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Jaquet zuwandte, wirbelten mir die letzten Momente wieder durch den Kopf, ob ich wollte oder nicht. Eben noch stand sie, die Frau mit dem Traumgesicht vor mir. Sie stand da, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Welch ein Glück, dass ich ihr schon wieder begegnete. Für einen kurzen Moment blieb die grüne Welt um mich herum stehen. Als sie sich schließlich weiterdrehte, wurde ich von ihr wie von einem Gravitationsfeld angezogen.

      Ich spürte mein Herz plötzlich kräftig pochen und gleichzeitig eine freudige Regung, denn zum zweiten Male sah ich sie lächeln.

      Für mich war es ein Strahlen wie von einem fremden Stern.

      Ich musste mir sehr Mühe geben, mich zu konzentrieren, als die Schwestern mir rapportierten. Danach sprachen sie ihrer Patientin noch etwas Mut zu und verließen schließlich die Schleuse. Kurz bevor sie in den Lift einstieg, schaute sie nochmals zurück.

      Anschließend wandte ich mich der 21-jährigen Ballerina zu. Mir fiel auf, wie angespannt und nervös die zierliche, nein extrem schlanke Person war. Sie zitterte sogar, und ihre Stimme war schwach. Das Gesicht war erschreckend blass.

      Gemeinsam mit Anita versuchte ich, die Nervosität von Céline Jaquet während der Vorbereitung zu dämpfen. Zusätzlich zu all ihren Ängsten irritierte sie vermutlich auch die fremde Umgebung mit den vermummten grünen Gestalten. Dazu die einzigartige Perspektive aus Sicht der Patientin. Von ihrer Liege aus sah sie alle Personen von unten – um in der grünen Terminologie zu bleiben - aus der Froschperspektive. Schutzlos lag sie da, nur mit einem Spitalhemd bekleidet, das sie auch noch ausziehen musste. Schließlich war sie nur noch mit grünen Tüchern bedeckt, von denen es in jedem Operationssaal unzählige gab. Diese Tücher waren auf Körpertemperatur erwärmt, doch Céline zitterte noch immer.

      „Wir beginnen nun mit der Narkose“, sagte ich nach eingehender Vorbereitung.

      Flüsternd fragte mich die junge Frau: „Können Sie mir bitte, bis ich eingeschlafen bin, die Hand halten?“

      „Gerne, ich kann Ihnen aber nur die Linke anbieten.“

      Und erstmals entspannte sich ihr noch kindlicher Gesichtsausdruck etwas.

      Anita schaute eher verständnislos, als ich einhändig mit der Narkoseeinleitung begann. Es musste wohl auch ein Bild zum Schreien gewesen sein; ich stand wie gewohnt am Kopfende des Operationstisches und musste mich weit nach vorne beugen um mit meiner linken Hand als Teddybär-Ersatz die Hand von Mademoiselle Jaquet zu halten. Lange währte diese Stellung nicht, denn die narkotisierende Wirkung setzte umgehend ein, und ich konnte weiterarbeiten ohne Händchen zu halten.

      Kaum war die Einleitungsphase abgeschlossen, verließ Anita, etwas Unverständliches murmelnd, den Saal.

      Die Operation konnte beginnen. Ein seriös wirkender grauhaariger Kniespezialist führte den Eingriff durch. ‚Zum Glück nicht der Alptraumchirurg‘, dachte ich, denn das wäre für Céline Jaquets Ballettkarriere verhängnisvoll gewesen.

      Der Knieeingriff gestaltete sich schwierig. Der Chirurg und sein Assistenzarzt waren sehr konzentriert bei der Sache und sprachen nur wenig. die Narkose verlief jedoch problemlos und ohne besondere Vorkommnisse, nur dauerte sie erneut sehr lange. Ich war fast die ganze Zeit alleine im Operationssaal. Anita ließ sich, entgegen ihrer Gewohnheit, nicht mehr blicken.

      Endlich, Mittag war lange vorbei, da war Célines Gelenk wiederhergestellt, und der Kniespezialist verließ den Saal. Die letzten Arbeitsschritte durfte der Alptraumchirurg durchführen. Der tat zwar sein Bestes, aber es lief bei ihm – wie üblich – nicht besonders gut, sein Schweiß dafür in Strömen. Schließlich trottete er nach vollendeter Arbeit ziemlich erschöpft und wortlos davon.

      Noch müder war die Patientin, als sie dann endlich aufwachte. Sie war von der Narkose ziemlich benommen. Es dauerte sehr lange, bis sie ansprechbar war. Schließlich öffnete sie die Augen und begann erneut zu zittern. Ihr Körper, mit einem Minimum an schützenden Fettpolstern versehen, wirkte noch graziler, geradezu zerbrechlich. Ihr Gesichtsausdruck war unnatürlich und schmerzverzerrt.

