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wäre. Um die maßlos hohe Stirn hing dichtes flachgestrichenes rabenschwarzes Haar.

      »Wollen Sie näher kommen oder nicht?« herrschte ihn der Mann nach einer Weile ungeduldig an.

      Unsicheren Schrittes ging Julian näher an ihn heran. Es war ihm, als solle er umfallen. In seinem ganzen Leben war er nicht so blaß gewesen. Drei Schritte vor dem rohen Holztische, auf dem die Papiere lagen, blieb er stehen.

      »Näher heran!« gebot der Mann.

      Julian trat dicht heran und streckte unwillkürlich eine Hand vor, wie um sich auf etwas stützen zu wollen.

      »Sie heißen?«

      »Julian Sorel.«

      »Sie treffen recht spät ein«, brummte der Mann und sah ihn abermals mit einem bösen Blick an.

      Den konnte Julian nicht ertragen. Er streckte von neuem die Hand aus, als ob er sich an irgend etwas festhalten wolle, und fiel der Länge nach auf den Fußboden.

      Der Mann klingelte. Julian hatte das Sehvermögen und die Bewegungskräfte verloren. Aber er hörte, wie jemand kam.

      Man hob ihn auf und setzte ihn in den hölzernen Lehnstuhl. Dabei hörte er, wie der schreckliche Mann zu der andern Person sagte: »Er hat offenbar die Fallsucht. So einen können wir gerade gebrauchen!«

      Als Julian seine Augen zu öffnen imstande war, saß der Mann mit dem roten Gesichte wieder beim Schreiben. Der Pförtner war verschwunden. »Ich muß mich zusammenraffen«, nahm sich Julian vor, »und mir vor allem nicht anmerken lassen, was in mir vorgeht!« Es war ihm hundeelend zumute. »Wenn mir etwas zustößt: was wird man von mir denken?«

      Endlich hörte der Mann auf zu schreiben und sah Julian von der Seite an.

      »Sind Sie so weit, daß Sie mir antworten können?« fragte er.

      »Jawohl, Herr…«, erwiderte Julian mit schwacher Stimme.

      »Na, das ist ja schön!«

      Der Schwarzröckige hatte sich halb erhoben und wühlte ungeduldig im Schubfache seines Tannenholztisches, das knarrend aufging. Er suchte nach einem Briefe. Als er ihn gefunden, setzte er sich langsam wieder hin und warf Julian nochmals einen Blick zu, der ihm das bißchen Leben, das er noch im Leibe hatte, beinahe nahm.

      »Sie sind mir vom Pfarrer Chélan empfohlen«, brummte er. »Ein Mustermensch ohnegleichen, dieser Chélan, seit dreißig Jahren mein Freund.«

      »So habe ich die Ehre, mit Herrn Abbé Pirard zu sprechen«, lispelte Julian, kaum imstande zu reden.

      »Allerdings«, erwiderte der Seminardirektor mit ärgerlicher Miene. Seine kleinen Augen blitzten noch mehr denn erst, wobei ihm unwillkürlich die Muskeln um die Mundwinkel zuckten. Julian hatte die Empfindung, vor einem Raubtier zu stehen, das im Vorgefühl des Genusses schwelgt, eine Beute zu verschlingen.

      »Der Brief des Pfarrers Chélan ist kurz«, fuhr er wie im Selbstgespräch fort. » Intelligenti pauca! Heutzutage kann man sich nie kurz genug fassen.«

      Sodann las er laut vor:

      »Lieber Pirard,

      ich schicke Ihnen Julian Sorel aus unsrer Gemeinde. Ich habe ihn vor nun bald zwanzig Jahren getauft. Er ist der Sohn eines wohlhabenden Schneidemüllers, aber sein Vater gibt ihm kein Geld. Julian wird einmal ein tüchtiger Arbeiter im Weinberge des Herrn werden. An Gedächtnis und Auffassungsgabe fehlt es ihm nicht. Er versteht zu denken. Ob sein Drang zum geistlichen Stande ausdauert? Ist er aufrichtig?«

      Hier unterbrach sich Pirard: »Aufrichtig?« wiederholte er im Tone der Befremdnis und sah Julian scharf an. Aber schon war sein Blick menschenfreundlicher.

      »Aufrichtig?« brummte er nochmals. Dann las er weiter:

      »Ich bitte Sie um eine Freistelle für Julian Sorel. Er wird sich ihrer würdig erweisen, indem er die vorgeschriebenen Examina besteht. Ich habe ihm etwas Theologie beigebracht, etwas von der guten alten Gottesgelahrtheit von Bossuet, Arnault und Fleury. Wenn er Ihnen nicht zusagt, so schicken Sie mir ihn zurück. Der Vorstand des hiesigen Armenhauses, den Sie ja kennen, bietet ihm eine Hauslehrerstelle mit achthundert Franken im Jahre.

