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hätte er den Neuling im Namen der Logik an sein Herz gedrückt. Die Klarheit und Knappheit seiner Antworten hatten ihn entzückt.

      »Ein gesunder und kühner Geist!« dachte er bei sich. »Allerdings: Corpus debile, (Leiblich schwach.)«

      »Fallen Sie öfters so hin?« fragte er auf französisch und wies mit der Hand nach der Diele.

      »Es war das erstemal in meinem Leben«, entgegnete Julian. »Ich war über das Gesicht des Pförtners so erschrocken.«

      Der Abbé Pirard lächelte unmerklich.

      »Aha! Die Suggestion des weltlichen Getues!« meinte er. »Sie sind an lachende Gesichter gewöhnt. Aber das sind Masken der Lüge. Die Wahrheit ist ernst, mein Lieber. Und ist unser Beruf hienieden nicht auch ernst? Sie müssen sich bemühen, jener Schwäche Herr zu werden. Sie sind zu empfänglich für das eitle Äußerliche!«

      Im weiteren ging er mit sichtlichem Vergnügen abermals zu lateinischer Rede über. »Wenn Sie mir nicht durch einen Mann von der Art des Pfarrers Chélan empfohlen wären, würde ich mit Ihnen in der Sprache der profanen Menschheit sprechen, an die Sie allzusehr gewöhnt sind. Eine volle Freistelle im Seminar, die Sie haben möchten, wird nur höchst selten gewährt. Aber der Pfarrer Chélan, ein Mann, der sechsundfünfzig Jahre apostolischer Arbeit gewidmet hat, verfügt selbstverständlich über eine volle Freistelle.«

      Sodann warnte der Abbé Pirard den nunmehrigen Seminaristen, ohne seine Genehmigung in eine Kongregation oder sonst welche geheime Gesellschaft einzutreten.

      »Ich gebe Euer Hochehrwürden mein Ehrenwort«, versicherte Julian, in der Offenherzigkeit des Ehrenmannes.

      Der Seminardirektor lächelte zum ersten Male deutlich.

      »Ihr Ehrenwort? Das gibt es hier nicht«, sagte er. »Das ist etwas allzu Weltliches. Die selbstgefällige Ehre der Weltkinder führt zu so vielen Sünden und oft gar zu Verbrechen. Sie schulden mir Gehorsam nach Punkt 17 der päpstlichen Bulle Unam ecdesiam Seiner Heiligkeit Pius des Fünften. Ich bin Ihr geistlicher Vorgesetzter. In diesem Haus, mein Heber Sohn, ist Befehl und Gehorsam eins … Wieviel Geld besitzen Sie übrigens?«

      »Aha!« dachte Julian. »Hab ich’s nicht gleich gesagt!« Laut erwiderte er: »Fünfunddreißig Franken, Euer Hochehrwürden!«

      »Führen Sie genau Buch über Ihr Geld!« mahnte der Abbé. »Das ist Ihre Pflicht.«

      Dieses hochnotpeinliche Verhör hatte insgesamt drei Stunden gedauert. Julian mußte schließlich den Pförtner holen.

      »Führen Sie Julian Sorel nach Zelle 103!« befahl der Direktor dem Manne. Es war eine besondere Auszeichnung, eine Stube für sich allein zu bekommen. »Bringen Sie ihm auch seinen Koffer!«

      Julian blickte verlegen zu Boden, just auf seinen kleinen Rucksack, der dort lag. In den eben vergangenen drei Stunden hatte er ihn gänzlich vergessen. Er war ihm etwas Fremdes geworden.

      Als er in Nummer 103 ankam, einem Stübchen im obersten Stocke von kaum drei Meter im Geviert, bemerkte er, daß das Fenster nach dem Wall hinausging. Darüber hinweg blickte er in die lachende Ebene zwischen der Stadt und dem Doubs.

      »Welch wunderschöne Aussicht!« rief Julian aus, doch ohne eigentlich zu empfinden, was er in diese Worte faßte. Die starken Eindrücke, die ihm in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Besançon zuteil geworden, hatten seine Kräfte erschöpft. Er setzte sich ans Fenster auf den einzigen Holzstuhl, der in der Zelle stand, und schlief alsbald fest ein.

      Es läutete zum Abendessen. Dann zum Salus. Julian hörte es nicht. Niemand holte ihn.

      Andern Tags, als ihn der erste Morgensonnenstrahl weckte, merkte er, daß er auf dem Fußboden lag.

      26. Kapitel

      Julian bürstete rasch seinen Rock ab und eilte hinunter. Er kam zu spät. Der Aufsichthabende fuhr ihn grob an. Anstatt sich zu entschuldigen, kreuzte Julian die Arme über der Brust und sagte in reuigem Tone: » Peccavi, pater optime!«

      Sein derartiges erstes Auftreten machte großen Eindruck. Die Gescheiteren unter den Seminaristen merkten, daß sie es mit keinem Anfänger zu tun hatten. In der Erholungspause bildete Julian den Mittelpunkt der allgemeinen Neugier, aber er antwortete mit Zurückhaltung und Schweigen. Nach den Grundsätzen, die er sich aufgestellt hatte, betrachtete er seine dreihunderteinundzwanzig Kameraden als Feinde. Den allergefährlichsten aber sah er im Abbé Pirard.

