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Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero
Читать онлайн.Название Die Rückseite der Wahrheit
Год выпуска 0
isbn 9783347033108
Автор произведения Riccardo del Piero
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Während ich eine heikle Venenpunktion unterhalb des Schlüsselbeins durchführte, um einen Katheter in die obere Hohlvene, nahe zum Herzen vorzuschieben, hörte ich im Gang draußen die Bassstimme von Professor Caminada. Durch die kleinen Fenster in den Türen konnte ich sehen, wie er sich mit Huber unterhielt.
„Jawohl, Herr Professor. Wir werden ohne Verspätung beginnen können“, hörte ich ihn antworten, diesmal natürlich zuckersüß. „Gewiss, Herr Professor, ich werde mich nötigenfalls selbst um die Patientin kümmern“, steigerte er sich beinahe singend in Unterwürfigkeit, obwohl er Bratsche spielte.
Ich schmunzelte. Das war also die zweite Seite unseres Oberarztes. Jetzt wusste ich, warum er auch „Häuptling braune Zunge“ genannt wurde, und dies hatte nun nichts mit seiner Vorliebe für Kaffee zu tun.
Die Venenpunktion war nicht ungefährlich, denn es bestand stets die Gefahr, die Lungenspitze zu treffen. Doch es gelang mir ohne Komplikationen auf Anhieb, und ich atmete erleichtert auf. Auch die Narkoseeinleitung verlief ohne Probleme, und wir konnten die Patientin auf die Minute pünktlich vom Vorbereitungsraum in den OPS fahren.
Ausnahmsweise war selbst Huber zufrieden. „Du bist ja pünktlich!“, stellte er erstaunt fest.
„Ich arbeite wie immer. Wenn die Patienten rechtzeitig eintreffen, ist es auch kein Problem den Zeitplan einzuhalten“, erwiderte ich sachlich.
„Pass auf, die Patientin hat eine Koronare Herzkrankheit“, unterbrach er mich.
Ich nickte, denn natürlich wusste ich das bereits, und aufgepasst hätte ich ohnehin. Schließlich verschwand Huber Richtung Kaffeeraum, mit der Androhung, bald wieder vorbeizukommen.
Die Narkose verlief problemlos, und der Herzrhythmus der Patientin war anfangs regelmäßig. Doch etwa 40 Minuten nach Beginn des Eingriffes verlangsamte sich der kurze hohe Piepston des EKG-Monitors drastisch. Ich war sehr überrascht. An und für sich war das kein seltenes Ereignis. Solche Reflexe des vegetativen Nervensystems hatte ich auch schon erlebt. Ich blieb innerlich noch ruhig und zog sofort eine Ampulle des Gegenmittels Atropin auf, während meine Augen immer wieder hilfesuchend auf den EKG-Monitor blickten. Der Herzrhythmus blieb weiterhin sehr langsam, aber noch einigermaßen regelmäßig. Nun spritzte ich die Ampulle Atropin via Venenkatheter.
Auch den Chirurgen musste die langsame Pulsreaktion aufgefallen sein. Caminada erkundigte sich nach dem Befinden der Patientin.
„Sollte gleich behoben sein“, antwortete ich optimistisch.
Typisch Anästhesie, schoss es mir durch den Kopf; zuerst 40 Minuten Arbeit ohne besondere Vorkommnisse, und urplötzlich mündete das Ganze aus dem Nichts in eine hochgefährliche Situation. Noch immer hatte ich das Gefühl, die Situation alleine in den Griff zu bekommen, obwohl sich der Puls inzwischen auf die beängstigende Frequenz von 38 Schlägen pro Minute verlangsamte, während sich mein eigener Herzschlag enorm beschleunigte.
Ich war alleine, von den Anästhesieschwestern oder -pflegern war, wie üblich, während einer komplikationsfreien Narkose, niemand mehr im Saal. Ich rief nach Hilfe, indem ich eine Spitalgehilfin beauftragte, nach Huber oder einem anderen Oberarzt in ihrem Lieblingsraum zu suchen.
Längst hatten die Chirurgen einen Schritt zurück getan, ihre Arbeit unterbrochen und blickten gebannt auf den EKG-Schirm, der schon beinahe eine Nulllinie anzeigte. Nur ganz selten noch war der Piepston des Herzschlages zu hören. Dazwischen lagen nicht enden wollende Pausen von unheimlicher Stille.
Aller Augen waren auf mich gerichtet, Caminada schaute noch grimmiger und skeptischer, als er es ohnehin schon tat. Dies fiel mir auf, obwohl ich den Blick nicht vom Monitor abwendete.
