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Ton mein Traumgesicht zu sich.

      „Na, da muss ich wohl gehen, schönen Abend.“

      Schnell huschte sie über den Gang zum Stationszimmer. Ich wartete einen kurzen Moment. Die Abteilung machte einen ruhigen Eindruck, der Gang war leer und wirkte verloren, nachdem eben ein Besucher das Krankenzimmer neben Céline betreten hatte. Pro forma notierte ich etwas in mein Notizbüchlein und überlegte, ob ich nicht doch einen kurzen Blick ins Zimmer von Céline Jaquet werfen sollte, entschloss mich dann aber, sie nicht zu stören.

      Kurze Zeit später sah ich, wie eine etwas ältere, leicht ergraute Schwester auf den Gang trat und sehr bestimmt in meine Richtung schaute. Das war offenbar die Stationsschwester. Ihr Blick war misstrauisch, nicht unbedingt sympathisch. Ich bemühte mich zu lächeln, steckte mein Büchlein in die Manteltasche und verließ die Abteilung.

      Gespannt betrat ich den großen Hörsaal Ost des Universitätsspitals und entdeckte viele unbekannte Gesichter, wahrscheinlich alles Anästhesisten aus anderen Kliniken. Als Redner wurde der Chefarzt des Triemlispitals erwartet, ein begnadeter Referent. Ich wollte mir einen Platz in den hinteren Reihen suchen, wo ich mich am wohlsten fühlte. Die Nähe zur Ausgangstüre beruhigte und ließ mir den Fluchtweg in absoluten Notfallsituationen – wie etwaiger Langeweile – offen.

      Da entdeckte ich plötzlich ein bekanntes Gesicht. Erst traute ich meinen Augen nicht. Ich schaute noch ein zweites Mal hin, und mich durchfuhr ein angenehmer Schauer. Richtig, es bestand kein Zweifel, es musste mein Engel sein. Dieses Gesicht hätte ich aus Tausenden wiedererkannt, auch wenn die Haare inzwischen stark verkürzt waren.

      Da war mein Engel, den ich bisher vergeblich gesucht hatte, und ich war völlig verwirrt.

      Ich freute mich riesig und lächelte sie an, aber es kam nichts zurück. Verunsichert setzte ich mich auf den leeren Platz an ihrer Seite und begrüßte sie.

      „Salü, erinnerst du dich noch? Wir haben uns im Limmattalspital kennengelernt. Also, ich war Student im Praktikum, und du hast mich in die Kunst der Anästhesie und so eingeführt.“

      Ich konnte sehen, wie es in ihr arbeitete. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt. Sie schien mich noch immer nicht zu erkennen.

      „Aha, wann war das etwa?“

      „Das liegt inzwischen nicht ganz vier Jahre zurück.“

      „Ja, zu der Zeit arbeitete ich im Limmattalspital, aber es tut mir leid, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an dich erinnern. Wir haben eben sehr häufig Studenten zur Ausbildung bei uns gehabt, und mit Mundschutz und Häubchen sehen wir natürlich alle etwas anders aus.“

      Die Unterhaltung schien ihr nicht sonderlich angenehm zu sein.

      „Verstehe“, antwortete ich enttäuscht und konnte es kaum glauben, dass all ihre Erinnerungen verblasst waren, hatten wir uns doch auch ganz ohne Mundschutz und Häubchen gesehen, „Bei dir habe ich die erste Punktion machen können.“

      „Das freut mich, wenn du damals auf den Geschmack gekommen bist, jetzt hast du dich offensichtlich auch für Anästhesie entschieden. Gefällt es dir hier im USZ?“, versuchte sie, das Thema zu wechseln.

      „Mäßig, damals im Limmattalspital, da war es bedeutend besser, aber Anästhesie ist ohnehin nichts für mich, ich werde Internist“, antwortete ich enttäuscht und hatte keine Lust mehr, das Gespräch weiterzuführen.

      Unmittelbar danach begann der Vortrag über die Pathophysiologie der Atmung. Doch davon bekam ich rein gar nichts mit, denn mich beschäftigte nur der Engel mit seinen offensichtlichen Gedächtnisdefiziten. Dieser ehemalige Engel war in meiner Wertung abgestürzt und hatte sich auf eine rein irdische Gestalt reduziert.

      „Das ist ein guter Vortrag gewesen, findest du nicht auch?“, hörte ich den gefallenen Engel neben mir sagen. Offenbar war die Fortbildung zu Ende.

      „Ja, wirklich eine sehr interessante Erfahrung“, log ich, und wir verabschiedeten uns.

