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übernahm. Beziehungsweise, dass man Verantwortung für Schuld gegenüber einem Menschen übernahm, der unter einem stand.

      Wenn man jemanden beleidigte oder kränkte, der im Rang über einem stand, dann musste man alles tun und sich den Arsch aufreißen, um die Person zu versöhnen, ansonsten hatte man Ärger. Bei rangniederen Leuten hatte es nie eine Rolle gespielt. Mit denen konnte man alles tun, es sei denn, sie hätten einen wichtigen Fürsprecher gehabt. Das hatte Heinrich aber noch nie erlebt, also kümmerte es ihn auch nicht. Rangniedere Personen, und ganz besonders seine leibeigenen Bauern oder Dienstboten, mit denen konnte er machen, was er wollte.

      Natürlich gab es Gesetze, die auch die Leibeigenen schützen sollten, aber wen kümmerten diese Gesetze? Es brauchte immer jemanden, der sie durchsetzte, aber der Graf hätte sicher nicht gegen Heinrich für einen Knecht oder Bauern geurteilt. Recht haben und Recht bekommen hatten so viel gemeinsam wie Tag und Nacht.

      Es war das allererste Mal, dass er Schuld eingestehen und Verantwortung übernehmen musste für eine Person, die wehrlos war und alleine von Heinrichs Wohlwollen abhing. Wenn Heinrich nichts sagte und keine Entschuldigung anbot, so musste Martin das auch hinnehmen. Heinrich dachte kurz daran, es bleiben zu lassen. Er konnte freundlich zu Martin sein, bis der Mai anbrach, und ihn dann wie geplant mit einer gefüllten Reisegeldbörse wegschicken. Er musste keine Schuld eingestehen, keine Verantwortung übernehmen.

      Zu seiner großen Verwunderung bemerkte Heinrich jedoch, dass er Martin gar nicht mehr wegschicken wollte. Er mochte ihn gern, vielleicht würde Martin ihn auch irgendwann mögen. Vielleicht könnte er tatsächlich sein Bruder sein?

      Sehnsüchtig dachte Heinrich an früher. Er hatte eine Familie gehabt mit Eltern, Bruder, Schwester. Nun waren seine Eltern und der Bruder tot und die Schwester in Frankreich. Er gab es nicht gerne zu, aber er fühlte sich einsam. Er hatte zwar Gesellschaft, aber seine Seele war einsam. Da war niemand, mit dem er wirklich sprechen konnte. Seine Freunde Gottfried, Albrecht und Leonhard waren vor Weihnachten gegangen und seitdem nicht wiedergekommen. Vielleicht würden sie auch nicht wiederkommen, vielleicht dachten sie, Heinrich würde ein Krüppel bleiben.

      Ein Krüppel. In Heinrich zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Kämpfen würde er sicher nicht mehr können, aber vielleicht konnte er mit viel Glück wieder reiten und seinen Traum erfüllen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber, wenn er eh ein Krüppel war, vielleicht konnte er ja dann doch singen und musizieren? Vielleicht störte es niemanden, wenn ein Krüppel sang? Niemand würde von ihm erwarten, ein echter Kerl zu sein. Aber Heinrich wollte ein echter Kerl sein. Er drehte sich mit seinen Gedanken im Kreis, es war zum Verzweifeln. Heinrich merkte, dass er abschweifte. Vor ihm saß Martin und starrte immer noch die Nachtsuppe an. Heinrich biss auf seinen Fingernägeln herum. Wie sollte er dieses Gespräch nur anfangen?

      Plötzlich hob Martin den Kopf, die Maske aus Stein war wieder da. Er sagte: „Ihr könnt auch ganz wunderbar singen. Es war wirklich schön, mit Euch zu singen, vielen Dank.“

      Martin dachte vermutlich, dass er nach Heinrichs Lob auch Lob schuldig war. Heinrich seufzte. Ein langer Weg lag vor ihnen, aber mittlerweile war Heinrich überzeugt, dass es wert war, den langen Weg zu gehen. Es war seltsam: Eigentlich hatte er Martin nur geholt, um er Langeweile zu entgehen, aus reinem Eigennutz. Martin würde ihn unterhalten und ihn pflegen, bis er wieder gesund war und dann gehen.

      Heinrich erkannte, dass er ein Idiot war. So ging man nicht mit Menschen um, und mit einem Halbbruder, der aussah wie die Mutter, schon gar nicht. Heinrich erkannte, wie selbstsüchtig er gewesen war. Das fühlte sich nicht gut an und er wollte das ändern. Er musste nicht freundlich zu Martin sein, aber er wollte es. Manchmal dachte er darüber nach, wie er und sein Vater Martin behandelt hatten, was sie ihm alles angetan hatten. Er hatte immer gedacht, er wäre im Recht gewesen, es hätte ihm zugestanden, die Mutter zu rächen. Aber, so erkannte er jetzt, das war Unsinn gewesen. Selbst wenn Martin nicht sein Halbbruder wäre: er konnte für die Sache nichts. Er war damals noch ein Säugling gewesen, ein unschuldiges Kind.

