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war er beim Lernstoff, beim Brettspiel war er auf das Spiel konzentriert, und ansonsten dachte es in seinem Kopf ohne Pause. Die Gedanken jagten sich. Er dachte viel über die Dinge nach, die Bruder Alban ihm erzählte, über zukünftige Möglichkeiten, über den Klatsch auf dem Gut, und leider auch oft über die Vergangenheit. Seine Gedanken schweiften oft ab in die dunkle Zeit, in die Zeit, als sein Leben aus den Fugen geraten war. Seltsamerweise konnte Martin die Gefühle dazu einfach wegdenken. Er dachte drüber nach und sah die Erlebnisse, wie wenn er von oben zusah. Er sah sich seine Familie verlieren, er sah die vielen Jahre der Einsamkeit und des Leids, aber gottlob erreichten die Gedanken sein Herz nicht. Meistens nicht. Manchmal geschah es doch, und dann verkroch sich Martin irgendwo und weinte ein paar Minuten, bevor er einfach etwas anderes dachte und mit seiner hektischen Betriebsamkeit weitermachte. Wenn er sich nicht verkriechen konnte, dann zwang er sich auch, an etwas anderes zu denken oder den Schmerz einfach zu ignorieren. Das Eis um seine Seele schmolz langsam, und Martin flüchtete sich in seinen Kopf. Manchmal dachte er daran, auch Theriak oder viel Wein zu trinken, um Frieden zu haben, aber er hatte gesehen, was diese Getränke mit Heinrichs Vater und Onkel gemacht hatten. Das wollte er nicht.

      Martin erzählte Bruder Alban, dass er und Heinrich öfter zusammen sangen, und Alban sagte erst einmal nichts dazu. In der Stille seiner Studierstube prüfte er, ob es in Ordnung wäre, mit zwei Laien zu singen. Er las in der Benediktsregel nach, die half ihm aber auch nicht weiter. Dort war nur geregelt, wann wer was zu singen hatte. Benedikt war anscheinend davon ausgegangen, dass nur Mönche zusammen singen würden. Alban nahm Zuflucht zur Heiligen Schrift. Im Buch Hiob fand er den Hinweis, dass „die Morgensterne miteinander jubelten und alles Söhne Gottes jauchzten“. Alban wusste aus seinen gelehrten Schriften, dass mit den Morgensternen vermutlich die Engel gemeint waren. Aber Söhne Gottes? Vielleicht waren das die Menschen?

      Beziehungsweise Männer. Aufgrund der Paulinischen Regel war für Alban völlig klar, dass er unmöglich mit Frauen geistliche Lieder singen konnte. Er hielt nicht viel von Frauen. Durch sie war es zum Sündenfall gekommen, durch sie alleine war die Menschheit aus dem Paradies vertrieben worden. Alban brauchte in seinem Leben keine Frauen.

      "Der wesentliche Wert der Frau liegt in ihrer Gebärfähigkeit und in ihrem hauswirtschaftlichen Nutzen." Das hatte sein verehrter Thomas von Aquin geschrieben, und Alban war mit ihm ganz einer Meinung. Alban ging den Weibern aus dem Weg, wo er nur konnte, eingedenk der Worte des Heiligen Franz von Assisi: „Wer mit dem Weibe aber verkehrt, der ist der Befleckung seines Geistes so ausgesetzt wie jener, der durchs Feuer geht, der Versengung seiner Sohlen. "

      Er musste Frauen die Beichte abnehmen, ihnen die letzte Ölung geben, die Sterbesakramente spenden und sie verheiraten. Das war seine Aufgabe. Aber ansonsten machte er einen großen Bogen um Frauen und ließ sich nie von ihnen anfassen. Evas Sünde würde ihn nicht zugrunde richten. Er wusste, dass viele Mönche und Priester nicht keusch waren und sich Frauen nahmen, obwohl der Zölibat seit vielen Jahren verpflichtend war. Aber er, Alban, würde nicht sein Gelöbnis der Keuschheit brechen. Sicher wäre das sein Untergang. Hatte nicht schon der Heilige Hieronymus geschrieben: „Fliehet das Weib, es ist die Pforte des Teufels, die Straße des Lasters; nähert sich der Mann, so brennt er…" Nein, Alban würde nicht in die Falle tappen. Doch seine Frage, ob er mit Laien singen konnte, war dadurch aber immer noch nicht gelöst. In der Offenbarung stand, dass die Engel in einem gewaltigen Chor sangen. Die Engel. Da stand leider nichts von Mönchen und Laien. Alban dachte nach. Wenn er keine weltlichen Lieder sang, dann konnte Gott doch eigentlich nichts dagegen haben? Schließlich gab es in Klöstern auch Laienbrüder, die sangen? Entschlossen stand Alban auf, in seinem Herzen zog es: Er würde es versuchen.

      Und so kam es, dass er am Abend nervös in Heinrichs Kammer auftauchte. Heinrich und Martin spielten gerade Schach und sahen ihren späten Besucher verwundert an. Alban erklärte kurz, warum er da war und stieß auf helle Begeisterung. Martin packte das Schachspiel weg und Alban bemerkte, dass er sich gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er anfangen sollte. Also ließ er sich von seinen beiden neuen Singgenossen deren Lieder vortragen. Sie sangen ziemlich schön, allerdings brachten sie Alban in Gewissensnöte: Es waren keine geistlichen Lieder. Vielleicht musste er etwas von seiner Meinung abweichen? Vielleicht waren Lieder auch dann in Ordnung, wenn sie vom Alltag sangen? Alban wusste es nicht.

