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nächste Geschichte beisteuern und weil niemand Einwände hat, betitelt sie ihren Beitrag mit „Rasante Flucht“ undfängt an zu erzählen.

      „Jetzt komm endlich!“, sagt meine Mutter und ich taumle mit meinen beiden überfüllten Plastiktüten und meinem alten Prinzessinnenrucksack die Treppe hinunter und schließlich aus unserem Haus. Unser schönes Haus… All die Erinnerungen… Das alles lassen wir zurück. Meine Mutter und mein Vater haben Schleppern all ihre Ersparnisse gegeben, damit sie uns „sicher“ über das Mittelmeer schaffen. Jetzt geht es los… Wir werden in einen engen, überfüllten Laster gescheucht und fahren los. Es ist eine schreckliche Fahrt. Alle paar Minuten hört man, wie irgendjemand auf den Boden pinkelt. Aber was sollen sie denn machen? Angehalten wird ja nicht. Mittlerweile ist der ganze Boden feucht, klebrig und es stinkt abscheulich. Als ich langsam Angst bekomme, was passiert, wenn jemand „groß“ muss, öffnet sich mit einem lauten Quietschen die Tür und uns wird befohlen auszusteigen.

      Im Laster war es so dunkel, dass ich lange nichts sehe, ich rieche nur Meerwasser. Als ich endlich wieder sehen kann, sehe ich es. Wir sind am Meer, vermutlich am Mittelmeer. Irgendwo versteckt in einer Bucht. Aber wir sind nicht die Einzigen. Mindestens 300 andere Flüchtlinge stehen verteilt in der Bucht herum. Plötzlich höre ich Schreie. Ich drehe mich um und sehe ein junges Mädchen. Etwa in meinem Alter, um die zehn Jahre alt. Sie wird von zwei Männern mit Gewehren auf dem Rücken festgehalten. Ein dritter reißt ihr schmutziges Kleid auseinander und wälzt sich auf sie. Jetzt knallt es laut. Ein Mann ist aus der Menschenmenge hervorgesprungen und hat eine Pistole gezückt. Er schießt wie wild geworden auf die Männer. Mit Erfolg, sie fallen direkt zu Boden. Ein paar Momente später fällt er jedoch auch zu Boden. Ein anderer Schlepper hat seine Waffe gezückt und nicht gezögert. Um ihn bildet sich eine riesige Blutlache. Die Schlepper nehmen ihn an Armen und Beinen und schmeißen ihn ins Meer.

      Als alle wieder einigermaßen beruhigt sind, werden wir auf alte, überfüllte, rostige Schiffe gelotst. Ein bis zwei Stunden später sind wir auf dem offenen Meer und kurz darauf fällt eine Frau über Bord. Alle schreien auf. Ein paar Leute probieren in der Not ihre Klamotten als Rettungsringersatz in das Wasser zu schmeißen. Doch anstatt anzuhalten und die arme Frau zu retten, fährt das Boot einfach weiter, als wäre nichts passiert.

      Nach einer schrecklichen, schlaflosen Nacht spüre ich, wie es nass unter mir wird. Erst denke ich mir nichts dabei, doch als es anfängt, bis auf Kniehöhe zu steigen, fange ich an, Panik zu bekommen. Meine Mutter versucht mich zwar zu beruhigen, aber ich merke, dass sie auch Angst hat. Langsam fangen alle an, wild herumzukreischen und zu drängen. Mein Vater hat die Idee, extra früher rauszuspringen, um nicht im wilden Durcheinander unterzugehen. Und das tun wir auch. Wir ziehen unsere Hosen aus, blasen sie auf und binden sie zu, um sie als „Rettungsringe“ zu nutzen. Nun paddeln wir auf ihnen geradeaus. Nach ca. einer halben Stunde erreichen wir eine kleine Insel. Es fängt an zu regnen und wir fangen damit an, eine Art Zelt zu bauen. Wir sind völlig übermüdet und kaputt. Also legen wir uns endlich schlafen.

      Am nächsten Morgen begeben wir uns auf Essenssuche. Wir finden ein paar Beeren und Früchte, viel mehr aber auch nicht. Gegen Mittag beginnen wir für unsere Flucht zu sorgen. Wir sammeln Baumstämme und Lianen und probieren ein Floß zu bauen. Plötzlich schreit mein Vater auf. In seiner Schulter steckt ein Pfeil! Wir rennen tiefer in den Wald. Hinter uns hören wir wilde Schreie und hastige Schritte. Es hagelt Pfeile und Speere. Erstaunlicher und glücklicherweise trifft uns aber kein weiterer. Fürs Erste. Mein verletzter Vater ist zu langsam und unsere Verfolger zu trainiert. Wir brauchen einen Plan! Schnell! Wir schlagen Haken. Ohne großen Erfolg. Plötzlich sehen wir eine riesige Steinplatte vor uns liegen, unter ihr ist ein kleiner Spalt. Hastig zwängen wir uns darunter. Wenige Sekunden später sehen wir sie. Mindestens 20 Paar Füße. Die eine Hälfte rennt weiter, der Rest zweifelt und scheint zu suchen. Plötzlich bückt sich einer von ihnen ruckartig und guckt mir genau in die Augen. Ich schreie. Er schreit. Alle kommen auf uns zugerannt. Jetzt sehe ich sie. Es müssen Ureinwohner sein. Sie haben Kriegsbemalung im Gesicht und tragen Federn auf dem Kopf. Sie haben keine Klamotten, wie wir sie kennen. Sie sind sich mit Leder, Federn und Blättern gekleidet. Mit spitzen Speeren ziehen sie uns hervor. Dann schmeißen sie uns wieder auf den Boden und fesseln uns.

