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kaum einen Schritt von ihm ent­fernt, sei­ne Toch­ter plan­te, nichts von dem Schmerz, der fer­tig ne­ben ihm stand. Nein, über­all ge­sperr­te Tü­ren.

      Rosa blick­te wie­der auf die Stra­ße nie­der. Es un­ter­hielt sie jetzt, den Leu­ten nach­zu­schau­en und sich be­däch­tig zu sa­gen: »Wie die sich den Arm rei­chen! Wie ka­me­rad­schaft­lich sie tun! Was hilft’s! Sie mö­gen sich noch so eng an­ein­an­der­schmie­gen, es bleibt doch ein je­der al­lein – al­lein – al­lein«, die­ses Wort hing sich an jede Per­son; es ward zum ei­gen­sin­ni­gen Traum, der jede Ge­stalt ver­zerrt, und mit­ten im hel­len, mun­te­ren Ta­ges­licht be­schlich es Rosa wie Grau­en. Sie woll­te aber nicht ein­sam sein; sie fürch­te­te sich. Wäre doch Am­bro­si­us da; der lieb­te sie, vor dem brauch­te sie sich nicht zu ver­ber­gen. Wenn man ge­liebt wird, ist man nicht al­lein, nicht wahr? Das ist eben die Lie­be. – Soll­te sie zum Tröd­ler hin­über­ge­hen? Nein! Das durf­te sie nicht. Dann woll­te sie sich we­nigs­tens auf das Wie­der­se­hen mit Am­bro­si­us vor­be­rei­ten; sie freu­te sich dar­auf und sehn­te es her­bei. Sie moch­te nicht al­lein sein.

      Sie ging in ihr Zim­mer und setz­te sich an den Schreib­tisch; der Brief an den Va­ter muss­te ge­schrie­ben wer­den. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke saß Rosa vor dem Brief­bo­gen, den Fe­der­hal­ter an den Lip­pen, und dach­te nach, dann tauch­te sie die Fe­der in die Tin­te und schrieb – ru­hig, in ei­nem Zuge – den Bo­gen voll. Durch die halb an­ge­lehn­te Türe hör­te sie die tie­fen Atem­zü­ge ih­res schlum­mern­den Va­ters; den­noch zit­ter­te ihre Hand nicht im ge­rings­ten beim Nie­der­schrei­ben die­ser Zei­len, in de­nen je­des Wort ein Stich in das gute alte Herz sein muss­te, das jetzt – dort ne­ben­an – so ah­nungs­los schlug.

      »Liebs­ter Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du die­ses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hof­fe, nur für kur­ze Zeit. Sie wol­len mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Am­bro­si­us und ich lie­ben uns in­nig, und nie­mand soll uns schei­den. Wenn wir un­lös­lich ver­bun­den sind, kom­men wir wie­der und ho­len Dich ab, da­mit Du un­ser Glück teilst. Wenn ich dar­an den­ke, wie se­lig wir zu­sam­men­le­ben wer­den, möch­te ich auf­jauch­zen. Ag­nes muss auch mit. Dass ich heim­lich fort­ge­he, ver­zeihst Du mir, lie­ber – lie­ber Papa, es ist zu mei­nem Glück nö­tig, denn dass ich glück­lich wer­de, das ver­spre­che ich Dir. Vie­le tau­send Küs­se. Auf bal­di­ges fro­hes Wie­der­se­hen. Dei­ne treue Toch­ter Rosa. Sonn­tag, den 25. Sep­tem­ber.«

      Rosa mach­te einen hüb­schen, sorg­sa­men Schnör­kel un­ter ih­ren Na­men, fal­te­te das Blatt zu­sam­men, schrieb »an Papa« dar­auf, steck­te es in die Ta­sche.

      Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Mi­nu­ten konn­te sich noch so­viel Stö­ren­des er­eig­nen. Rosa pack­te ihre Habe in den Rei­se­sack, ver­schloss ihn und ver­steck­te ihn un­ter ih­rem Bett. Das Rei­se­kleid, Hut und Man­tel leg­te sie zu­recht. Al­les war be­reit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie an­hat­te, aus und leg­te sich auf ihr Bett. So war es noch am leich­tes­ten, den Abend zu er­war­ten. Rosa hät­te jetzt vie­les er­le­ben, tun, un­ter­neh­men mö­gen und muss­te stil­le­hal­ten wie ein kran­kes Kind. Ne­ben­an reg­te sich der Va­ter – seufz­te tief auf – be­gann im Zim­mer auf und ab zu ge­hen. Oh, den woll­te Rosa glück­lich ma­chen – den ar­men Papa! – Jetzt schloss er den Kas­ten auf, um den schwar­zen Rock her­vor­zu­ho­len – jetzt bürs­te­te er sei­nen Hut. Ro­sas Herz ward im­mer wei­cher, sie preß­te ihr Ge­sicht in die Kis­sen und muss­te es sich im­mer wie­der sa­gen, wie glück­lich sie den ar­men Papa ma­chen woll­te.

      Er kam an ihre Türe und steck­te den Kopf in das Zim­mer. »Schläfst du, Kind«, frag­te er, »ich gehe fort.«

      »Ja, ich schla­fe.«

      »Gut, Kind! Ich will dich nicht stö­ren.« Er zog sich zu­rück.

