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stand ich da.

      Als Célines Angehörige eintrafen, musste das Gespräch unterbrochen werden. Ich verließ das Zimmer, sah draußen die Jaquets im Gang, und diesen Anblick werde ich nie mehr vergessen. Er brannte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis und verstärkte das Gefühl des Leids. Für einen Moment musste ich an die frische, kühle Luft und versuchte, mich im parkartigen Innenhof des Universitätsspitals etwas zu sammeln. Die einzige Empfindung, die ich in meiner Niedergeschlagenheit spürte, war ein tiefer, intensiver Schmerz. Das Unfassbare war Realität geworden: Céline würde auf dieser Welt nie mehr tanzen.

      Danach begab ich mich ins Stationszimmer. Augenblicklich spürte ich die erdrückende Stimmung. Die Krankenschwestern, ich kannte nur wenige, saßen am Tisch und sprachen leise. Auch der Oberarzt und die Oberschwester waren dabei, sie informierten das Pflegepersonal. Überall ernste, betroffene Gesichter und mittendrin erkannte ich mein Traumgesicht, dessen Augen vom Weinen ganz rot waren. Offenbar war die Unterredung zu Ende und alle erhoben sich. Nur das Geräusch der Stühle beim Wegschieben war zu hören.

      Sie kam auf mich zu, begleitet von ihrer Kollegin. Die sonst so lebenslustigen, jungen Frauen waren sichtlich gezeichnet.

      „Gestern noch haben wir Céline gepflegt. Es ist einfach alles so schrecklich, so unfassbar“, sprach sie beinahe schluchzend. „Ich fühle mich schlecht, denn ich bin schuldig, weil sie an dieser Spritze mit dem starken Schmerzmittel gestorben ist, das weiß ich inzwischen.“

      Da versuchte ich sie etwas zu trösten: „Sie trifft doch überhaupt keine Schuld. Die Spritze haben Sie ja auf Verordnung hin verabreicht. Also wirklich, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Zudem stehen die exakte Todesursache und -zeit noch gar nicht fest; es ist auch möglich, dass die Untersuchung etwas anderes ergibt. Es ist noch zu früh für eine Beurteilung.“

      Sie nickte, schien aber von meinen Worten wenig überzeugt zu sein.

      „Natürlich verstehe ich Ihre Fassungslosigkeit“, fuhr ich fort, „wir alle können es kaum glauben. Auch ich bin tief betroffen, und mir geht das sehr, sehr nahe. Auch ich überlege mir immer wieder, ob wir das hätten vorhersehen können? Oder warum haben wir nicht ein anderes Schmerzmittel verwendet?“

      Sie überlegte und schaute ins Leere.

      „Glauben Sie denn auch, dass diese Spritze tödlich war?“, fragte die zweite Schwester, die bisher kaum etwas gesagt hatte.

      „Möglich, aber wir sollten jetzt die gerichtsmedizinische Untersuchung abwarten.“

      Danach eröffneten mir die zwei Krankenschwestern unter Tränen etwas, was mich völlig aus der Bahn warf.

       Das Geständnis

      Es war der Tag der Tränen. Sarah sah nach Célines unfassbarem Tod nur niedergeschlagene Gesichter. Nur eine weinte nicht und saß mit versteinertem Gesicht beim Morgenrapport: Regula.

      Anfänglich fiel dies niemandem auf, doch aus ihren geröteten Augen bemerkte Sarah schon bald, dass die Stationsschwester keinerlei Gefühlsregungen zeigte. Merkwürdigerweise verhielt sich Schwester Regula ungewohnt passiv. Sarah erwartete von ihrer Vorgesetzten, dass sie auch in dieser schwierigen Situation die Abteilung, wie gewohnt, souverän führen würde. Immer wieder schaute sie zu Regula hin, doch von ihr ging keinerlei Initiative aus.

      Fabienne und Sarah fühlten sich allein gelassen.

      Schon bald machten diverse Gerüchte über die Todesursache die Runde. Die Verunsicherung wuchs in der ersten Stunde nach Arbeitsbeginn.

      Plötzlich kam Heidi von der benachbarten Station auf Sarah zu. Heidis Haltung war ungewohnt: Der Kopf, den sie sonst immer stur gerade hielt, war für einmal leicht seitlich geneigt und ihr Blick voller Anteilnahme. Sie schloss Sarah einfach nur in die Arme. Worte fanden beide nicht, aber das war auch nicht nötig.

      Dieser kurze Moment genügte Sarah, um zu spüren, wie Heidi mit ihr fühlte. Ausgerechnet Heidi! Von ihr hätte Sarah das am allerwenigsten erwartet. Wieder flossen die Tränen, Trauer mit Rührung vermischt. Die Schwestern sahen sich gegenseitig an und Sarah wusste, dass sie sich in Heidi getäuscht hatte.