      Nach einigen Tagen mußte Julian seinen Beichtvater wählen. Man legte ihm eine Liste vor.

      »Du mein Gott«, seufzte er, »für was hält man mich denn! Glaubt man, ich wüßte nicht, was das bedeutet?«

      Er schrieb Pirard in die Liste. Ohne daß er es ahnte, beging er damit eine bedeutsame Tat. Ein kleiner, ganz junger Seminarist, der auch aus Verrières gebürtig war und ihm vom ersten Tage an Freundschaft bewiesen hatte, belehrte ihn, daß er wohl besser getan hätte, wenn er den Abbé Castanède, den Unterdirektor des Seminars, gewählt hätte.

      »Castanède ist Pirards Feind«, flüsterte er ihm zu, »und Pirard steht im Geruche, Jansenist zu sein.«

      Ebenso wie die Wahl des Beichtvaters war zunächst alles, was Julian, der sich für so klug und weise hielt, tat, töricht und ungeschickt. Phantasiemensch, der er war, ließ er sich durch seinen Dünkel betören. In seinen Absichten erblickte er bereits Taten. Er hielt sich für einen Meister der Heuchelei. Ja seine Narrheit ging so weit, daß er sich seiner eingebildeten Erfolge in dieser Kunst der Schwäche schämte.

      »Ach«, entschuldigte er sich vor sich selber, »die Heuchelei ist meine einzige Waffe! Zu einer andern Epoche hätte ich mir mein Brot durch Taten vor dem Feinde verdient!«

      Zufrieden mit seinem Verhalten, beobachtete er das Tun und Treiben der andern. Alles, was er um sich sah, trug die Maske der lauteren Jugend. Acht oder zehn seiner Kameraden galten als Heilige. Sie hatten Visionen wie die heilige Therese und der heilige Franz von Assisi. Aber das war ein großes Geheimnis, das ihre Freunde streng wahrten. Diese jungen armen Visionäre lagen fast beständig in der Krankenstube. Etwa hundert andre einten in sich handfesten Glauben mit unermüdlichen Fleiß. Ohne merklich vorwärtszukommen, rackerten sie sich halbkrank. Nur zwei oder drei der Seminaristen ragten durch wirkliche Begabung hervor. Einer von diesen hieß Chazel. Indessen fühlte sich Julian ihnen gegenüber fremd, wie sie sich vor ihm.

      Die übrigen von den dreihunderteinundzwanzig Kameraden waren gewöhnlichsten Schlags. Man war bei ihnen nicht sicher, ob sie die lateinischen Brocken, die sie immerfort im Munde führten, wirklich verstanden. Fast alle waren Bauernsöhne, die ihr Brot lieber durch das Herleiern lateinischer Worte als im Schweiße ihres Angesichts bei der Feldarbeit verdienen wollten. Auf Grund dieser Wahrnehmung, die Julian sehr bald zu machen begann, versprach er sich rasche Erfolge. »In jedem Berufe«, sagte er sich, »werden helle Köpfe gebraucht. Überall ist Arbeit zu leisten. Zu Zeiten Napoleons wäre ich Wachtmeister geworden. Unter diesen künftigen Dorfpfarrern werde ich’s zum Großvikar bringen. Alle diese armen Teufel haben von Kind auf mit ihren Händen gearbeitet und, ehe sie hierher gekommen sind, von saurer Milch und Schwarzbrot gelebt. Fleisch haben sie in ihren Hütten keine sechsmal im Jahre gegessen. Jetzt sind diese Lümmels von den Herrlichkeiten des Seminars entzückt. Es geht ihnen wie den römischen Soldaten, denen der Krieg eine Erholung war.«

      In ihren stupiden Augen las Julian nichts als: vor den Mahlzeiten hungrige Leibesbedürfnisse, und nach den Mahlzeiten befriedigte Leibesbedürfnisse. Unter solch einer Gesellschaft mußte er sich also hervortun! »Kinderspiel!« dachte er. Eines wußte er aber nicht, und man hütete sich wohl, es ihm zu verraten: der Erste zu sein in der Dogmatik, der Kirchengeschichte und gewissen andern Unterrichtsfächern, galt allgemein als kolossale Sünde. Seit Voltaire und der Erfindung des konstitutionellen Staates, der im Grunde nichts weiter ist als Zweifel und Selbstkult, ist die schlechte Angewohnheit des Einander-Mißtrauens den Massen in Fleisch und Blut übergegangen. Seitdem hat die Kirche aber offenbar begriffen, daß die Literatur ihre tüchtigste Feindin ist.

      Im Seminar galt die Demut des Herzens über alles. Fortschritte in den Wissenschaften, selbst in der Theologie, hielt man mit gutem Grunde für verdächtig. Wer kann einen homme supérieur hindern, ins feindliche

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