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Geschwätz über die Schlechtigkeit und Unredlichkeit der Menschen heutzutage, woran das arme Frankreich schließlich zugrunde gehen werde, kam Julian endlich hinter den Grund des Besuches. Schon waren die beiden im Flur an der Treppe, der armselige halbentlassene Hauslehrer und der hochmögende künftige Regierungspräsident, als dieser geruhte, auf Julians Zukunft anzuspielen und seine Begnügsamkeit hinsichtlich Gehalt usw. zu loben. Schließlich drückte Maugiron ihm väterlich die Hand und machte ihm den Vorschlag, Herrn von Rênal zu kündigen und zu einem Regierungsbeamten zu gehen, der einen Erzieher für seine Kinder brauche. Das dortige Gehalt betrage achthundert Franken, die nicht monatlich gezahlt würden, was nicht fein sei, sondern vierteljährlich und immer im voraus.

      Jetzt ergriff Julian das Wort, auf das er lange genug hatte warten müssen. Was er erwiderte, war musterhaft, dazu langatmig wie eine Oberlandesgerichtsentscheidung. Er ließ allerlei durchblicken, sagte aber nichts Bestimmtes. Nach Belieben konnte Maugiron Ehrerbietung vor Herrn von Rênal, ungemeine Schätzung der öffentlichen Meinung von Verrières und tiefe Dankbarkeit gegen den hochwohllöblichen Landrat heraushören. Herr von Maugiron war erstaunt, einen noch größeren Jesuiten gefunden zu haben, als er selber war. Vergeblich gab er sich Mühe, etwas Greifbares aus ihm herauszubekommen. Zu seinem innigsten Vergnügen fand Julian Gelegenheit, sich im Disputieren zu üben. Er gab die nämliche Antwort immer wieder in neuer Fassung. Kein Machiavell hätte weniger in mehr Worten zu sagen verstanden.

      Als der Landrat gegangen, fing Julian an, wie ein Verrückter zu lachen. Um seine schöne Jesuitenstimmung auszunutzen, schrieb er unverzüglich einen neun Seiten langen Brief an Herrn von Rênal, in dem er ihm berichtete, was ihm eben angeboten worden war, und ihn untertänigst um Rat bat. Dabei sagte er sich: »Dieser Schlaumeier hat mir aber doch nicht verraten, wer mir das Angebot eigentlich machen läßt! Höchstwahrscheinlich Valenod. Er vermutet in meiner Verbannung nach Verrières die erste Wirkung seines anonymen Briefes.«

      Als der Brief aufgegeben war, ging Julian, gutgelaunt wie ein Jäger, der in der Frühe eines schönen Herbstmorgens ein wildreiches Jagdgelände betritt, zum Pfarrer Chélan, sich dessen Rat zu erbitten. Aber ehe er zu dem alten Mann gelangte, führte ihm der ihm heute so gütige Himmel Herrn Valenod in den Weg. Ihm vertraute Julian den Zwiespalt seines Herzens an. Ein armer Bursche wie er, heuchelte er ihm vor, müsse sich dem Berufe, dem ihn eine Stimme von oben zuführe, mit Leib und Seele widmen. Doch genüge es in diesem irdischen Jammertale nicht, sich berufen zu fühlen. Um ein würdiger Arbeiter im Weinberge des Herrn zu sein und so vieler gelehrter Mitarbeiter nicht gänzlich unebenbürtig, brauche man Kenntnisse. Zwei kostspielige Jahre im Seminar zu Besançon seien unumgänglich. Die müsse er sich durch Ersparnisse ermöglichen, und solche wären bei einem Gehalt von achthundert Franken, vierteljährlich im voraus gezahlt, leichter zu machen als bei sechshundert Franken, die sich bei monatsweiser Zahlung verkrümelten. Hinwiederum käme es ihm vor, als ob Gott der Allmächtige, der ihn zu den jungen Rênals geleitet und ihn mit besonderer Liebe für sie erfüllt habe, ihm deutlich genug zeige, daß er unrecht täte, wenn er die Erziehung dieser Kinder um andrer willen aufgäbe …

      Julian besaß bereits so große Virtuosität in der Beredsamkeit, die in Frankreich seit 1815 an die Stelle der Tatenlust der napoleonischen Zeit getreten war, daß ihn sein eigener Klingklang schließlich selber anödete.

      Als er wieder nach Hause kam, fand er einen Diener Valenods in großer Livree vor. Der Mann hatte ihn in der ganzen Stadt gesucht, um ihm eine Einladung zu Tisch für denselben Tag zu überbringen.

      Julian war noch nie im Valenodschen Hause gewesen. Erst vor ein paar Tagen hatte er sich überlegt, wie er den Armenamtsvorsteher einmal nach Herzenslust verwamsen könne, ohne es hinterher mit der Polizei zu tun zu haben. Die Einladung lautete auf ein Uhr; aber Julian fand es für angebracht, Herrn Valenod eine halbe Stunde vorher in dessen Arbeitszimmer einen Respektsbesuch abzustatten. Er fand ihn in voller Breitspurigkeit inmitten von Aktenstößen. Sein Gesicht war von einem mächtigen schwarzen Backenbart umrahmt. Auf dem Wust seines Haupthaars thronte eine phrygische Mütze, schief über das eine Ohr gezogen. Im Munde hielt er eine riesige Tabakspfeife. Er hatte gestickte Pantoffeln an, und über der Weste spreizte sich eine mordsmäßig lange dicke goldne Uhrkette. Mit einem Worte, er war in allen Stücken der echte eingebildete Provinzprotz. Julian imponierte das alles nicht. Er hatte keinen andern Gedanken als den, daß er diesem Menschen eine ordentliche Tracht Prügel schuldete.

