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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Год выпуска 0
isbn 9788026824862
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Zingarelli reißt wütend an der Klingel. Der Hausdiener erscheint und erhält den Befehl zugebrüllt: ›Geronimo fliegt zum Conservatorio hinaus! Auf der Stelle! ‹
So war ich hinausgeflogen und lachte mir ins Fäustchen. Am selben Abend sang ich die Arie del Moltiplico. Polichinell will heiraten und zählt alle Gegenstände, die er in seinem Haushalt braucht, an den Fingern auf, wobei er sich fortwährend verrechnet…«
»Ach, singen Sie uns doch diese Arie!« bat Frau von Rênal.
Geronimo tat es, und alles lachte bis zu Tränen. Erst nachts um zwei Uhr ging man schlafen. Die ganze Familie war von den guten Manieren, der Liebenswürdigkeit und dem Frohsinn des Sängers bezaubert.
Am andern Tage händigten ihm Herr und Frau von Rênal die Briefe ein, die er zur Einführung in die Pariser Hofgesellschaft brauchte.
»Also überall Lug und Trug!« seufzte Julian. »Jetzt geht dieser Signor Geronimo nach London gegen sechzigtausend Franken Honorar. Ohne die Gerissenheit des Direktors von San Carlino wäre seine göttliche Stimme vielleicht erst zehn Jahre später bekannt und berühmt geworden. Beim Teufel, ich wäre lieber ein Geronimo als ein Rênal. Gesellschaftlich gilt ein Rênal ja mehr, dafür hat ein Geronimo weniger Verdruß mit dem großen Haufen, und seine Tage sind voller Sonne.«
Über etwas war Julian sehr erstaunt. Die letzten Wochen, die er für sich allein in Verrières verbracht hatte, waren ihm eine Zeit des Glückes gewesen. Verstimmung und Trübsal hatten ihn nur heimgesucht, wenn er zu den Diners eingeladen war, die seinetwegen gegeben wurden. Aber im einsamen Rênalschen Hause hatte er nach Herzenslust lesen, schreiben und grübeln können, ohne dabei gestört zu werden. Nicht wie sonst wurde er alle Augenblicke aus seinem leuchtenden Traumlande gejagt und in die Notwendigkeit versetzt, das Gangwerk von Alltagsseelen zu ergründen und sich durch Heucheleien in Wort und Tat vor ihnen zu schützen.
»Liegt das Gestade des Glücks so nahe?« fragte er sich. »Das Fahrgeld dorthin ist eigentlich gering. Ich brauchte bloß Elise zu heiraten oder Fouqués Teilhaber zu werden. Ja, der Wandersmann, der das Hochgebirge erklimmt, ist wohl glücklich, wenn er einmal gemütlich rasten darf. Sollte er aber ewig verweilen, so wäre er todunglücklich.«
Frau von Rênal kam auf viel gefährlichere Gedanken. Sie hätte ihrem Manne ohne Besinnen ihr Leben geopfert, wenn sie ihn in Gefahr gesehen hätte, denn sie war eine jener hochherzigen Romantikerinnen, die sich verpaßte Gelegenheiten zu edlen Taten ebenso vorwerfen, als hätten sie ein Verbrechen begangen. Gleichwohl hatte sie düstre Tage, an denen sie sich der glückhaften Vorstellung, plötzlich Witwe werden und Julian heiraten zu können, nicht erwehren konnte.
Julian liebte ihre Söhne weit zärtlicher als der eigene Vater, und trotz seiner strengen Gerechtigkeit waren sie vernarrt in ihn. Sie fand sich damit ab, ihr geliebtes waldumrauschtes Vergy verlassen zu müssen, wenn sie Julians Frau würde. Im Geiste sah sie sich in Paris wohnen, mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt, von aller Welt darob bewundert. Die Kinder, sie selbst und Julian, alle waren glücklich …
Die moderne Ehe hat sonderbare Begleiterscheinungen, Ist vor der Heirat Liebe vorhanden, so stirbt sie sicher in der Langweile des ehelichen Beieinanders. Zumal bei Eheleuten, die reich genug sind, um nicht arbeiten zu müssen, stellt sich gründlicher Widerwille gegen das geruhsame Eheglück ein. Und nur die phantasielosen Frauen gehen an Liebschaften und Liebeleien vorbei, anstatt sich kopfüber in sie zu stürzen.
Der Herbst und der Anfang des Winters gingen rasch vorüber. Endlich mußte man den Wäldern von Vergy Lebewohl sagen. Die gute Gesellschaft von Verrières war längst entrüstet, daß ihr Bannspruch so wenig Eindruck auf den Bürgermeister machte. Die ganze Stadt war voll des Klatsches über den Skandal im Rênalschen Hause.