      Eigenartig, ich würde sie mein Leben lang nicht vergessen. Sie prägte mich und kann sich schon nach wenigen Jahren nicht mehr an mich erinnern. Was ist bloß los mit mir? Wie wirke ich auf andere, fragte ich mich; ich gehe durchs Leben und hinterlasse keine Spuren.

      Alle verließen den Hörsaal, nur ich blieb sitzen und starrte Löcher in die Luft.

      „Wartest du noch auf etwas oder kommst du nun?“, hörte ich eine deutlich tiefere männliche Stimme wie in weiter Ferne. Da sprach offenbar jemand mit mir, bemerkte ich mit etlicher Verzögerung, als der Satz schon verklungen war.

      „Was ist denn nun?“

      Ich schaute mich um. Tatsächlich, da stand Walker und fixierte mich. Nun kam mir alles wieder in den Sinn. Er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Zusammen wollten wir lernen, denn uns stand eine Prüfung bevor. Alle neuen Assistenzärzte mussten einige Wochen nach Stellenantritt eine praktische Prüfung ablegen, und zwar beim Chefarzt Professor Rossi persönlich; darum hieß es auch die Rossiprüfung.

      „Ja, ja ich komme. Entschuldigung Thomas, ich war noch im Gedanken versunken.“

      „Verstehe, war schließlich ein guter Vortrag. Also gehen wir.“

      Walkers Wohnung lag ganz in der Nähe der Klinik, so konnten wir bequem zu Fuß hingehen. Auf sein Zuhause am Zürichberg, einem der vornehmsten Quartiere der Stadt, musste er sehr stolz sein. Schon sehr oft hatte er von seiner Wohnung geschwärmt, deutlich mehr, als von seiner Frau. Deshalb war ich auf beides sehr neugierig.

      Wie üblich war Thomas Walker auch unterwegs sehr gesprächig.

      „Die Renovierungsarbeiten haben mich beinahe ein Jahr Zeit gekostet“, erzählte er mir nicht zum ersten Mal, diesmal aber noch detaillierter.

      „Hier ist es“, sagte er schließlich stolz, als wir vor einer stattlichen Jugendstil-Villa an der Titlisstraße standen. Ich war beeindruckt von der Größe des Hauses. Als Erstes fielen mir die großen Fensterfronten und die verspielten rundlichen Erker auf.

      „Das sieht ja wirklich vielversprechend aus“, sagte ich, und irgendwie passte dies alles auch hervorragend zu Walker. Eine Außentreppe, auf der linken Seite von Lorbeersträuchern flankiert, führte uns zur Eingangstüre. Dort prangte ein unübersehbar großes, poliertes Messingschild. Dr. Th. Walker stand da in unbescheiden großen Lettern.

      Während wir das ehrwürdige, pedantisch saubere Treppenhaus hochstiegen, dachte ich darüber nach, dass Thomas seine Doktorarbeit noch gar nicht geschrieben hatte und demnach auch den Doktortitel verfrüht auf das Messingschild gravieren ließ.

      Die Wohnung befand sich im ersten Stock. Thomas Walker öffnete die massive Türe und bat mich überfreundlich einzutreten. Eigentlich war ich darauf vorbereitet, aber trotzdem staunte ich schon beim ersten Blick in den Eingangsbereich. Hier standen lauter Kostbarkeiten.

      Gerüchten nach stammte Thomas Ehefrau aus einer sehr wohlhabenden Familie. Das Haus, in dem die beiden wohnten, war ein alter Familienbesitz, die Räume waren riesig, und alles war sehr stilvoll eingerichtet. Geschmack hat er, war mein zweiter Gedanke, nachdem ich mich etwas an die Dimensionen gewöhnt hatte.

      „Das ist Nicole, meine Frau“, stellte er die junge Dame vor, die eben aus einem Seitenzimmer auf uns zukam.

      Nicole studierte Kunstgeschichte und Archäologie. Innerlich musste ich lächeln, da mir der Kommentar des Alptraumchirurgen in den Sinn kam; Kunstgeschichte, Archäologie, brotlose Kunst. Wer sich mit nichts als alten Steinen beschäftigt, kann nur die Tochter steinreicher Eltern sein.

      Die junge Frau kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, wo ich sie einordnen sollte. Nicole, ihrerseits, schaute mich nur kurz an. Sie schien mich nicht zu kennen.

      Zunächst wusste ich nicht, ob ich Nicole sympathisch finden sollte. Sie wirkte etwas teilnahmslos, und so fühlte ich mich nicht eben willkommen. Eine Schönheit war sie nicht gerade, sie wirkte ziemlich unscheinbar. Das Gesicht war voller Pickel, aber ihre Kleidung bestand aus erstklassigen Markenartikeln. Meine Fragen beantwortete sie nur mit ja und nein. So musste

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