      »Adieu, Papa.«

      »Adieu, adieu –« sag­te Herr Herz schon im an­de­ren Zim­mer. Die Hau­stü­re knarr­te; er war fort.

      Rosa stürz­te an das Fens­ter, ihm nach­zu­schau­en. Da ging er – fest in sei­nen schwar­zen Rock ein­ge­knöpft – eine schma­le, kum­mer­vol­le Ge­stalt.

      Rosa muss­te zu Ag­nes ge­hen, um ihr zu sa­gen, dass sie kein Nacht­mahl wol­le und sich so­gleich zu Bett le­gen wer­de. Sie fühl­te wohl ein Ban­gen, das ihr Herz be­drück­te, und eine tie­fe Er­re­gung, der sie nicht Raum ge­ben woll­te, schnür­te ihr die Keh­le zu­sam­men, aber Reue oder Zau­dern war das nicht. Mit pein­li­cher Ge­wis­sen­haf­tig­keit er­füll­te sie je­den Punkt ih­res tö­rich­ten Pla­nes.

      Ag­nes saß am Kü­chen­tisch und las in ih­rem Ge­sang­bu­che. In der Kü­che herrsch­te Sonn­tags­ord­nung. Durch das ge­öff­ne­te Fens­ter sah man auf den lee­ren Hof hin­aus und über die Nach­bar­dä­cher hin, auf de­nen die ro­ten Abend­strah­len sprüh­ten. Ag­nes fuhr lang­sam mit dem Zei­ge­fin­ger die Zei­len in ih­rem Bu­che hin­ab und be­weg­te ton­los die Lip­pen. Als Rosa ein­trat, blick­te sie auf.

      »Ag­nes, ich gehe schla­fen. Ich mag kein Nacht­mahl. Ich habe Kopf­weh«, sag­te Rosa has­tig. Als sie das vor­ge­bracht hat­te, blieb sie doch noch am Kü­chen­tisch ste­hen, der tie­fe Frie­den hier er­schüt­ter­te sie. –

      »Was gib­t’s denn?« frag­te Ag­nes. »Bist du krank?«

      »Nein. Es ist nichts!«

      »Doch, ich brin­ge dich zu Bett«, be­schloss Ag­nes und leg­te ein tro­ckenes Kas­ta­ni­en­blatt als Le­se­zei­chen in das Ge­sang­buch. Rosa aber woll­te da­von nichts wis­sen: »Ich bin schon so gut wie aus­ge­klei­det. Nur schla­fen will ich«, rief sie und lief da­von. – Noch eine Stun­de, und dann – – –

      Was war sonst eine Stun­de, wenn sie zwi­schen ei­ner Ge­schichts- und ei­ner fran­zö­si­schen Stun­de lag! Und heu­te woll­te sie nim­mer ver­strei­chen.

      Ei­nen kur­z­en Au­gen­blick war Ro­sas Zim­mer jäh von dem ro­ten Licht der un­ter­ge­hen­den Son­ne er­leuch­tet ge­we­sen – die­ses Auf­fla­ckern ward dann zu ei­nem matt­gel­ben, ge­spens­ti­schen Schein, der das Herz ver­zagt macht, wie nie­der­ge­brann­te Ker­zen am Schluss ei­nes Fe­sta­bends.

      Im Ne­ben­zim­mer sperr­te Ag­nes den Schrank zu, rück­te die Ses­sel an die Wand. Die Kü­chen­tü­re ward zu­ge­wor­fen, ein schür­fen­der Tritt stieg die klei­ne Trep­pe hin­an, die nach oben führ­te – dann ward es still; Ag­nes war zur Ruhe ge­gan­gen.

      Wäh­rend die Däm­me­rung auf die klei­nen Räu­me der Herz­schen Woh­nung nie­der­sank, lag das stil­le Mäd­chen has­tig at­mend da und starr­te mit weit of­fe­nen Au­gen auf das Stück blei­chen Him­mel, das vor ihr vom Fens­ter­kreuz in gleich­mä­ßi­ge Ta­feln zer­schnit­ten ward. Lang­sam ver­häng­te die Dun­kel­heit einen Ge­gen­stand nach dem an­dern im Ge­mach, nahm Rosa Stück für Stück ihre Ver­gan­gen­heit, um sie atem­los und zit­ternd vor Auf­re­gung vor eine un­kla­re, dunkle Zu­kunft zu stel­len.

      Ein Licht­strahl blitz­te auf und warf einen schma­len Gold­streif auf den Bett­vor­hang. Un­ten auf der Stra­ße ward die La­ter­ne an­ge­steckt. Ein zwei­ter Licht­streif glitt über die Zim­mer­de­cke hin. Das war drü­ben die Lam­pe des Pfar­rers; und nun schlug es neun Uhr, Rosa sprang auf, leg­te ihr Kleid an, tas­te­te nach ih­ren Sa­chen. Es kam ihr der Ge­dan­ke: Wenn du es ver­säum­test? Wenn Am­bro­si­us schon fort wäre? Sie nahm sich nicht die Zeit, den Man­tel zu­zu­knöp­fen, die Hand­schu­he an­zu­zie­hen, son­dern stürm­te fort. Lei­se

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