Kaum war Herr von Rênal in Verrières, als sich seine ehrsamsten Mitbürger an die ihren gewohnten Stumpfsinn genußreich unterbrechende Mission machten, ihm in höchst gewichtigen Ausdrücken den schlimmsten Verdacht gegen seine Frau beizubringen. Valenod, der vorsichtige Schlaumeier, hatte Elise in einem angesehenen Hause untergebracht. Von selbst kam sie auf den nützlichen Gedanken, dem alten wie dem neuen Pfarrer bis in alle Einzelheiten zu beichten, was sie über Julians Liebschaft wußte.
Am Tage nach der Ankunft der Familie Rênal in Verrières ließ Chélan Julian bereits früh um sechs Uhr zu sich kommen.
»Ich will nichts Näheres hören«, sagte er zu ihm, »ja, ich wünsche, oder wenn es sein muß, ich befehle Ihnen, daß Sie mir kein Wort sagen. Ich verlange nur, daß Sie binnen drei Tagen entweder nach Besançon in das Seminar oder zu Ihrem Freunde Fouqué gehen. Er ist nach wie vor bereit, Ihnen eine glänzende Zukunft zu schaffen. Ich habe alles vorgesehen und vorbereitet. Sie müssen fort von hier. Und vor einem Jahre lassen Sie sich in Verrières nicht wieder sehen.«
Julian entgegnete nichts. Er überlegte sich, ob er diese starke Bevormundung durch Chélan, der doch schließlich nicht sein Vater war, als Kränkung auffassen solle.
»Morgen um dieselbe Zeit werde ich mir die Ehre nehmen, wiederzukommen«, erklärte er endlich.
Im Wahne, es sei ein leichtes, einen so jungen Menschen zu dirigieren, hielt ihm Chélan eine lange Rede. Mit demütigster Miene und Haltung hörte Julian zu, ohne den Mund aufzutun.
Als er endlich entlassen ward, eilte er zu Frau von Rênal, um sie zu verständigen. Er fand sie in heller Verzweiflung. Ihr Mann hatte eben ein ziemlich offenes Wort mit ihr gesprochen. Infolge seiner kraftlosen Natur und aus Rücksicht auf die Erbtante in Besançon hatte er sich entschlossen, seine Frau als völlig schuldlos zu betrachten. Er hatte ihr erzählt, wie es um ihren Ruf im Munde der Leute stand. Er wisse, es sei unwahr, neidischer Klatsch; immerhin müsse etwas geschehen.
Einen Augenblick lang hatte sich Frau von Rênal eingebildet, Julian könne Valenods Anerbieten annehmen und somit in Verrières verbleiben. Aber sie war nicht mehr die naive scheue Frau wie noch im Jahre vorher. Ihre verhängnisvolle Leidenschaft und die Stürme ihres Gewissens hatten ihr den Blick geschärft. Während ihr Mann noch redete, ward es ihr zu Ihrem Schmerze von selber klar, daß zum mindesten eine vorübergehende Trennung unvermeidlich geworden war. »Fern von mir«, sagte sie sich, »wird ihn der Ehrgeiz von neuem packen. Das ist ganz natürlich bei einem Menschen, der nichts besitzt. Und ich – großer Gott – ich bin so reich! Reich und doch nicht glücklich! Draußen in der Welt wird er mich vergessen. Andre werden ihn lieben. Er wird wieder lieben. Ach, ich Ärmste! Aber darf ich klagen? Der Himmel ist gerecht. Meine Sünde hat mich blind gemacht. Ich hätte Elise durch Geld zum Schweigen verpflichten müssen. Nichts war leichter. Aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, darüber auch nur einen Augenblick nachzudenken. Meine tolle Liebesträumerei nahm alle meine Zeit in Anspruch. Nun bin ich dem Untergang geweiht.«
Über etwas war Julian stark verwundert. Als er der Geliebten die schreckliche Mitteilung machte, daß er scheiden müsse, begegnete er keinem selbstsüchtigen Widerspruch.
»Wir müssen gefaßt sein, mein lieber Freund!« sagte sie und schnitt sich eine Haarlocke ab. »Ich weiß nicht, was aus mir werden wird, aber wenn ich sterben sollte, so versprich mir, meine Kinder niemals zu vergessen. Ihnen fern und nah, mußt du sorgen, daß sie tüchtige Menschen werden. Sollte eine neue Revolution ausbrechen, so macht man allen Adligen den Prozeß. Dann ist ihr Vater am Ende gezwungen, ins Exil zu wandern, wegen des Bauern vielleicht, den man von seinem Dache heruntergeschossen hat. Wache über die Meinen! Gib mir deine Hand! Lebe wohl, mein lieber Freund! Unsre letzte Stunde ist gekommen. Habe ich das überwunden, dann werde ich auch die Kraft haben, den rechten Weg wiederzufinden.«
Julian hatte Verzweiflungsausbrüche erwartet. Die Schlichtheit dieses Abschiedes rührte ihn tief.
»Nein!« rief er aus. »So wollen wir nicht voneinander gehen! Ich verlasse dich. Die Menschen wollen es so. Du selbst