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ins Ohr, der neben ihm saß und heftig nickte und dann in sein Gesangbuch starrte.

      Hansjörg war kühlen Herzens über den weiten Platz geschritten, und das verweinte Gesichtchen seiner Schwägerin hatte er nicht recht verstehen können. ›Wozu braucht einer die kalten Mauern und den Mann am Altar und die Glocken? Gott ist überall. Sklavenvolk!‹ stand auf seinem Antlitze zu lesen, als er die Stufen emporschritt. Aber jetzt? Die kalten Mauern – es waren doch nicht nur kalte Mauern! Und der Altar – es war doch mehr als ein Tischlein zwischen den Mauern! Und die Glocken – ja, die Glocken, die Glocken waren lebendig! Und auf einmal ward ihm zu Mute, als säße nicht er, der stolze Mann, in dem alten Gestühle, sondern ein schwaches, schwermütiges Knäblein, und mit den Augen des Knäbleins sah er um sich. Nein, er schloß die Augen und träumte, und es war, als spännen sich starke Fäden, einer nach dem andern, von seinem Platze zurück in die Jugend und von der alten Wohnstube drüben im Schlößlein herüber zu diesem Gestühle. Er sah den ehrwürdigen Mann, dem er das Dasein verdankte, und er sah die schöne, große, stolze Frau, die seinem Leben die Richtung gegeben, und er sah sich bei ihnen sitzen. Und jetzt öffnete er die Augen und träumte mit offenen Augen weiter, und die Glocken sprachen herein in den bittersüßen Traum.

      Kalte Mauern? Thorheit! Da hingen zwischen den schmalen, spitzbogigen Fenstern dicht aneinander die Totenschilde seines Geschlechtes; da wallte von der Empore die kleine, verschlissene Fahne hernieder, die einer vor zweihundert Jahren den wilden Hussiten abgenommen und zum ewigen Gedächtnis in der Kirche aufgehängt hatte; da standen der Reihe nach, mit großen Klammern befestigt, die alten und uralten Grabsteine; da hingen die dunkeln Bilder, aus denen nur noch hin und wieder ein Antlitz oder ein heiliger Leib helle hervorquollen; da stand neben der niederen, rundbogigen Sakristeithüre der massige Taufstein; da hing an rostiger Kette vom Gewölbe herab, mitten im Schiffe, das Skelett des riesigen Fischkopfes. Es war dem träumenden Manne zu Mute, als müßte er gleich nach der Kirche des Vaters Hand erfassen und sagen: Bitte, Herr Vater, bleibet doch noch einen Augenblick und erzählet mir, ist's denn wirklich wahr, in diesem Rachen ist der Urahn gesteckt? Und der Vater würde ihm über die Locken fahren und flüsternd antworten: Dumm's Buberl, nicht im Rachen ist er gesteckt, aber am Arme hat's ihn gepackt, das Ungeheuer, hart vor dem gelobten Lande, und den Arm hat er auch lassen müssen und hernach der Einarm geheißen sein Leben lang. – Dutzendmal hatte ihm der Vater die grausige Geschichte erzählt, und nie hatte er sich genug davon gehört. – Nein, die Mauern waren nicht kalt, jeder Stein sprach, und am deutlichsten sprach der Stein da drüben, gerade gegenüber dem Portnerschen Gestühle. Unzählig oft hatte der Jüngling, der Mann die Schrift gelesen, heute trat ihm unvermerkt das Wasser in die Augen. Waren's die scharf gemeißelten Buchstaben: »Quirin Portner von und zu Theuern« – »Katharina Portnerin, geborene Kemnaterin« – oder war's der Spruch: »Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn«, der Spruch, auf den die beiden gelebt hatten und getrost gestorben waren unter dem giftigen Odem der Pest, der Spruch, an den er nimmer glauben konnte, weil er zu stolz war –?

      So träumte Hansjörg Portner und wußte nichts mehr von dem, was um ihn her vorging. Und es war ja doch das Geläute längst verklungen, die Orgel erfüllte und überfüllte den kleinen Raum mit ihrem Jauchzen und Klagen und riß auf ihren Wogen alle die hundert und hundert schrillen und dröhnenden, lispelnden und schreienden, alten und jungen Stimmen empor.

      Was sangen sie denn? Er tastete nach dem alten Buche, das zusammengeklappt vor ihm lag, sah auf die schwarze Tafel und las die Nummer ab:

