte Land ordentlich beschildert werden konnte.

      Am vierten Tag des Feldzuges machte die Armee von Hüben ihren ersten Gefangenen. Es war aber kein Soldat, sondern ein Zivilist, den sie im Wald gefunden hatten, mit einem Pilzkorb über dem Arm. Der Oberstgewaltige ließ ihn zu sich persönlich zum Verhör kommen. Der Gefangene sagte, als er vor ihm stand, dass er Hans Müller heiße und von Beruf Pilzesammler sei. Seinen Ausweis, sagte er, hätte er verloren, und wo die Armee von Drüben sei, das wisse er nicht. In den nächsten Tagen nahm die Armee von Hüben einige Tausend Zivilisten gefangen. Alle hießen Hans oder Lieschen Müller und alle hatten keine Ausweise. Der Oberstgewaltige tobte.

      Schließlich besetzte die Armee von Drüben die erste größere Stadt. Überall sah man Soldaten, die Straßennamen an die Wände pinselten. Die Stadtpläne hatte man vom Geheimdienst kommen lassen. Durch die Eile gab es natürlich viele Irrtümer, und manche Straßen hießen auf der linken Seite anders als auf der rechten und am oberen Ende anders als am unteren. Ständig irrten suchende Kompanien durch die Stadt, voraus ein fluchender Feldwebel mit dem Stadtplan in der Hand. Überhaupt funktionierte in der Stadt gar nichts. Das Elektrizitätswerk arbeitete nicht, das Gaswerk, das Telefon, nichts funktionierte.

      Der Oberstgewaltige ließ sofort bekanntmachen, dass es verboten wäre zu streiken und dass alle sofort an die Arbeit zu gehen hätten. Die Leute gingen auch in die Fabriken und Büros, aber es funktionierte trotzdem nichts. Wenn die Soldaten hinkamen und fragten: „Warum wird hier nicht gearbeitet“, dann sagten die Leute: „Der Herr Ingenieur ist nicht da.“ oder „Der Meister ist nicht da.“ oder „Die Frau Direktor ist nicht da.“ Aber wie sollte man die Frau Direktor finden, wenn alle Lieschen Müller hießen? Der Oberstgewaltige ließ verkünden, dass jeder erschossen würde, der nicht seinen richtigen Namen und Titel sagte. Da nannten sich die Drübener nicht mehr Müller, sondern irgendwie, aber was half das schon?

      Je weiter die Armee in das Land vordrang, desto schwieriger wurde alles. Es war schon bald kein frisches Essen mehr für die Soldaten aufzutreiben, alles musste von Hüben gebracht werden. Die Eisenbahn funktionierte nicht, die Eisenbahner standen herum, fuhren sinnlos mit den Loks hin und her. Die Zugführer stritten sich um die Waggons, und natürlich waren alle Chefs, die sich auskannten, verschwunden. Niemand konnte sie finden. Den Soldaten tat niemand was. Daher wurden sie bald unvorsichtig, liefen mit offenen Panzerhelmen herum und plauderten mit den Leuten. Und die Leute von Drüben, die alles Essbare vor der Beschlagnahmung durch die Armee versteckten, teilten ihr bisschen Essen mit einzelnen Soldaten oder tauschten mit ihnen frischen Salat oder selbstgebackenen Kuchen gegen Konserven; denn davon hatten die Soldaten genug, und sie hingen ihnen zum Hals heraus.

      Als der Oberstgewaltige das erfuhr, bekam er einen Tobsuchtsanfall und verbot allen Soldaten, ihre Unterkünfte zu verlassen, außer, wenn sie im Trupp auf Patrouille gingen. Das gefiel den Soldaten nicht.

