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Mutter aller Schweine. Malu Halasa
Читать онлайн.Название Mutter aller Schweine
Год выпуска 0
isbn 9783906903866
Автор произведения Malu Halasa
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Frau Habasch lehnt sein Angebot ab. »Ich habe mir gedacht, dass Issa vielleicht gern ein Huhn zu Mittag hätte. Sie haben nicht zufällig noch eines hinten?«
Seit Frau Habasch einmal hat fallen lassen, dass sie nicht gerne auf den Markt gehe, hält Hussein in einem kleinen Hühnerstall im Hinterhof etwas Geflügel. Auf dem Markt wie eine Bäuerin zu feilschen, empfindet sie als unter ihrer Würde. Sie kommt lieber zu Hussein und zahlt für das Privileg. Er ruft: »Khaled, dschadsche!«, und der Junge erscheint mit einem dicken gesprenkelten Huhn im Arm.
Hussein ist überrascht. Ebendieses Huhn hat Khaled besonders gern. Es ist das beste der Schar, der Junge bevorzugt es und gibt ihm zusätzliches Futter. Doch vor Frau Habasch kann Hussein nichts sagen, und so nimmt er das dralle Huhn und dreht es für sie hin und her. Sie nickt zustimmend. Hussein gibt Khaled den Vogel zurück und sagt ihm, er solle ihn vorbereiten. Er mahnt den Jungen zur Eile – »Asra!« –, mehr sich selbst als der Kundin zuliebe, die er als aufdringlich empfindet. Wahrscheinlich bestellt sie nur Huhn, damit durch das Rupfen Zeit zum Tratschen bleibt.
»Wie geht’s der Familie?« Sie inspiziert das Fleisch auf der Theke. »Ich habe gehört, Ihre Nichte ist zu Besuch. Ich hoffe, sie ist nicht wie diese arabischen Hip-Hopper.«
»Ganz und gar nicht. Muna ist eine wohlgesittete junge Frau«, erwidert Hussein, obwohl er sich da anhand seiner spärlichen Erinnerung an gestern Abend nicht sicher sein kann.
»Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. Ich könnte ihr gerne am Sonntag nach dem Gottesdienst die Mosaike zeigen.«
»Das würde ihr sicherlich große Freude bereiten.« Er weiß schon, was als Nächstes kommt.
»Hätten Sie vielleicht Lust, uns zu begleiten?«
Hussein hat schon vor langer Zeit jedwede religiöse Überzeugung aufgegeben. Seine Lebenserfahrungen haben es ihm unmöglich gemacht, weiter zu glauben. Trotzdem ging er früher noch der Form halber in die Kirche. Als sein Trinken, seine Enttäuschung und seine Scham zunahmen, ging er immer seltener. Das waren seine Gründe. Heute besteht seine Frau darauf, den Kindern zuliebe zu gehen, auch wenn es schwierig geworden ist. Manchmal glotzen und flüstern die Leute.
Eine so wichtige Kundin wie Frau Habasch will Hussein nicht verprellen. Normalerweise macht er ihr Komplimente zu ihrem guten Geschmack und stimmt ihr selbst dann zu, wenn er ihre Meinungen für unklug hält. Sein Onkel hat ihm das irrsinnigerweise als solides kaufmännisches Verhalten empfohlen.
Hussein entscheidet sich für Ausflüchte: »Frau Habasch, sonntags habe ich immer am meisten zu tun.« Die Autos, die am Wochenende die Hauptstraße blockieren, lassen sich kaum übersehen. »All meine Kunden sind ohnehin Christen. Und wann immer ich kann, nehme ich mir einen Augenblick allein, um zu …« Er schafft es nicht, unverhohlen zu lügen, und verschluckt das Wort »beten«.
»Das ist alles gut und schön«, seufzt sie, »aber Kommerz ersetzt keinen Gottesdienst. Religion ist der Anker unseres Lebens.«
Jetzt erinnert sie ihn gleich daran, dass ihre Stadt in der Bibel erwähnt wird. Die byzantinischen Ruinen, in denen sich ihre Familien niederließen, waren einst eine antike moabitische Stadt, in der Musa wandelte und Jesaja Prophezeiungen sprach. Ganz wie der Slogan auf den Reisebussen, Besuchen Sie das Land der Propheten. Sein Vater hätte ihr voll und ganz zugestimmt.
