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hier ganz selten mal schneit, hat deinen Vater nicht auf die strengen amerikanischen Winter vorbereitet«, erzählt sie ihr. In Greenville, Illinois, hatte Abds deutsche Vermieterin, Frau Schneider, ihm Kleidungsstücke ihres verstorbenen Mannes gegeben, der über 1 Meter 95 groß gewesen war. Fadhma liest: »›Ich kann bei meiner Nachtschicht in der städtischen Cafeteria so viele Erdnussbutter-Marmelade-Sandwiches essen, wie ich will, größer werde ich davon nie.‹ Später fand er dann eine Anstellung in einer extrem schmutzigen Küche«, sagt sie und zieht beim nächsten Brief eine Grimasse. »›Ich habe zehn Tage alte Schweinekoteletts weggeschmissen – acht Säcke stinkender Abfall!‹ Aber dein Vater hat damals geschrieben, dass der Job auch seine Vorteile hatte. Die Besitzerin konnte anscheinend besser nähen als kochen und kürzte die Kleidung deines Vaters, damit sie ihm besser passte.« Als Abd dann eine Stelle als Krankenpfleger in einem Spital bekam, bezahlte er seine Vermieterin für ihre Näharbeit und schickte so viel Geld er konnte nach Hause an die Familie.

      Er hatte auch von einem recht schockierenden Ereignis geschrieben. Eines Abends war er nach der Arbeit in eine Bar gegangen. Vor Aufregung spricht Mutter Fadhma lauter. Noch jetzt weiten sich ihre Augen vor dem Schrecken von damals. Sie kann sich noch immer nicht ganz vorstellen, was für Höhlen des Frevels amerikanische Bars sein müssen – laufen die Frauen dort nackt herum? Werden deshalb all die jungen arabischen Männer verführt und vergessen schließlich ihre Familien und bleiben im Ausland? Um ihres Gastes willen verdrängt sie ihre Ängste und sagt aufgeräumt: »Als dein Vater sich ein Bier bestellt hatte, erschien ihm dein Großvater: ›So wirklich wie die Flasche in meiner Hand‹, und Al Dschid sagte immer wieder nur: ›Ich habe dich also den ganzen langen Weg nach Amerika geschickt, damit du Alkohol trinkst?‹«

      Mutter Fadhma fühlt sich, als hielte sie eine wertvolle Zeit in ihrer aller Leben in den Händen, und lächelt Muna dankbar an, weil die sie darüber sprechen lässt. »Du glaubst gar nicht, was für eine Aufregung diese Briefe anfangs auslösten, wenn sie ankamen.«

      Samira, die die ganze Zeit über still zugeschaut und zugehört hat, wirft ein: »Wann immer ein Flugzeug vorbeiflog, haben wir Kinder nach oben gezeigt und ›Abd! Abd!‹ gerufen.«

      »Und sie sind dann einer nach dem anderen«, fragt Muna, »alle von zu Hause weg?«

      »Genau«, bestätigt Fadhma. Warum so tun, als ob? Anfangs empfand sie die Kinder ihres Ehemanns, sowohl zu Hause als auch im Ausland, als ebenbürtige Hälften desselben Ganzen. Doch irgendwann stimmte das nicht mehr. Abgesehen von den Briefen und dem Geld, das sie nach Hause schickten, verschwanden sie. Als ihre eigenen Kinder alt genug zum Reisen waren, verstand Fadhma, dass sie sie für immer verlor.

      Sie seufzt. »Sie haben dort ein besseres Leben.« Sie sagt nicht, dass sie sich damals noch immer an den unbegründeten Glauben klammerte, dass Abd, der Sohn, dem es bestimmt war, sich um sie zu kümmern, sie und Al Dschid nicht endgültig verlassen würde. Sie empfand das weiterhin so, selbst als die finanziellen Zuwendungen ihres Stiefsohnes seltener wurden und sich der Ton seiner Briefe deutlich änderte.

      Anstatt über kleinste Details seines Alltagslebens zu berichten, um seine Eltern so an seinem Leben teilhaben zu lassen, wurde er immer verschlossener. Er sei stark mit dem Lernen für seinen Collegeabschluss in Chemie beschäftigt und habe wenig, worüber er schreiben könne. Die Neuigkeiten aus seinem Privatleben klangen verdächtig. Er hatte sich mit einer Studentin angefreundet, auch Immigrantin, eine junge Frau von den Philippinen. Dann, ohne weitere Warnung, heirateten die beiden.

      Für die Familie war es ein harter Schlag. Bei den Sabasens heiratete niemand einen Fremden. Abd hatte nicht nur außerhalb seines Stammes geheiratet, sondern auch außerhalb seiner Kultur. Und wer konnte schon sagen, was für Folgen so ein waghalsiges Verhalten haben würde? Fadhma befürchtete das Schlimmste, doch Al Dschid nahm die Nachricht besonders schlecht auf. Er hatte das Leben seines Sohnes bereits geplant. Er hatte ein passendes Mädchen als Abds Ehefrau ausgesucht und sogar schon die ersten Aufwartungen gemacht. Das junge Paar wäre wohl irgendwann in der Golfregion gelandet, wo sein Sohn als Chemiker gearbeitet hätte, um die anderen Geschwister zu unterstützen. Als das nun nicht mehr möglich war, akzeptierte Al Dschid schließlich das Unabänderliche und sendete seinen Segen … auch wenn ihn niemand darum gebeten hatte.

