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da hinten! Und sie waren doch so blass, so voll Entsetzen!

      Auch der Domherr wurde blass.

      Er riss die Wagentür auf und sprang aus dem Wagen.

      »Wo hört man es?« fragte er eine der Frauen.

      »Hier überall«, antwortete einer der Männer. »Legen Sie sich nur in das Heidekraut.«

      »Man fühlt es unter den Füßen«, sagten die Frauen »Die Erde zittert, wo man steht.«

      Es war wohl ihr eigenes Zittern.

      Der Domherr legte sich auf die Erde und drückte das Ohr tief in das Heidekraut.

      Zuerst vernahm er nur ein fernes, unbestimmtes Geräusch; es war wie ein dumpfes Gemurmel, tief unten im Grunde der Erde; es schien immer höher und näher heraufzukommen. Als aber dann sein Ohr sich mehr daran gewöhnt hatte, war es ihm, als wenn er da unten das Toben eines fernen schweren Gewitters hörte. Zuletzt unterschied er ganz deutlich. Es war nicht da unten, es waren nicht die entfesselten Elemente der Natur, die die alte Erde in ihrem Grunde aufwühlen und auseinander reißen wollten. Es war ein wilder Kampf, rollte fort in dem Schoße der dröhnenden Erde, rollte weiter durch die Hügel und Ebenen des wallonischem durch die fruchtbaren Fluren des Jülicher Landes, unter dem breiten Bette des alten Rhein hinweg, rollte weiter und weiter in dem losen, lockern Boden der stillen westfälischen Heiden.

      Es war der Beginn des furchtbaren Kampfes, jener wilden, blutigen, mörderischen Schlachten, die vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Juni des Jahres 1815 von Charleroi bis nach Belle Alliance zwischen den Franzosen auf der einen, den Deutschen und Engländern auf der andern Seite gekämpft wurden und in denen an hunderttausend Menschen tot oder verwundet die blutige Erde bedeckten!

      Am fünfzehnten früh mit Anbruch des Tages war Napoleon plötzlich bei Charleroi gegen die preußische Vorhut losgebrochen; der erste Kampf begann. Das war der Donner der Kanonen, den man in einer Entfernung von mehr als fünfundzwanzig Meilen, unter der dröhnenden Erde fortrollend, in den westfälischen Heiden hörte. Der Kampf war an jenem ersten Tage kein entscheidender. Die Preußen wurden von der Napoleonischen Übermacht bis Fleurus zurückgedrängt, allein der Plan des Kaisers, über Fleurus hinaus vorzudringen und so die Vereinigung der Preußen und Engländer zu verhindern, um sofort auf das Blücher’sche Korps allein sich werfen zu können, scheiterte an dem tapferen Widerstande jener preußischen Vorhut unter Ziethen. Die Nacht gebot Waffenruhe.

      Der folgende Tag, der sechzehnte Juni, war umso blutiger und unglücklicher für die Preußen; es war der Tag der Schlacht von Ligny; er kostete ihnen gegen zwanzigtausend Menschen.

      Am siebzehnten war kein Kampf.

      Am achtzehnten wurde die entscheidende Schlacht bei Waterloo oder Belle Alliance geschlagen; sie vernichtete das französische Heer und das Glück des ersten Napoleon.

      Der Domherr war bleich geworden wie die Frauen, die neben ihm standen.

      »Mord! Brudermord!« rief er. »Und wofür, wofür?«

      Er sprang auf, in den Wagen zurück.

      »Fort!« rief er dem Postillion zu.

      Dann saß er lange still in dem Wagen, der über die Heide wieder dahinrollte.

      Sie kamen noch oft in der Heide an Menschen vorbei, die an der Erde lagen und bleich und entsetzt dem fernen Donner der Kanonen horchten. Bis Münster hin hatte man ihn an jenem Tage gehört, hörte man ihn am folgenden Tage und dann wieder am Tage der Schlacht von Belle Alliance.

      Nach langer Zeit nahm der Domherr den Brief wieder hervor, den er zu lesen angefangen hatte. Er las ihn von neuem.

      »Lieber Onkel Florens!

      Wir gehen hier ernsten Stunden entgegen; wir stehen unmittelbar vor ihnen.

      Für viele Tausende von uns werden, müssen sie die letzten sein; ein jeder von uns muss gefasst darauf sein, dass er zu diesen Tausenden gehört. Auch ich bin es.

      Dass ich es mit der vollen Ruhe des Mannes bin, brauche ich Dir nicht zu sagen. Mit dieser Ruhe habe ich denn auch an die Bestellung meines Hauses gedacht.

      Ich hatte nur eins zu ordnen, Gisbertinens Zukunft.