      Wir werden lange durch den Wald geführt, bis wir schließlich an einer kleinen Siedlung ankommen. Die Hütten und Zelte bestehen aus Baumstämmen, Ästen und Schilf. Wir werden in das größte Haus gebracht. Dort wartet ein alter, verzierter Mann auf uns und inspiziert uns ewig lange. Dann erzählt er irgendetwas für uns Unverständliches. Die Männer scheinen es zu verstehen. Sie nehmen uns und bringen uns in eine Art Gefängnis. Draußen entfachen sie ein riesiges Feuer. Langsam bekomme ich Angst, dass wir hier auf Kannibalen gestoßen sind! Wir müssen fliehen! Das Tor ist mit einem Seil zugebunden. In der Schulter meines Vaters steckt zu unserem Glück aber immer noch der Pfeil. Meine Mutter reißt ihn heraus und fängt an mit ihm die Seile zu zerschneiden. Nun warten wir bis zur Dunkelheit, um zu fliehen. Als es so weit ist, schleichen wir uns heraus und in den Wald. Die Ureinwohner sind währenddessen damit beschäftigt, singend um das Feuer zu tanzen.

      Im Wald angekommen, rennen wir los. Immer geradeaus. Am Strand angekommen, sehen wir unser halbfertiges Floß. Wir schieben es ins Wasser und paddeln mit den Händen davon. Am nächsten Morgen wache ich mit einem riesigen Hunger und Durst auf. Wir schwimmen im Wasser, können aber nichts trinken. Geschwächt paddeln wir weiter. Auf einmal sehe ich ein Schiff in der Ferne. Es kommt auf uns zu! Es muss ein Rettungsschiff der Seenotrettung sein! Bei uns angekommen, nehmen sie uns auf und wir bekommen Essen und Trinken. Mein Vater wird sofort verarztet. Jetzt schlafen wir aber erstmal. Am nächsten Morgen wachen wir in einem Hafen auf. Es ist warm, die Sonne scheint und alles scheint gut zu sein. Zur Abwechslung ist das dieses Mal aber auch so. Wir werden vom Schiff begleitet und in einen Bus gebracht. Dieser fährt uns in ein Auffanglager, in dem wir fürs Erste leben sollen. Die Fahrt haben wir aber geschafft! Wir sind angekommen!

      (Mobina Nazari)

       Sechste Geschichte

       „Ich finde es echt cool, dass ihr alle Geschichten zu erzählen habt, das ist wirklich interessant!“, sage ich. Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt an einem eher unauffälligen Mädchen, so um die 13 Jahre hängen. „Magst du nicht auch mal was erzählen“, frage ich neugierig und sie nickt nur schüchtern und fängt an.

      Ich möchte euch von einer Familie erzählen, die sich auf der Flucht vor einem grauenvollen Bürgerkrieg befand. Die Familie lebte schon eine Weile in jenem Land, als sich die politische Lage immer mehr zuspitzte. Die Regierung begann, diejenigen, die sich widersetzten, gefangenzunehmen, und keiner sah diese Menschen jemals wieder, die sich nichts anders als Meinungsäußerungen zu Schulden hatten kommen lassen. Sie fing auch an, die Mitglieder der gegnerischen Partei systematisch verschwinden zulassen, zu denen auch der Vater der Familie gehörte. Er hatte sich damals, als sie wegen einem Jobangebot für die Stelle als Chefarzt an einem der besten Krankenhäuser des Kontinents, hergezogen waren, nicht wirklich viel dabei gedacht, als er der Partei beitrat. Allerdings hatte er sich mit der Zeit zu einem wichtigen Mitglied entwickelt, auf dessen Spenden die Partei ein Stück weit angewiesen war. Da er viel Einfluss besaß, ließ man ihn vorerst in Ruhe.

      Aber dabei würde es nicht bleiben und das wusste er. So begann er damit, ihre Flucht ins Heimatland vorzubereiten. Dort würden sie sicher sein. Bei einzelnen Festnahmen blieb es allerdings nicht. Allein schon wegen bloßem Verdacht wurden ganze Gruppen verhaftet. Ohne ausreichende Beweise wurden zahllose Menschen hinter Gittern gebracht und diese hatten noch Glück. Viele wurden nämlich gar nicht mehr gesehen. Niemand bekam mehr eine faire Gerichtsverhandlung, wenn man überhaupt eine bekam. Aber bald ließen sich dies die Bürger nicht mehr gefallen. Es kam zu Überfällen auf das Parlament, unzählige Attentate wurden auf Politiker verübt und man fing an, sich gegenseitig auf offener Straße zu beschießen und zu belagern. Ein totales Chaos brach aus, das seinen Ursprung in den paranoiden Wahnvorstellungen des derzeitigen Staatschefs genommen hatte, der sich durch alles und jeden bedroht fühlte und seine Macht um keinen Preis wieder abgeben wollte. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn und verdiente den Tod. Er hatte leider viele Anhänger, die seine Ansichten teilten, was das Land anging. So stand die gesamte Landesbevölkerung in einem Zwiespalt. Er und seine Leute gegen den Rest.

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