      Er bat um die Ehre, Frau Valenod vorgestellt zu werden. Aber sie war noch beim Ankleiden und konnte keinen Besuch empfangen. Zur Entschädigung durfte Julian der Toilette des Herrn Armenamtsvorstandes beiwohnen. Hierauf ging es zu Frau Valenod, die ihm, Tränen in den Augen, ihre Kinder vorführte. Sie war eine der wichtigsten Damen von Verrières. Sie hatte ein grobes Mannsgesicht. Zur Feier des Tages war sie geschminkt. Ihre pathetische Mütterlichkeit fiel Julian auf die Nerven.

      Er mußte an Frau von Rênal denken. Mißtrauisch, wie er war, kamen Erinnerungen bei ihm nur dann zu rechter Wirkung, wenn sie durch Kontrasteindrücke erweckt wurden. Dann aber war er gerührt bis in die tiefste Seele. In Valenods Hause packte ihn der Gegensatz mächtiger denn sonstwo.

      Man zeigte es ihm von oben bis unten. Alles war funkelnagelneu, und er bekam bei jedem Stück den Kaufpreis zu hören. Ein Dunst von Unvornehmheit umfing Julian. Es war ihm, als röche er gestohlenes Geld. Es kam ihm vor, als sei hier alles, bis herab auf die Dienstboten, im Verteidigungszustande vor dem Verachtetwerden.

      Die übrigen Gäste erschienen mit ihren Frauen: der Steuerinspektor, der Zolldirektor, der Gendarmerieoffizier und ein paar andre Beamte. Einige reiche Liberale folgten.

      Ein Diener meldete, das Essen sei angerichtet. Julian war sowieso verstimmt. Jetzt fiel ihm auch noch ein, daß jenseits der Wand des Eßzimmers arme Gefangene saßen, denen man vielleicht ihre Portionen geschmälert hatte, um den geschmacklosen Luxus dieser Wohnung zu bestreiten, der ihn betören sollte.

      »Vielleicht hungern die armen Teufel«, dachte er bei sich. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Es war ihm unmöglich, einen Bissen hinunterzuwürgen. Sogar das Sprechen fiel ihm schwer. Nach einer Weile kam es noch schlimmer. Ein Lied erklang in der Ferne, ein Gassenhauer, offenbar von einem Sträfling geträllert. Valenod warf einem der betreßten Diener einen Blick zu. Der Lakai verschwand, und alsbald verstummte der Gesang.

      In diesem Augenblick präsentierte ein Diener Rheinwein in Römern. Julian nahm einen. Frau Valenod verfehlte nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß von diesem Wein an Ort und Stelle die Flasche neun Franken kostete.

      Den Römer in der Hand, bemerkte Julian zu Herrn Valenod:

      »Das garstige Lied hat aufgehört…«

      »Das will ich meinen«, schmunzelte der Armenamtsvorstand, »Ich habe dem Saukerl das Maul stopfen lassen.«

      Das war zuviel für Julian. Wohl hatte er bereits die Manieren der höheren Gesellschaft, aber noch nicht ihr Herz. Trotzdem er längst ein Meister der Heuchelei war, rann ihm eine dicke Träne über die Wange. Er versuchte, sie mit seinem grünen Römer zu verdecken, aber den Rheinwein zu trinken, das war ihm unmöglich.

      »Er hat dem Ärmsten das Singen verboten«, sagte er sich, »und Gott läßt es ruhig geschehen!«

      Zum Glück bemerkte niemand seine unpassende Rührseligkeit.

      Der Steuerinspektor hatte ein royalistisches Lied angestimmt. Den Kehrreim brüllte man im Chor mit. »Schau!« rief Julians Gewissen ihm zu. »Diesem dreckigen Glück strebst du zu! Du erringst es nur, wenn du dich diesen Genossen und ihrer Weltanschauung beugst. Dann ergatterst du unter Umständen einen Posten mit 20 000 Franken Gehalt; aber, während du dir den Bauch vollschlägst, mußt du es fertigbekommen, einem armen Sträfling das Singen zu verbieten. Du gibst Diners von dem Gelde, das du seiner kargen Kost abknappst, und während du tafelst, muß er mehr denn sonst leiden …«

      »Großer Napoleon«, fuhr er in seinen Gedanken fort, »wie herrlich war deine Zeit! Damals kam man durch die Gefahren der Schlachten vorwärts; heutzutage, indem man stumm und feig zusieht, wie Unglückliche geknechtet werden!«

      Sehr bald sollte er unsanft an die Rolle gemahnt werden, die er zu spielen hatte. Er war in so gute Gesellschaft nicht eingeladen worden, damit er träume und kein Wort rede. Ein reicher Leinwandfabrikant sprach ihn über den Tisch

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