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den Stall zurückschicken würde. Martin wollte bis dahin so viel Wissen wie irgendwie möglich aufnehmen, und so zeichnete er am Abend in Ulrichs Schreibstube mit Kohle die Buchstaben auf ein Holzbrett. Er schrieb seinen eigenen Namen und den von Veit, und schlief mit der Holzkohle in der Hand ein.

      Die nächsten Wochen war Martin ein täglicher Gast bei Bruder Alban. Er lernte schnell, und Alban war verblüfft. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Die Kinder in der Klosterschule lernten deutlich langsamer, und auch die Novizen im Kloster legten oft nicht den größten Eifer an den Tag. Die meisten davon waren ja von den Eltern bereits als Kind geschickt worden, manche wurden auch zur Strafe in ein Kloster gesteckt. Eine echte Berufung hatten die wenigsten, und das merkte man auch im Unterricht. Mit Martin war das anders. Er hing förmlich an Albans Lippen und passte genau auf. Innerhalb von wenigen Tagen konnte er einigermaßen schreiben und sogar rechnen, erst mit seinen Fingern, dann später mit Kastanien. Bald schon konnte Martin einfache Aufgaben bis zur Zahl 100 rechnen.

      Bruder Alban bemerkte, dass es ihm Freude machte, so einen gelehrigen Schüler zu unterrichten. Er erzählte ihm von seinen Lieblingsautoren und versuchte, die Inhalte ihrer Werke so zu erklären, dass ein einfacher Knecht sie verstand.

      Martin hörte gut zu und bei den folgenden Diskussionen bemerkte Alban schnell, dass Martin vieles zu verstehen schien. Für etliches fehlte ihm das theologische Grundwissen, bei einigen Dingen bemerkte man, dass sein Schüler anscheinend noch nie darüber nachgedacht hatte, aber Alban war entzückt. Endlich hatte er jemanden, den diese theologischen Gedankengänge interessierten. Er vermutete, dass Martin sich für alles interessierte, Hauptsache Wissen, aber Alban kümmerte es nicht. Jeden Tag fütterte er Martin mit klugen Gedanken, Philosophie und Abhandlungen über den Glauben.

      Auf Martins scheuen Wunsch hin begannen sie sogar mit Latein. Alban schrieb die gängigen Gebete auf Latein auf und erklärte Martin dann die Wörter und die Grammatik dazu. Leider hatte Bruder Alban kein Lehrbuch für lateinische Grammatik, so musste er seinem Schüler alles anhand von Beispielen erklären. Sie begannen also mit den Gebeten, und als Martin die kannte, machten sie mit kurzen Passagen aus der Heiligen Schrift weiter. Jeden Tag studierten sie immer länger, und oft war es schon Mittag, wenn Martin bei Heinrich auftauchte. Am Anfang war Martin sehr schuldbewusst gewesen und hatte wohl eine Strafe fürs Zuspätkommen erwartet, aber Heinrich ließ ihn gewähren und lächelte ihn nur freundlich an.

      Er war selbst froh, vormittags eine Zeitlang seine Ruhe zu haben. Martin war die ganzen letzten Wochen ständig bei ihm gewesen, da war etwas Stille ganz schön. Außerdem hatte Heinrich angefangen, sich vom Verwalter die Dinge rund um sein Gut erklären zu lassen. Jeden Tag kam Ulrich nach dem Frühstück und erzählte Heinrich, welche Arbeiten anfielen und um was er sich alles Gedanken machen musste. Er war sehr komplex und viel, und anfangs fiel es Heinrich schon schwer, überhaupt nur zuzuhören. Nach und nach machten die ganzen Dinge Sinn, und Heinrich hoffte, sich irgendwann einmal auch damit auszukennen. Ulrich war schon alt und würde nicht ewig leben, und er wusste ja nicht, ob ein eventueller Nachfolger auch so fleißig, gut und loyal sein würde. Also war es sicher besser, wenn er selbst auch Bescheid über die Verwaltung seines Gutes und die abgabepflichtigen Höfe wusste.

      Die Tage vergingen, Heinrich und Martin hatten einen neuen Rhythmus gefunden. Jeden Morgen kam Martin zu Heinrich, brachte Waschwasser mit, versorgte das Bein, und frühstückte mit ihm. Dann ging Martin bis Mittag zum Unterricht und Heinrich sprach mit dem Verwalter und hatte dann Ruhe. Zum Mittagessen kam Martin wieder, dann übten sie das Laufen. Es ging immer besser. Mittlerweile lief Heinrich mit einem Stock und Martin ging nur nebenher, um ihn zu stützen oder aufzufangen, wenn es nötig war. Immer öfter gingen sie auch hinaus vor die Tür. Der Schnee begann zu schmelzen, die ersten Schneeglöckchen streckten ihre Köpfe heraus.

      Jeden Tag liefen sie immer länger im Gut herum, jeden Tag besuchte Heinrich auch seine Pferde. Juno lebte ja nicht mehr, aber Diana und Alba waren noch da. Er streichelte sie und fütterte sie mit Karotten. Martin konnte mit Pferden nicht so viel anfangen, er konnte noch nicht einmal reiten. Schade, so dachte Heinrich. Sein Traum war ja, wieder Pferde zu züchten und zu bereiten; es wäre hilfreich gewesen, wenn Martin die gleiche Pferdebegeisterung gehabt hätte wie er. Er nahm sich vor, Martin das Reiten beizubringen, so konnten sie wenigstens ab und zu mal einen Ausritt machen. Im Wald, eine knappe Reitstunde entfernt, lag ein kleiner See. Heinrich war oft dort gewesen. Erst mit seinem Vater und den Geschwistern, später mit seinem Freund und Lehrmeister Veit. Veit war zwei Jahre älter gewesen als er und war der beste Reiter, den Heinrich kannte.