      Die unverfrorene Unabhängigkeit ihres Zweitältesten demütigte die Eltern, und es sollte noch schlimmer kommen. Ein weiterer Brief in Fadhmas Schachtel, der viele Male auseinander- und wieder zusammengefaltet und zuunterst hineingelegt worden war – niemals erwähnt, aber niemals vergessen –, war auf Englisch. Er war nach Abds Vermählung angekommen. Doch weil es im Dorf niemanden gab, der Englisch sprach, blieb er ungelesen, bis Al Dschid eines Tages wegen Geschäften in die Hauptstadt musste. Am Abend kehrte er ziemlich bedrückt nach Hause zurück. Mutter Fadhma dachte, es läge am schlechten Gerstenpreis, doch als sie nachfragte, zog er den Brief mit einer Übersetzung ins Arabische aus der Tasche. Mit ausdrucksloser Stimme las er vor: »›Ihr schreibt immer nur, dass Ihr mehr Geld wollt. Wie könnt Ihr Schweine es wagen, uns immer weiter zu nerven! Ich bin schwanger, und Euer Sohn will, dass ich Euch das bisschen Geld gebe, das meine Familie mir schickt. Fahrt zur Hölle.‹«

      Nicht einmal diese Nachricht schaffte es, Mutter Fadhmas Vertrauen in Abd endgültig zu erschüttern. Erst ein paar Jahre später, als ein Schnappschuss mit der Post kam, wurden ihre Hoffnungen ganz zerschlagen. Auf dem Foto war ein kleines Mädchen in Baströckchen und hawaiianischem Top zu sehen, eine orangefarbene Blumenkette um den Hals. Sie hatte die Hände zu einer Seite und einen nackten Fuß nach vorne ausgestreckt. Muna, dreieinhalb Jahre alt, beim Hula-Tanzen. Der beiliegende Brief war einfach und direkt. Fadhma sagt ihn auf, als wäre er gestern angekommen: »›Meine liebe Familie, ich schreibe Euch aus meinem Labor, der einzige Ort, an dem ich zur Ruhe komme. Ich habe eine gute Stelle bei einer großen Plastikfirma. Meiner Frau und meiner Tochter geht es gut. Wie Ihr sehen könnt, sieht das Mädchen nicht arabisch aus. Das ist das Problem bei einer Mischehe. Weder sie noch ihre Mutter würden in Jordanien akzeptiert werden, und wir würden dort ein unglückliches Leben führen. Ich denke also, dass es für uns am besten ist hierzubleiben. Gott schütze Euch.‹«

      Schweigend reicht Fadhma Muna das Bild, das sie als kleines Mädchen zeigt. »Daran erinnere ich mich gar nicht«, sagt ihre Enkeltochter und grinst verlegen. Nachdem sie das Bild lange und eingehend betrachtet hat, gibt sie es an Samira weiter und fragt Fadhma: »Dschadda, warum hast du deinen Kindern eigentlich muslimische Namen gegeben?«

      Wieder sieht die alte Großmutter das Mädchen in neuem Licht. Blöd ist sie zumindest nicht. Fadhma lächelt stolz. »Das war die Idee deines Großvaters.«

      In der Hoffnung, dass Munas Interesse an Familiengeschichte größer ist als Samiras oder Lailas, setzt sie langsam an. »Vor Hunderten von Jahren führten Christen, die Sabas verehrten, den Schutzheiligen unserer Familie, Krieg gegen die heidnischen Götter der Wüste. Nach diesen Gefechten ließen sie sich in einer Kreuzritterfestung im Süden des Landes nieder und wären auch dort geblieben, wenn es nicht zu einer Auseinandersetzung um eine Frau gekommen wäre –«

      »Es geht immer um eine Frau«, unterbricht Samira und lacht. »Jemand guckt jemanden an. Der Vater von jemandem regt sich auf. Die Brüder von So-und-so mischen sich ein, und dann geschieht eigentlich immer ein Mord.«

      Fadhma geht bewusst nicht auf den Kommentar ihrer Tochter ein und fährt fort: »Es hätte einen Konfessionskrieg gegeben, doch die Kirchenobersten in Jerusalem richteten eine Petition an den türkischen Gouverneur der Region, und so durften die Christen hier in die Berge kommen« – Fadhma wirbelt einen Finger durch die Luft – »und sich in den Ruinen einer verlassenen byzantinischen Stadt niederlassen, die sieben Mal von Erdbeben zerstört worden war. Als die Stämme ankamen, suchten sie Schutz in einer Höhle bei einer Quelle, von der sie glaubten, sie sei Gottes Geschenk an sie. Sie gehörte aber schon jemand anderem. Ungewollt tauschten unsere Vorfahren also einen Kampf gegen einen anderen, und in einer Schlacht fiel dein Urgroßvater. Für die Familie war das ein schwerer Schlag. Doch im jungen Alter von zehn Jahren schwor Al Dschid feierlich, den Tod seines Vaters nicht zu rächen, was bemerkenswert war, wenn man den Ehrenkodex der Stämme bedenkt. Als er dann heiratete und selbst Kinder bekam, gab er ihnen keine christlichen Namen, sondern welche, die entweder muslimisch waren oder als neutral galten. So konnten sie unbehelligt

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