      Schließlich besetzte die Armee die Hauptstadt von Drüben. Aber auch hier war alles wie überall in diesem Land. Es gab keine Straßenschilder, keine Hausnummern, keine Namensschilder an den Türen, keine Direktoren, Ingenieure, Meister, keine Polizisten und keine Beamten. Die Ministerien waren leer und alle Akten verschwunden. Wo die Regierung war, wusste niemand. Da beschloss der Oberstgewaltige endlich hart durchzugreifen. Er ließ verlautbaren, dass alle Erwachsenen in ihre Betriebe und Büros gehen sollten. Wer zu Hause bliebe, wurde erschossen. Dann ging er selbst ins Elektrizitätswerk und ließ alle Soldaten und Offiziere dorthin kommen, die zu Hause mit Elektrizitätswerken zu tun hatten. Er hielt eine Rede und sagte dann, dass in zwei Stunden der Strom wieder da sein müsse. Die Offiziere kommandierten, die Soldaten kontrollierten, und die E-Werksarbeiter rannten hin und her und taten genau das, was ihnen die Offiziere sagten. Das gab natürlich ein fürchterliches Chaos und keinen Strom. Da rief der Oberstgewaltige die Offiziere wieder zurück und sagte zu den E-Werksarbeitern: „Wenn nicht in einer halben Stunde Strom ist, werdet ihr alle erschossen!“ Und siehe da, nach einer halben Stunde gab es Licht. Da sagte der Oberstgewaltige: „Seht ihr, ihr Sauhunde, man muss euch nur richtig Beine machen!“, und zog mit seinen Soldaten zum Gaswerk, um es dort genauso zu machen.

      Aber am nächsten Tag gab es wieder keinen Strom, und als der Oberstgewaltige wütend mit einer Kompanie seiner speziell ausgebildeten Mördersoldaten anrückte, um alle E-Werksarbeiter auszurotten, war das E-Werk leer, und die E-Werksarbeiter und E-Werksangestellten hatten sich in den Fabriken und Büros unter die Leute gemischt. Da gab der Oberstgewaltige seinen Soldaten den Befehl, einfach tausend Leute von der Straße zusammenzusammeln und zu erschießen. Aber durch die heimtückische List der Leute von Drüben, immer freundlich zu den Soldaten zu sein, war die Moral der Truppe schon so aufgeweicht, dass niemand bereit war, einfach irgendwelche tausend Leute zu erschießen, die gar nichts getan hatten. Da gab der Oberstgewaltige seinen Mördersoldaten erneut den Befehl. Aber seine Offiziere ließen ihn wissen, dass die gewöhnlichen Soldaten schon sehr unzufrieden wären und es vielleicht sogar eine Meuterei geben könnte, wenn die tausend Leute erschossen würden. Und der Oberstgewaltige bekam Briefe von den Mächtigen, die ihm schrieben: „Oberster der Gewaltigen! Sie haben Ihre Feldherrengabe und Ihr militärisches Genie bewiesen und wir beglückwünschen Sie zu Ihren zahllosen, glänzenden Siegen. Doch bitten wir Sie nun, wieder zurückzukommen und diese Verrückten von Drüben, sich selbst zu überlassen. Sie kosten uns zu viel. Wenn wir hinter jedem Arbeiter einen Soldaten mit einer Maschinenpistole stellen müssen, der ihm mit Erschießen droht, und einen Ingenieur, der ihm sagt, was er zu tun hat, dann lohnt sich das ganze Erobern nicht mehr. Bitte, kommen Sie nach Hause, denn zu lange hat unser geliebtes Land schon Ihre glänzende Gegenwart entbehrt.“ Da packte der Oberstgewaltige seine Armee zusammen, ließ alle wertvollen Maschinen und anderen Kostbarkeiten mitgehen, die seine Truppen transportieren konnten, und fuhr fluchend wieder nach Hause.

      „Aber gezeigt haben wir’s ihnen“, knurrte er. „Diese Feiglinge. Was werden sie jetzt tun, die Narren! Wie werden sie jetzt feststellen, wer ein Ingenieur ist, wer ein Arzt, wer ein Tischler? Ohne Zeugnisse und Diplome! Wie werden sie regeln, wer in der Villa wohnen soll und wer in der Mietwohnung, wenn keiner beweisen kann, was ihm gehört? Wie werden sie sich zurechtfinden, ohne Besitzurkunden, ohne Strafregister und Führerscheine, ohne Titel und Uniformen? Was für ein Durcheinander werden sie haben! Und das alles nur, damit sie nicht mit uns Krieg führen müssen, diese Feiglinge.“

      (Lena Werner)

       Neunte Geschichte

       „Wer hätte denn gedacht, dass die Geschichte so ausgeht“, wirft einer in den Raum und spricht meine Gedanken aus. Ein ca. 20-jähriger Mann möchte gerne auch seine Geschichte über seine Flucht nach Deutschland erzählen.

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