      „Wann beginnt die Operation?“, fragte sie mit schleppender Stimme.

      „Alles schon vorbei, und es ist gutgegangen“, sprach ich mit ruhiger Stimme.

      Es kam oft vor, dass die Patienten am Ende der Operation nicht realisierten, dass bereits alles vorüber war. Die Narkose raubt häufig auch die Erinnerung an die Zeit vor dem Eingriff.

      Erst als Céline Jaquet ganz wach war, überließ ich sie den Stationsschwestern zur Verlegung auf die Abteilung. Wieder erschien meine Schwester mit dem Traumgesicht zur Übergabe.

      Als ich sie erblickte, erlebte ich erneut das unbeschreibliche Gefühl, von einem Menschen magisch angezogen zu sein. Emotionen von Kalt und Warm kamen gleichzeitig in mir auf, die Wärme des Herzens und die Kälte des Verstandes. Innerlich brodelte es, doch ich wollte kühl wirken und mich, trotz der pulsierenden Angespanntheit, ins beste Licht rücken.

      Zu gerne hätte ich auch den Stand ihres Gefühlsbarometers gekannt. Ihr gewinnend freundlicher Gesichtsausdruck ließ jedenfalls Gutes ahnen. Doch wem galt ihre Aufmerksamkeit? Als Erstes ging sie direkt auf Céline zu und begrüßte sie freudig.

      „Hallo Céline, wie geht es dir? Siehst du, jetzt hast du es hinter dir. Man stellt sich doch alles schlimmer vor, als es dann sein wird. Jetzt bringen wir dich auf dein Zimmer.“

      Dabei sah ich die junge Patientin wieder etwas lächeln. Ich führte es auf die positive Ausstrahlung der Traumgesicht-Schwester zurück. Ihr Charisma wirkte gewiss auf alle Menschen so. Im Pflegeberuf war das ein Segen.

      Anschließend erklärte ich die weiteren Verordnungen. Sie hörte interessiert zu. Ich musste mich sehr konzentrieren, während ich in ihr Traumgesicht mit den großen blauen Augen sah. Ihre Pupillen waren riesig. Meine Kehle fühlte sich sehr trocken an, und meine Stimme war leicht belegt. Ich räusperte mich: „Die Operation hat lange gedauert, aber es ging gut, abgesehen von kleineren Problemen. Die Verordnungen: Atmungs- und Kreislaufkontrolle. Bei Schmerzen, also Knieschmerzen fünf Milligramm Mezalgin oder eine halbe Ampulle Dolofug. Haben Sie noch einen Wunsch, oder eine Frage?“

      „Nur eine halbe Ampulle?“, fragte sie.

      „Ja, das reicht völlig bei einem Körpergewicht von bloß fünfzig Kilogramm.“

      Sie verabschiedete sich freundlich. Während ich ihr nachschaute, wurde ich jäh aus meinen Träumen gerissen. Eine Hand schlug energisch auf meine Schulter. Es war Thomas Walker.

      „Kommst du mit zum Mittagessen?“, fragte er.

      „Gute Idee, ich brauche dringend Energienachschub.“

      Erst jetzt bemerkte ich meinen Bärenhunger. Es war schon kurz vor 2 Uhr.

       Keine halben Sachen

      Sarah fiel sofort auf, wie fahl die noch zitternde Céline aussah. Augenscheinlich litt sie unter Schmerzen. Sieht denn das niemand im OPS? Sie zweifelte am Einfühlungsvermögen des Anästhesiearztes, selbst bei den Schmerzmitteln schien er zu sparen. Inzwischen waren sie durch die endlos langen Gänge in Célines Zimmer angekommen. Die junge Patientin war froh, in ihrem Zimmer zu sein und wollte erst mal etwas schlafen.

      Halbstündlich kontrollierte schaute Sarah Atmung, Puls und Blutdruck. Bei ihrem dritten Kontrollrundgang bemerkte Sarah, dass ihre Patientin aufgewacht war. Célines Schmerzen waren offensichtlich, und so verabreichte Sarah als erstes Mezalgin, das schwächere der beiden verordneten Mittel. Vorher musste Sarah einer diplomierten Schwester die aufgezogene Ampulle zeigen und unter Anleitung via Dreiweghahn in den Infusionsschlauch injizieren.

      Fabienne nickte nur: „Na, mach schon, Sarah.“

      „Schwester Sarah, hat Frau Jaquet etwas gegen die Schmerzen bekommen“, fragte Schwester Regula kurze Zeit später laut und resolut.

      „Ja, wir haben eben fünf Milligramm Mezalgin gespritzt.“

      „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das ist reine Homöopathie, diese Dosis. Das nützt doch nichts. Merken Sie sich das. Frau Jaquet hatte eine sehr

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