      Er erklärte Heinrich und Martin, wie man im Kloster sang zu den Stundengebeten Matutin, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplett. Er erläuterte das liturgische Gesangsbuch, das Antiphonale, in dem die vorgeschriebenen Lieder, wie zum Beispiel das Magnificat, das Benedictus und natürlich die marianischen Antiphonen zusammengefasst waren.

      Heinrich und Martin hörten schweigend zu. An Heinrichs Gesicht konnte Alban sehen, dass er nicht viel verstanden hatte. Nun gut. Alban seufzte. Er ließ seine theoretischen Ausführungen bleiben und beschloss, einfach anzufangen. Er wählte ein einfaches Lied aus. Früher waren Chorale immer einstimmig gewesen, aber seit einiger Zeit wurden sie mehrstimmig, was Alban sehr gefiel. Er sang das Lied und brachte Martin und Heinrich die anderen Stimmen bei. Sie sangen. Bald variierte Heinrich seine Stimme und wieder wusste Alban nicht, was er davon halten sollte. Aber nachdem es schön klang und Heinrich der Gutsherr war, ließ er ihn gewähren.

      An diesem Abend gingen drei Männer auf Rabenegg sehr glücklich ins Bett. Heinrich hatte das getan, was er schon immer hatte tun wollen: mit mehreren Leuten musizieren. Alban war froh, nicht mehr alleine die Heiligen Lieder zu singen. Und Martin? Martin hatte gar nicht gewusst, dass etwas so schön sein konnte. Noch nie hatte er Mönche singen hören, und dieser mehrstimmige Choral hatte geklungen wie Engelsmusik. Alban war sein Lehrer im Lesen, Schreiben, Rechnen, Denken, und nun auch beim Singen.

      Martin spürte ein seltsames Gefühl und dachte darüber nach, ob es vielleicht Glück sein könnte. Er spürte hin, aber das Gefühl war fast zu stark für seine noch nicht komplett aufgetaute Seele. Er konnte es immer nur ein paar Sekunden aushalten, dann kehrte er zu seinen Gedanken im Kopf zurück. Immer wieder wagte er es und spürte hin zum Glück. Er traute dem Frieden nicht so recht, aber Glück fühlte sich schön an. Fühlen war neu und seltsam, und überwältigend. Martin beschloss, von nun an jeden Tag etwas zu finden, das schön war, und ganz bewusst das Glück oder die Schönheit zu spüren und zu beachten, und wenn es nur kurze Augenblicke waren. Er würde danach suchen und die Schönheit finden.

      Bruder Alban hatte ihm gezeigt, wie man Schrift von Pergament mit einer scharfen Klinge abschaben und das Pergament neu beschreiben konnte. Vielleicht, so dachte er sich, könnte er seine Seele auch neu beschreiben? Oder besser: überschreiben? Es gab so viel Grauen, so viele schlimme Erinnerungen auf Heinrichs Gut. Und doch, so bemerkte Martin jetzt, es gab hier auch viel Glück und Schönheit. Mit Heinrich in Ruhe Brettspiele spielen, mit Alban und Heinrich singen, einen Text lesen oder schreiben, das alles war schön. Draußen die Winterlandschaft war schön, man musste nur hinschauen.

      Vielleicht war es wirklich möglich, das Grauen in seiner Seele zu überschreiben? Martin beschloss, es zu versuchen. Er konnte das Glück immer nur ein paar Sekunden aushalten, aber stete Übung würde auch hier den Meister machen, genau wie bei den Brettspielen und dem Studieren.

      Von da an trafen sich die drei Männer jeden Abend. Bruder Alban brachte ihnen auch die anderen Lieder bei, und im Gegenzug erklärte er sich bereit, auch zu den Laienliedern den Bass zu singen. Alban hatte eine tiefe und klare Stimme, die ganz wunderbar zu den Liedern kontrastierte. Er begann, auch die Harfe mitzubringen und die Lieder damit zu begleiten.

      Die Tage vergingen, der Februar ging in den März über. Draußen blühten die Haselsträucher, die ersten Krokusse kamen, der Schnee schmolz langsam weg. Heinrich konnte mittlerweile ohne Stock herumlaufen. Seine Tage waren schön. Vormittags kam der Verwalter und erklärte ihm die anfallende Arbeit. Mittlerweile konnte Heinrich auch mit ihm die Runde auf dem Gut machen und sich die Dinge anschauen. Er verstand immer mehr. Zum ersten Mal sah er auch, was sein Gesinde leistete, wieviel Arbeit zu tun war. Er sah aber auch, dass die Leute Angst vor ihm hatten. Sie nahmen immer ihre Mützen und Kappen ab, wenn er kam, und schauten auf den Boden. Heinrich bemerkte, dass ihn das langsam störte. Vielleicht würden sich die Leute mit der Zeit entspannen, wenn sie ihn regelmäßig sahen und er ihnen nichts tat.

      Jeden Tag nach dem Mittagessen kam Martin. Sie spielten Brettspiele und sprachen

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