Hussein hebt die Hände und gesteht müde ein: »Dagegen lässt sich nichts sagen!«
Frau Habasch übergeht ihn und redet weiter: »Erst heute Morgen meine ich zu Issa, selbst eine Frau in meinen fortgeschrittenen Jahren spürt den Druck, sobald man in die Nähe des Ostviertels kommt. Merken Sie sich meine Worte, in einem Jahr müssen wir Frauen hier alle Hidschab tragen!«
Hussein weiß, welche Reaktion sie von ihm erwartet, aber seine Kunden aus dem Ostviertel sind durchweg anständig zu ihm. Sein Wagen wurde vielleicht vor der Moschee attackiert, aber er kann sich nicht dazu durchringen, pauschal gegen eine ganze Religion und sämtliche ihrer Anhänger zu wettern. Seine achtzehn Jahre in der Armee haben ihn gelehrt, gegenüber kollektivem Glaubenseifer äußerst wachsam zu sein, und selbst seine zwei Jahre Spezialauftrag haben ihn davon nicht abgebracht.
Er ruft sich ins Gedächtnis, dass Heuchelei nicht die exklusive Domäne der Verwöhnten und Behüteten ist, die sich kaum je über Familie und Heim hinauswagen. Scheinheiligkeit hat er auch bei befehlshabenden Offizieren und der Geheimpolizei erlebt, bei Männern, die sehr viel weniger rechtschaffen waren als Frau Habasch. Dennoch beunruhigt ihn ihre Haltung. Als noch wenige syrische Flüchtlinge ins Land kamen und sie in Jordanien bei Verwandten oder mitfühlenden Freunden unterkamen, sprach Frau Habasch davon, wie wichtig Solidarität sei, und initiierte ein paar halbherzige Spendensammlungen. Die Obdachlosen und Beraubten, die durch die Stadt zogen, waren nicht mehr als eine ärgerliche Störung, eher zu bedauern, als zu befürchten. Als dann Hunderttausende über die Grenze flohen und sich das Ostviertel mit Flüchtlingen und anderen Migranten füllte, veränderte sich allmählich die Demografie der kleinen Stadt, und die Christen, historisch in der Mehrheit, wurden zahlenmäßig übertroffen. Diejenigen, die am meisten zu verlieren hatten – Leute wie Frau Habasch –, reagierten, indem sie ihre Mauern aufstockten und ihre Tore und ihren Geist verschlossen.
»Laila hat gar keinen Ärger erwähnt«, räumt er langsam ein.
»Wird sie noch«, stimmt die Frau des Bürgermeisters wieder an und beschwert sich gleich: »Ich weiß einfach nicht, wann unser Land wieder normal wird und unsere Stadt wieder uns gehört.«
Frau Habaschs Gedächtnis erscheint Hussein höchst selektiv. Die Stadt hat ihnen nie gehört. Als ihre Großväter, Onkel und Väter – damals kleine Jungen – sich hier niederließen, umkämpften sie gemeinsam eine Wasserstelle gegen lokale Nomaden. Man muss nur ein paar Generationen zurückgehen, und immer flieht irgendwo irgendjemand oder sucht Zuflucht bei Fremden. Die gesamte Region blickt auf eine lange Geschichte der Vertreibung zurück. Die Syrer sind nicht die ersten Flüchtlinge, und sie werden auch nicht die letzten sein.
Um Frau Habasch abzulenken, merkt er schlaff an: »Ich verkaufe jetzt immer so viel Ziegenfleisch …«
»Die brauchen wohl billiges Fleisch für die ganzen Kinder«, sagt sie. »Da sehen Sie, warum die kein Geld haben.«
Plötzlich fühlt Hussein sich ausgelaugt. Der Morgen hat ihn bereits stark strapaziert. Zu viele Grenzen bestehen zwischen denen mit und denen ohne Geld. Sich selbst verortet er als irgendwo in der Mitte strauchelnd, wo er möglichst viel für seine Familie zu ergattern versucht, doch die meiste Zeit kommt er sich dabei wie ein Versager vor. Müdigkeit übermannt sein besseres Wissen. »Frau Habasch, wir alle mögen doch viele Kinder, ganz unabhängig von der Religion, oder?«
Die Frau des Bürgermeisters hat keinen Nachwuchs – die einzige Schwäche in ihrer sozialen Rüstung. Hussein ist es egal, dass er jetzt waghalsig ist. Noch unter Flüchtlingen stehen kinderlose Ehefrauen. Ihnen mangelt es an einer Bestimmung, darin sind sich alle einig. Ob christlich, muslimisch oder jüdisch, diese Frauen haben ihre Familie und ihren Gott im Stich gelassen.
Augenblicklich verhärtet sich Frau Habaschs Haltung, und sie zielt auf Husseins verwundbarsten Punkt: »Und, wie läuft das Geschäft?«
Bevor er antworten kann, erscheint Khaled hinter der Theke, voller Hühnerfedern. Stolz hält er ein frisch gerupftes Huhn in die Höhe.