      Meine Seele hat ihren Frieden. Gottlob, ich überwinde den schweren Schlag nach und nach.

      Vale et ama me!

      Ihr Chélan.«

      Gegen das Ende des Briefes las der Abbé Pirard immer langsamer. Den Namen seines Freundes sprach er mit einem Seufzer aus.

      »Er hat seinen Frieden!« murmelte er vor sich hin. »Wahrlich, seine Tugend verdient diese Gnade. Wolle Gott mir das gleiche bescheren, wenn es mit mir so weit ist!« Er blickte gen Himmel und bekreuzigte sich.

      Beim Anblick dieser frommen Gebärde wich das tiefe Grauen, das ihn seit dem Eintritt in dieses Haus gelähmt hatte, allmählich von Julian.

      »Ich habe hier dreihunderteinundzwanzig Anwärter für den heiligen Stand«, sagte der Abbé Pirard nach einer kleinen Weile in strengem, doch nicht bösartigem Tone. »Davon sind mir sieben oder acht von ähnlichen Männern wie dem Pfarrer Chélan empfohlen. Somit sind Sie der neunte unter den dreihunderteinundzwanzig. Meine Protektion besteht nun aber nicht in Begünstigung und Nachsicht, sondern in doppelter Achtgabe auf Sie und in doppelter Strenge gegen die Sünde … Schließen Sie die Tür da!«

      Julian strengte sich an, zur Tür zu gehen. Es gelang ihm, ohne hinzusinken. Dabei bemerkte er, daß ein kleines Fenster neben der Tür hinaus ins Freie ging. Er sah Baumwipfel. Dieser Anblick tat ihm wohl, als grüßten ihn alte Freunde.

      » Loquerisne linguam latinam? (zu deutsch: Sprichst du Lateinisch?)« fragte der Abbé, als Julian wieder vor ihm stand.

      » Ita, pater optime! (Jawohl, ehrwürdiger Vater!)« antwortete Julian, nunmehr einigermaßen erholt. Noch nie in seinem Leben war ihm ein Mensch weniger ehrwürdig vorgekommen als der, vor dem er sich seit einer halben Stunde befand.

      Die Unterhaltung setzte sich auf lateinisch fort. Die Augen des Direktors blickten Julian sichtlich sanfter an. Mehr und mehr gewann er seine Selbstbeherrschung wieder. »Ich bin doch gar kein Held«, sagte er sich, »wenn ich mich durch diesen Scheinheiligen ins Bockshorn jagen lasse! Er wird ganz genauso ein Spitzbub sein wie in Verrières der Abbé Maslon.« Jetzt freute sich Julian, daß er den größern Teil seiner Barschaft in seinen Stiefeln versteckt trug.

      Pirard stellte mit ihm eine kurze theologische Prüfung an, wobei ihn Julians umfangreiche Kenntnisse überraschten. Seine Verwunderung steigerte sich, als er ihn über die Heilige Schrift befragte. Als er aber auf die Kirchenväter und ihre Dogmen zu sprechen kam, stellte er fest, daß Julian den heiligen Hieronymus, den heiligen Augustin, den heiligen Basilius und den heiligen Bonaventura kaum dem Namen nach kannte.

      »Ja, ja«, dachte Pirard bei sich, »da haben wir wieder die verhängnisvolle Neigung zum Protestantismus, die ich Chélan immer vorgeworfen habe: eine gründliche, viel zu gründliche Kenntnis der Bibel!« Julian hatte nämlich, ohne danach gefragt zu sein, von der wissenschaftlichen Entstehungsgeschichte der Genesis, des Pentateuch usw. gesprochen. »Wohin führt dies ewige Deuteln an der Heiligen Schrift?« dachte Pirard weiter. »Zu nichts denn zum Selbstkult, zum ärgsten Protestantismus! Wenn diesem bedenklichen Wissen wenigstens kirchengeschichtliche und dogmatische Kenntnisse die Waagschale hielten!«

      Den Höhepunkt aber erreichte des Direktors Erstaunen, als er Julian über die Autorität des Papstes examinierte. Er erwartete die Grundlehren der gallikanischen Kirche zu Gehör zu bekommen. Statt dessen sagte ihm der Prüfling das halbe Papstbuch von de Maistre her.

      »Ein sonderbarer Kauz, dieser Chélan!« sagte sich der Abbé im stillen. »Hat er ihm dieses Buch in die Hände gegeben, um ihn zum Spötter hierüber zu machen?«

      Die Fragen, die er stellte, um herauszubekommen, ob Julian wirklich an die Doktrin de Maistres glaubte, blieben erfolglos. Was der junge Mann gesagt, war offenbar nur gedächtnismäßig gewesen.

      Julian war inzwischen wieder in den Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte gelangt. Er fühlte, daß er wieder Herr seiner selbst war. Als die langwierige Prüfung ihr Ende fand, hatte er den Eindruck,

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