      Zuerst hatte Heinrich alles auf seinen Vater geschoben. Der hatte den Jungen schließlich geholt und Heinrich aufgehetzt. Ja, sein Vater war schuld. Irgendwann musste Heinrich jedoch einsehen, dass sein Vater seit Jahren tot war und er trotzdem weitergemacht hatte. Er war ein erwachsener Mann in einer Machtposition, der einen wehrlosen Jungen gequält hatte.

      Männer wie er machten sich eigentlich nie Gedanken über solche Dinge. Gerade im Krieg wäre es fatal, sich Gedanken über all die wehrlosen und unschuldigen Menschen zu machen, die man tötete oder deren Haus man anzündete. Heinrich schauderte. So viele Kinder wurden zu Waisen, so viele Frauen zu Witwen, so viele Familien verloren Haus und Hof, so viele Männer starben oder wurde zu Krüppeln. Wenn die Ritter oder auch die anderen Kämpfer sich darüber Gedanken machen würden, dann würde doch kein Mensch mehr in den Krieg ziehen? Man musste das eigene Gewissen irgendwie ausschalten, oder besser noch: es gar nicht erst einschalten.

      Mitgefühl mit dem Feind war der Anfang vom Ende, das ging einfach nicht im Krieg. Heinrich wusste: für ihn gab es kein Zurück mehr. Er hatte das Mitgefühl für Martin in sein Herz gelassen, er hatte zu Denken begonnen. Er konnte in keinen Krieg mehr ziehen, zumindest nicht in einen Krieg, der ihn gar nichts anging. Früher hatte er für irgendwelche Grafen, Herzöge, Könige gekämpft, für Lohn oder aus Loyalität. Er hatte also Leute getötet, die ihm nie etwas getan hatten, und es war ihm egal gewesen. Aber echte Kerle töteten Leute, und es war ihnen egal. Echte Kerle waren Draufgänger, mutige Kämpfer, ausdauernde Zecher, und natürlich stiegen sie ständig den Frauen hinterher.

      Heinrich hatte immer ein echter Kerl sein wollen. Warum eigentlich? Er dachte nach. Eigentlich hatte er immer nur dem Vater zeigen wollen, dass er ein echter Kerl war. Der Vater sollte stolz auf ihn sein. Sein Vater, der immer sein Vorbild gewesen war, dem er es recht machen wollte.

      Sein Vater, der Mörder und Lügner.

      Heinrich bemerkte, dass er gerade nicht darüber nachdenken konnte, weil er sonst geweint hätte. Und weinen… das ging für einen echten Kerl gar nicht. Plötzlich musste er über sich selbst lachen, er war so ein Trottel.

      Martin sah in verwundert an, er machte sich Sorgen. Erst war Heinrich nett zu ihm und wollte Brettspiele spielen. Dann wollte er singen. Und jetzt lachte er ohne Grund in sich hinein. Vielleicht hatte er doch zu viel Theriak abbekommen? Oder sein Kopf hatte Schaden genommen im Eisbach? Martin verbrachte seinen Arbeitstag mittlerweile ganz gerne in Heinrichs warmer Kammer, aber er war immer noch auf der Hut. Immer noch war er wachsam, um ja nichts falsch zu machen, immer noch achtete er stark drauf, was er sagte und tat. Besorgt betrachtete er den Herrn und wartete, was als Nächstes kommen würde.

      Ja, was dann kam, war etwas, was Martin nie erwartet hätte.

      Heinrich sah ihn nachdenklich an. Das Singen war so schön gewesen, das hatte er immer tun wollen. Aber er hatte es nie jemandem erzählen können. Niemand sollte ihn für ein Weichei halten. Sein Bruder, nein, sein Halbbruder da vor ihm sah ihn aufmerksam, fast schon besorgt an. Martin war seit Wochen für ihn da, stets dienstbereit, stets loyal. Heinrich erinnerte sich selbst daran, dass Martin keine Wahl hatte und das alles tun musste, und trotzdem war es Heinrich, als hätte er noch nie so einen treuen Weggefährten gehabt. Sicher würde Martin ihn nicht auslachen, wenn er ihm von seinen Träumen erzählte.

      Er sah Martin nervös an, nestelte mit den Fingern an seinem Ärmel herum und begann: „Weißt Du, ich wollte immer schon singen und Musik machen. Am liebsten hätte ich Streichpsalter spielen gelernt, oder Laute. Ich wollte singen und musiziere, und mit Leuten leben, die mit mir musizieren. Ich wollte Freunde haben, die mit mir ausreiten, mit mir über ihre Anschauungen reden, und die mit mir singen. Das alles wollte ich. Und ich wollte Pferde züchten und zureiten.“

      So, nun war es draußen. Es war ausgesprochen. Wie Martin wohl reagieren würde? Martin sah ihn nur an und schien zu warten. Sollte er noch etwas sagen? Ihm fiel nichts Gescheites ein und war auch still. Nach einiger Zeit fragte Martin:

      „Und warum tut Ihr das alles dann nicht?“

      „Hm?“

      „Ihr seid ein freier Mann, und Ihr habt genug Geld. Warum musiziert Ihr nicht, und warum züchtet Ihr keine Pferde?

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