      »In dieser schweren, betrübten Zeit

       Verleih uns, Herr, Beständigkeit,

       Daß wir dein Wort und Sakrament

       Rein b'halten bis an unser End'!«

      so sangen und schrieen sie, und nachdenklich blickte Hansjörg Portner auf das vergilbte Blatt. »Dein göttlich Wort, das helle Licht, laß ja bei uns auslöschen nicht!« Wie gebannt ruhten seine Blicke auf dieser Strophe, während der Gesang weiter brauste. Auslöschen? Es erschienen ihm auf einmal alle Kirchen im ganzen Fürstentume der Oberpfalz wie kleine Kerzen auf einem großen, dunkeln Felde. Aber nein, das Bild war falsch! Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten, und er bedarf keines Tempels von Menschenhänden gemacht! Form? Was Form! Mag doch die Form zerbrechen! Aber wo wäre denn der Geist, der sich nicht in irgend einer Form offenbarte? Nirgends, Portner! Hansjörg Portner, es sind doch kleine Kerzen auf einem weiten, dunkeln Felde, das Bild ist gut. Und er dachte, wie viele von diesen Kerzen ausgelöscht waren, und wie wenige noch brannten an diesem Tage. Und dann sah er zum Altare vor und auf die sechs flimmernden Lichtlein, und es kam ein großer Zorn über ihn: Heute brannten sie zum letzten Male dort vorne, und heute hatte er zum letzten Male das Recht, zwischen diesen Mauern zu sitzen, und heute über acht Tage würde ein feiner Wohlgeruch den Raum erfüllen, und die Totenschilde seines Geschlechtes würden verschwimmen im bläulichen Dunste des Weihrauches, und er hätte nichts mehr zu suchen über den Grüften seiner Eltern und Voreltern, er, der Patronus dieses Hauses! ›Du irrst, Portner,‹ sagte eine leise Stimme, während die hundert und hundert Stimmen um ihn her sangen und schrieen:

      »Ach Gott, es geht gar übel zu,

       Auf dieser Erd' ist keine Ruh' –«

      ›du irrst, Portner, eine kurze Kniebeuge, und du stehst wieder da auf deinem Grund und Boden als der gnädige Herr Patronus. Du wirst das Knie beugen, wenn es sein muß, du wirst die Zähne aufeinanderbeißen und im Herzen spotten über die Unfreien, die einen Freien zu knechten wähnen, du wirst das Rauchfaß schwenken lassen, und deine Lippen werden gedankenlos den langen Fluch sprechen gegen das, was vergangen sein muß – du brauchst ja den Kopf nicht zu wenden und den andern Spruch nicht zu lesen auf der Grabplatte deiner Eltern – nein, du brauchst das nicht!‹ –

      Hansjörg Portner mußte aber nun gerade doch sehen, ob er von seinem Sitze aus den Spruch zu lesen vermöchte! Jawohl, da stand es klar und scharf: ›Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten.‹ – Thorheit, er würde auch Glauben halten und als ein starker Mann hinausgehen und den Ewigen anbeten im Frühlingssturme und im Winterfroste, den Ewigen in den flimmernden Sternen und im wogenden Korne, aufrecht, hocherhobenen Hauptes! – Aufrecht, Hansjörg, mit der Lüge im Herzen?

      Es war nun ganz stille zwischen den Mauern, und auf der Kanzel stand der Prädikant und sprach mit seiner dünnen Stimme. Hansjörg merkte nicht auf seine Worte, aber er wandte die Augen nicht von seinem schmalen Gesichte, und es durchzuckte ihn auf einmal der Gedanke: ›Der muß nun als der erste daran glauben!‹ Und dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr frei. Er hatte den Mann da droben in seinem weißen Chorhemdlein nie sonderlich beachtet – er, der stolze Portner, den armen, ängstlichen Menschen, der selbst noch jung und vor sechs Jahren erst nach Theuern gekommen war. Doch jetzt summte es in Portners Ohren immer stärker und stärker: ›Der muß nun als der erste daran glauben!‹ – Vierzehn Tage waren ihm gesetzt, Portner wußte es wohl, vierzehn Tage Frist. Und nun suchten seine Augen den Pfarrstuhl gegenüber, und seine Blicke trafen auf ein bleiches, kränkliches Weib und auf ein Häuflein lieblicher Kinder. ›Die müssen nun als die ersten daran glauben!‹ summte es in ihm, und er rückte unmerklich auf seinem Sitze. Es war ihm unbehaglich auf dem weichen, wappengeschmückten Polsterlein, er, der Starke, saß so gut, und da drüben saßen die Schwachen so hart und saßen zum letzten Male, und da droben stand der Aengstliche, der sonst nie zu widersprechen wagte. Hansjörg Portner mußte die Augen wieder zur Kanzel erheben. Wie mochte ihm nur zu Mute sein, dem da droben, der morgen schon als Emigrant im Dorf umhergehen würde? Furchtbar – nicht? Wie einem, der vor einem Abgrunde zurückschauert – nicht? Aber nein: Dieses Antlitz sah nicht aus, als ob eine furchtsame Seele dahinter wohnte, nein, ganz und gar nicht! Und was sprach er nur? Portner ward aufmerksam.

      »Ja, es ist zum letztenmal, ihr Lieben, und ihr erwartet nun wohl, daß ich mich zürnend wenden werde gegen unsre Widersacher. Nein, ihr Lieben, das werde ich nicht thun. Aber nicht deswegen, weil jedes meiner Worte binnen wenigen Stunden in Amberg an den gehörigen Ort getragen wird, sondern deswegen, weil zürnende Worte und Segensprüche nicht aus einem und demselben Munde quellen dürfen. Und segnen möchte ich euch alle zum Abschiede. Ich möchte euch aber auch etwas hinterlassen zum Geschenke, und das ist der Spruch, der auf des seligen Herrn

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