      Dafür habe ich gestern mein Testament gemacht. Ich habe es doppelt niedergeschrieben Das eine Exemplar hat, wie das Gesetz es vorschreibt, der Auditeur zu seinen gerichtlichen Akten genommen; das andere schicke ich Dir hierbei, um der Sicherheit willen. Die Auditoriatsverhandlungen könnten verloren gehen. Ich lege es offen in diesen Brief; Du kannst es lesen. Nach meinem Tode übergib es Gisbertinen. Bleibe ich am Leben, braucht sie den Inhalt nicht zu erfahren.

      Ich habe zugleich eine zweite Bitte an Dich. Sie betrifft die Frau eines lieben Kameraden, des Hauptmanns Mahlberg. Sie ist ihm verloren gegangen; mehr kann ich Dir nicht darüber sagen, denn mehr weiß ich eigentlich selbst nicht. Sie muss nur, nach allem, in Not und sehr unglücklich sein, wahrscheinlich mit einem Kinde. Meine Bitte ist nun, sie aufzusuchen und, wenn Du sie gefunden hast, Dich ihrer anzunehmen, sie an einem guten Orte unterzubringen und für sie und ihr Kind zu sorgen. Ihren Aufenthaltsort kenne ich nicht.

      Du erfährst ihn entweder bei ihrer Mutter, einer verwitweten Kriegsrätin Fahrner in Wesel, oder, wenn auch sie ihn nicht kennt, bei dem Postmeister Feldmann in Warendorf, dem bekannten Städtchen im Münsterlande. Deinem braven Herzen, lieber Onkel, darf ich in Beziehung auf die arme Frau alles Weitere überlassen, brauche auch wohl kaum zu bemerken, dass Eile nottun möchte.

      Und nun, mein lieber, teurer Onkel Florens, nimm mein Lebewohl so freundlich und herzlich auf, als wenn es mein letztes wäre, und so auch meinen Dank für alle Deine viele Liebe, die Du mir von meinen frühesten Kinderjahren an bewiesen hast, und dabei die Bitte, das viele Herzeleid, mit dem ich Dir leider so oft vergolten habe, mir zu verzeihen.

      An Gisbertine noch meine Grüße. Sage ihr aber lebe wohl. Mein letzter Gedanke werdet Ihr beiden sein, Du und sie Dein Gisbert«

      Als er zu den Schlussworten kam, zitterte ihm die Stimme, aus seinen Augen fielen Tränen auf das Papier.

      »Der arme Junge! Er hatte die Todesahnung. Und die trügt niemals im Felde, unmittelbar vor einer Schlacht. Es ist eine alte Geschichte. Vorgestern schrieb er, heute kämpfen sie. Vielleicht ist er schon in diesem Augenblick unter den Toten! Er hätte es freilich hinter sich; er hätte ausgelitten, auch mit dem braven Herzen. Auch mit dem wilden, trotzigen Herzen! O, o, es wäre ihm besser, als wenn er noch lebend unter den Toten daläge, verlassen, verstümmelt, mit den blutenden Wunden, allein mit der Verzweiflung des Schmerzes, des doppelten Schmerzes, des dreifachen, der Wunden der Verlassenheit, des zerrissenen Herzens. Armer, armer Junge! Und sie, die ihn in den Tod jagte! Und -«

      Aus dem Couvert, in dem der Brief lag, hatte er mit diesem zugleich ein zweites Papier hervorgezogen.

      Er nahm es in die Hand, besah es lange.

      »Sein Testament! Ob ich es lese? Er wünschte es. Und warum sollte ich nicht?«

      Er öffnete es — das Testament — er las es, las es langsam, still für sich. Tränen traten ihm nicht wieder in die Augen, aber er sah so besonders gerührt, fast feierlich aus.

      Er steckte Testament und Briefe wieder in ihre Couverts und brachte alles in die Brusttasche zurück, aus der er es genommen hatte.

      Er kam in Münster an, der Hauptstadt der preußischen Provinz Westfalen, dem Sitze der obersten Zivil- und Militärbehörden der Provinz. Er musste lange in den langen Straßen der Stadt fahren, bis er an der Post auf dem Domhofe ankam. In allen Straßen sah er nur bleiche, ängstliche Gesichter. Die Post war von Hunderten von Menschen belagert.

      Auch in den Heiden in der Nähe von Münster hatten Landleute schon am frühen Morgen die ferne Kanonade gehört. Die Nachricht war in die Stadt gebracht.

      Wie in ganz Preußen, so war auch in Westfalen und besonders in Münster alles, was die Waffen tragen konnte, im Frühjahre des Jahres 1815 mit der vollen Begeisterung der

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