      Von diesem Moment an war Sarah noch verwirrter. Ihr logischer Gedankenfluss stockte. Mehr und mehr drang ein schmerzlich bohrendes Schuldgefühl langsam in ihr Bewusstsein vor. Ihr wurde klar, dass die Missachtung der Verordnung der Grund für Célines Tod gewesen sein musste. Zuerst war dieses Gefühl noch diffus, doch es verdichtete sich stetig und ließ sie nicht mehr los. Hätten die Krankenschwestern nach der Verordnung des Arztes gehandelt, würde Céline noch leben, davon war Sarah nun felsenfest überzeugt. Sie fand keine Ruhe mehr. Was für ein entsetzlicher Fehler! Ein Fehler, der sie ihr ganzes Leben lang verfolgen würde. Ausgerechnet sie, die immer alles richtig machen wollte und nie eigenmächtig handelte.

      Todesfälle auf der Abteilung waren keine Seltenheit, daran hatten sich auch die jungen Schwestern schon nach kurzer Zeit gewöhnen müssen. Doch diesmal war alles anders. Der Tod traf keinen schwerkranken Greis, sondern eine junge, gesunde Frau. Das war für alle neu und unfassbar.

      Selbst die Oberschwester der chirurgischen Abteilung, die sich sonst selten blicken ließ, war im Laufe des Morgens gekommen und versuchte vergeblich zu beruhigen.

      Noch immer saßen alle Schwestern im Stationszimmer tatenlos um den Tisch. Sie warteten auf den Chirurgieoberarzt. Die Minuten vergingen ungewohnt ruhig. Endlich kam der Chirurg. Nach kurzer Begrüßung begann er ohne weitere Einleitung: „Wir gehen davon aus, dass der Tod bei Frau Céline Jaquet durch Atemstillstand eingetreten ist, bedingt durch eine Ampulle des Opiatanalgetikums Dolofug. Die Wirkung des Analgetikums wurde potenziert durch die Opioide, die bereits intraoperativ verabreicht wurden.“

      Sarah fand es absolut herzlos, wie er die Sachlage formulierte. Eine Ampulle hat er gesagt, schoss es Sarah durch den Kopf. Dann wissen es jetzt alle, dass eine ganze Ampulle gespritzt wurde. Neben dem Schmerz über den Tod der jungen Patientin jetzt auch das noch. Sarah blickte zu Fabienne hinüber, die ebenfalls bei diesen Worten leicht zusammenzuckte.

      Regula schaute indessen stur geradeaus und verzog kaum eine Miene, lediglich ihr Mundwinkel zuckte kurz leicht.

      Würde der Chirurg als nächstes erwähnen, dass den ärztlichen Verordnungen nicht Folge geleistet worden sei? Sarah fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Doch die Information war rasch beendet. Der Arzt schloss damit, dass der normale Pflegealltag nun wieder seinen Gang nehmen könne, und die anderen Patienten sollten von diesem Vorfall, wie er es nannte, möglichst nichts bemerken.

      Immer wieder schaute Sarah, beinahe hilfesuchend, zu Schwester Regula.

      Endlich näherte sich die Abteilungsschwester und legte ihre Hand auf Sarahs Schulter.

      „Solche Dinge gehören eben auch zu unserem Beruf. Der Tod ist immer mit dabei, und es trifft so manches Mal die Falschen. Diejenigen, von denen man es nicht erwarten würde. Es ist sehr schlimm, aber wir müssen lernen, das zu akzeptieren. Man wird sehen, was die Ursache für diesen schrecklichen Todesfall ist. Sie müssen sich keine Sorgen machen wegen dieser Dolofug-Injektion. Natürlich trage ich die Verantwortung und sicher nicht Sie als Schülerin.“

      Sarah spürte, dass Regulas Hand leicht zitterte.

      Anschließend sprach sie auch kurz mit Fabienne unter vier Augen.

      Als sich Sarah und Fabienne wieder an die Arbeit machen wollten, entdeckten sie den Anästhesiearzt Kramer auf dem Gang. Er kam mit hängendem Kopf auf sie zu und hantierte umständlich an seiner Brille.

      „Ich kann das Ganze auch nicht fassen und bin völlig sprachlos“, sagte er leise und versuchte die Schwestern zu trösten. Sarah fand es, trotz all ihrer seelischen Schmerzen, rührend. Insbesondere gefiel ihr die Selbstverständlichkeit, mit der er die Verantwortung trug – doch er wusste eben noch nicht alles.

      Sarah und Fabienne schauten einander an.

      „Nun, was ich noch sagen wollte“, begann Sarah umständlich, „Sie wissen es noch nicht. Nun, ich meine, da ist eben noch etwas, dass wir Ihnen sagen sollten …“, Sarah schluckte leer.

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