Inzwischen musste ich mir, stark verunsichert, das weitere Notfallszenario überlegen, denn mein Medikament Atropin schien nicht zu wirken. In ähnlichen Fällen, hatte der Effekt bisher jeweils unverzüglich eingesetzt, aber hier passierte einfach nichts, und jede Sekunde kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor. In diesem Moment trat mein Anästhesiepfleger wieder in den Saal.
„Aber Herr Doktor, was ist denn bei Ihnen hier los?“, fragte er gekünstelt.
„Mit der Herzaktion unserer Patientin ist eben im Moment nicht so viel los.“
„Aber warum rufen sie denn um Gottes Willen nicht um Hilfe“, meinte der Oberpfleger, „ich hole den Oberarzt.“
Für eine Antwort hatte ich nun definitiv keine Zeit, ich konnte nichts anderes tun, als gebannt zwischen meiner Patientin und dem EKG-Monitor hin und her schauen.
Dann, zunächst nur sehr zögerlich, aber doch kontinuierlich, beschleunigte sich der Herzschlag der Narkotisierten. Nach einer unheimlich langen Minute, einer gefühlten Ewigkeit, war die Herzaktion wieder wie zuvor, als wäre nichts geschehen. Endlich konnte ich aufatmen.
Natürlich blieb ich angespannt und aufgeregt, doch die Gewissheit, eine Notfallsituation selbständig gemeistert zu haben, erfüllte mich mit Erleichterung und Genugtuung. Viele meiner Kollegen brauchten solche Ereignisse, waren geradezu süchtig danach. Ich selbst konnte allerdings auch ganz gut ohne Komplikationen leben.
Inzwischen hatte Professor Caminada seine Arbeit wortlos wieder aufgenommen.
Da betrat Huber den Saal.
„Läuft ja alles tip-top! Wieso rufst du mich?“, konstatierte er und verschwand auch gleich wieder.
‚Hast du eine Ahnung‘, dachte ich, war aber in erster Linie froh, an diesem Tag erst ein kritisches Wort von Huber gehört zu haben. War heute wirklich mein Glückstag?
Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, denn urplötzlich donnerte Caminada los. Sein Zorn entlud sich an der neuen Operationsschwester. Vorhin, als eine kleine nicht bedrohliche Blutung im Bauchraum auftrat, hatte sie zum zweiten Male ein falsches Instrument gereicht. Es dauerte dadurch unwesentlich länger, bis die Blutung zum Stillstand gebracht werden konnte. Eine Nichtigkeit eigentlich, und weit davon entfernt, als Komplikation bezeichnet werden zu können.
Die noch unerfahrene Schwester kannte wohl die Vorlieben des Chefarztes noch nicht im Detail und wusste nicht, welches Instrument er jeweils wünschte. Beim ersten Fehler ließ Caminada ein kurzes Knurren vernehmen, doch beim zweiten Mal vergaß er sich völlig.
„Was soll denn das? Eine Schwester wie Sie kann ich hier ja zu überhaupt nichts gebrauchen. Wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht? In einer Bananenrepublik? Das ist doch einfach nicht zu glauben, sowas! Wenn es blutet, brauche ich die Klemme, und zwar subito, das wird sonst sehr gefährlich. Sie sind sich wohl nicht bewusst, welch fatale Auswirkungen Ihre Fehler haben. Zum Donnerwetter noch mal! Falls Sie kein Blut sehen können, sollten Sie eben den Beruf wechseln!“
Die Schwester tat mir leid. Sie schaute nur noch schweigend auf ihre Skalpelle, Scheren und Tupfer. Leider waren Vorfälle solcher Art im Operationssaal keine Seltenheit.
Die Operationsschwester war ein dankbarer Sündenbock, oder vielleicht korrekter: eine dankbare Sündenzicke, die man oft mit hochdosierten verbalen Schlägen eindecken konnte. Sie diente dem Machochirurgen als Puffer, wenn es nicht nach seinen Wünschen lief.
Nach seiner Schimpftirade stand Professor Caminada eine Weile mit erhitztem rotem Kopf untätig da und atmete schnaubend wie ein Hengst, ansonsten hörte man außer den monitorisierten, nun regelmäßigen, Herztönen aus dem EKG-Gerät kaum etwas im Saal.
Schließlich ging Caminada zur Tagesordnung über und operierte weiter, als wäre nichts geschehen. Nach diesem verbalem Schlag wurde noch weniger als vorher gesprochen.
Die Operationsschwester assistierte tapfer weiter. Es musste sie wohl große Anstrengungen gekostet haben, dies zu tun, ohne weinen zu müssen.
Erst als Professor Caminada den Operationstisch wie üblich vorzeitig verließ und dem Alptraumchirurgen den Wundverschluss überließ, entspannte sich die Situation etwas.
„Tja, so ist er halt“, meinten die Assistenzärzte