      Veit hatte ihm das Reiten beigebracht. Also, natürlich hatte Heinrich schon reiten können, aber RICHTIG reiten, das hatte er erst bei Veit gelernt. Er hatte immer Veits Freund sein wollen, er hatte ihn bewundert. Veit hatte sich viel mit ihm abgegeben, aber richtig ernstgenommen hatte er ihn nie. Veit war immer der tolle Reiter, der Held gewesen. Zuerst hatte Heinrich ihn bewundert, später dann war Veit der Konkurrent um die Gunst des Vaters geworden, und Heinrich hatte ihn regelrecht gehasst dafür.

      Er war bereits als Kind zu einem anderen Hof zur Ausbildung geschickt worden. Die paar Mal im Jahr jedoch, wenn er zu Besuch kam, musste er zusehen, wie sein Vater zusammen mit Veit die Pferde beritt. Für Heinrich war das immer ganz furchtbar gewesen. Der Vater schien Veits Arbeit mehr zu schätzen als Heinrichs Leistungen bei der Ausbildung zum Ritter. Veit war wichtig, Veit war unentbehrlich, und das ließ er Heinrich auch spüren. Er behandelte ihn oft herablassend, wie ein verweichlichtes Rittersöhnchen, das keine Ahnung hatte.

      Vor ungefähr zehn Jahren hatte Heinrich mitbekommen, dass Veit in Ungnade gefallen war. Er war sogar einige Zeit im Kerker gewesen und hatte dann vom Vater Fußketten verpasst bekommen, damit er nicht mehr reiten konnte. Heinrich hatte sich diebisch gefreut damals, endlich hatte dieses Großmaul einen Dämpfer bekommen. Heinrich war ja immer nur eine bis zwei Wochen auf Rabenegg zu Besuch gewesen, und irgendwann hatte er Veit nicht mehr gesehen. Er wusste nicht, was aus ihm geworden war. Schade eigentlich, so fand Heinrich. Veit hätte gut bei der Pferdezucht und der Ausbildung der Pferde helfen können. Obwohl – vermutlich hätte es nur wieder Ärger und Streit gegeben, Konkurrenz eben. Vielleicht war es ganz gut, dass Veit nicht mehr da war. Heinrich würde sich anders behelfen und er alleine würde etwas Großartiges aufbauen. Eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er zu faul dafür war, aber Heinrich ignorierte sie beharrlich.

      Nach dem täglichen Ausflug spielten Heinrich und Martin meistens Brettspiele, aßen zu Abend und liefen dann noch eine Runde herum. Es ging immer besser, bald würde Heinrich keine Pflege mehr brauchen. Nach der zweiten Übungsrunde zu Fuß sangen Martin und Heinrich oft. Sie sangen immer wieder die gleichen Lieder, da sie keine anderen kannten, variierten aber die Begleitstimmen dazu. Oft trommelte Martin auf einer Holzschüssel den Takt mit.

      Martin bemerkte, wie die Starre aus seiner Seele langsam wich. Er hatte auf Rabenegg furchtbare Jahre verbracht und sich in sich selbst zurückgezogen. Alle seine Sinne waren nur auf Überleben ausgerichtet gewesen, ständig war er auf der Hut vor der nächsten ungerechten Grausamkeit gewesen. Die letzten Wochen hatte Martin eine gute Zeit gehabt. Er traute der ganzen Sache noch nicht wirklich und war ständig achtsam, aber Heinrich schien sich seit seinem Unfall geändert zu haben.

      Martin begann, ruhiger zu werden. Zuerst war seine Aufmerksamkeit immer auf Heinrich gerichtet gewesen, doch auch das ließ langsam nach. Er dachte, er könnte sich nun entspannen, aber das schien nicht möglich. Martin stellte fest, dass mit der Ruhe im Kopf auch schlimme Gefühle kamen. Die Starre taute auf, wie schmelzendes Eis, und das brachte unerwünschte Gefühle mit sich. Fast jeder Ort in diesem Gut barg üble Erinnerungen, und er bemerkte, dass sein Körper auf Heinrich reagierte, auch wenn es sein Geist nicht mehr zu tun schien. Wenn er in Heinrichs Kammer trat, schlug sein Herz schneller, die Nackenhaare stellten sich auf, ihm wurde übel. Martin versuchte, das zu ignorieren und erst nach einiger Zeit in der Kammer wurde es dann immer besser, jeden Tag aufs Neue. Er wehrte sich verzweifelt gegen die schlimmen Gefühle. Sein Leben war so hart gewesen, und er konnte nicht mehr. Er wollte einfach Frieden, Ruhe, aber seine auftauende Seele sorgte dafür, dass da kein Frieden sein konnte. Der Schmerz war manchmal so schlimm, dass es fast körperlich weh tat. Oft wünschte Martin sich, dass er als Säugling gestorben wäre, dann hätte er das alles nicht aushalten müssen.

      Nach und nach entdeckte Martin,

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