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wur­den von Wes­ten her über den Him­mel ge­trie­ben, zwi­schen ih­nen glomm hie und da ein grell leuch­ten­der Stern auf. Rosa schau­te sich nach Ida um. Die Stra­ße war leer.

      Soll­te Rosa auf das Ju­den­mäd­chen war­ten? Vi­el­leicht war es spät und Ida schon fort. Eine große Angst er­griff Rosa. Sie schau­te zu den Fens­tern des Pfar­rers auf. Dort saß die Fa­mi­lie um den ge­deck­ten Tisch, und die Magd trug das Es­sen auf. Also schon beim Nacht­mahl. Ja, es muss­te spät sein. Gott, zu spät viel­leicht und al­les war aus, Rosa muss­te bei den fried­li­chen Fa­mi­li­en, den blau­en Por­zel­lan­tel­lern, den Schüs­seln voll damp­fen­der Er­däp­fel blei­ben. Sie be­gann zu lau­fen – die Stra­ße hin­ab, um die Ecke in den Stadt­gar­ten. Leu­te, an de­nen sie vor­über­lief, blie­ben ste­hen und schau­ten ihr ver­wun­dert nach. Da war schon der Fluss, schwarz und laut rau­schend – da die Brücke, dort das Licht­pünkt­chen muss­te das Fens­ter des Brücken­kru­ges sein. Auf der Brücke fass­te sie der Wind so hef­tig, dass sie sich am Ge­län­der hal­ten muss­te, sie fürch­te­te sich, und doch, hier weh­te schon die freie, mäch­ti­ge Luft, nach der sie sich sehn­te, nur wünsch­te sie, Am­bro­si­us wäre schon da.

      Der Brücken­krug war das ein­zi­ge Haus am jen­sei­ti­gen Flus­sufer, eine ärm­li­che, schmut­zi­ge Knei­pe. An den Pfos­ten vor der Türe hat­te man ein Pferd ge­bun­den, mit vor­ge­streck­tem Kop­fe, zu­rück­ge­leg­ten Ohren stand es da und ließ den Wind in sei­ner Mäh­ne wüh­len. Die Hau­stü­re stand of­fen, und man blick­te von drau­ßen in die Schank­stu­be hin­ein. Am Tisch saß ein Mann mit breit­krem­pi­gem Hut und trank, ne­ben ihm saß die Wir­tin, die El­len­bo­gen bei­de auf den Tisch ge­stützt, die Au­gen halb ge­schlos­sen. Vor ihr brann­te eine Un­schlitt­ker­ze und fla­cker­te, als woll­te sie ver­lö­schen. Auf der Tür­schwel­le hock­te eine schwar­ze Kat­ze, rieb ih­ren Rücken an den Tür­pfos­ten und blin­zel­te ver­stimmt in die Nacht hin­aus.

      Rosa blieb ste­hen und schöpf­te tief Atem. Die­ses war ja doch der be­zeich­ne­te Ort? Wo war denn Am­bro­si­us? Sie ging um das gan­ze Ge­bäu­de her­um. Al­les still. »Es hat ihn et­was ab­ge­hal­ten«, sag­te sie sich und lehn­te sich mit dem Rücken ge­gen den dün­nen Stamm ei­nes Ahorn­bau­mes, der vor dem Hau­se stand. Die Grün­de, warum Am­bro­si­us nicht da war, stell­ten sich reich­lich ein. Un­be­quem war es ge­wiss, aber er muss­te ja gleich kom­men. Na­tür­lich! Es war ganz un­mög­lich, dass er nicht – –; nein! Das war nicht mög­lich. Ganz ru­hig woll­te sie war­ten.

      So stand sie da und blick­te un­ver­wandt auf das trü­be Bild dort in der Wirts­stu­be; sie moch­te an nichts den­ken. Auf­merk­sam be­trach­te­te sie die rot und grau­en Wür­fel auf dem Ka­mi­sol der Wir­tin, lausch­te ge­spannt dem tro­ckenen Ton, den das Glas ver­ur­sach­te, wenn der Frem­de es auf den Tisch zu­rück­stell­te, in­ter­es­sier­te sich für die arg be­dräng­te Flam­me der Ker­ze. »Wird sie ver­lö­schen oder nicht? Jetzt ist sie nah dar­an. Nein, sie fla­ckert wie­der auf Brennt sie fort, so kommt Am­bro­si­us.« Nun be­kam die­ses trüb­gel­be Licht für Rosa eine selt­sa­me Wich­tig­keit. Oh, sie war tap­fer, die arme Flam­me, aber Am­bro­si­us kam den­noch nicht. »Er wird nicht kom­men«, die­sen Ge­dan­ken wag­te Rosa nicht zu den­ken; das durf­te sie nicht. Sie schloss die Au­gen und zähl­te. War sie bis Hun­dert ge­kom­men, dann muss­te er da sein, und je nä­her sie dem Hun­dert kam, um so lang­sa­mer zähl­te sie: »Fün­fund­sieb­zig – sechs­und­sieb­zig – sie­ben­und­sieb­zig.« War das nicht Wa­gen­rol­len? Nein! Sie woll­te die Au­gen nicht eher öff­nen, als bis die Hun­dert voll wa­ren. »Achtund­sieb­zig – neun­und­sieb­zig – acht­zig« – dann woll­te sie die Au­gen auf­schla­gen – er wür­de vor ihr ste­hen. »Ein­un­dacht­zig.« Wäh­rend sie fort­zähl­te, glaub­te sie im­mer wie­der Schrit­te, Stim­men zu ver­neh­men, mit je­der Zahl stieg die Hoff­nung, und den­noch wag­te sie es nicht, die ver­häng­nis­vol­len Hun­dert zu nen­nen. »Sie­ben­und­neun­zig – achtund­neun­zig – neun­und­neun­zig« – sie hielt inne. – »Hun­dert.« Sie glaub­te schon Am­bro­si­us’ Nähe zu füh­len, sah ihn vor sich ste­hen und lä­cheln. Sie schlug die Au­gen auf. Im­mer noch schlum­mer­te die Wir­tin über den Tisch ge­beugt ne­ben dem Frem­den, im­mer noch kämpf­te die Flam­me mit dem Zug­win­de, nur die Kat­ze war bis zu Rosa her­an­ge­schli­chen, mach­te einen krum­men Rücken und mi­au­te lei­se – sonst al­les hoff­nungs­los un­ver­än­dert und leer. Rosa preß­te die Hän­de an­ein­an­der und be­te­te: »Lass ihn – ach, lass ihn kom­men! Lie­ber Gott, mir das noch!« Dann ward sie von bit­te­rer Mut­lo­sig­keit er­grif­fen, die Arme san­ken schlaff her­ab, sie drück­te sich fes­ter ge­gen den Baum. Was auch ge­sche­hen moch­te, sie woll­te hier ste­hen.

      »Fräu­lein Rosa!« er­scholl es ne­ben ihr. Sie schreck­te zu­sam­men, das war Idas Stim­me. Ein war­mes, un­ge­stü­mes Freu­den­ge­fühl er­füll­te Rosa wie­der. Es war tö­richt ge­we­sen, so zu ver­zwei­feln.

      »Ida, bist du es? Das ist recht. Wa­rum bliebst du so lan­ge aus?«

      »Der Herr von Tel­le­r­at schickt mich mit ei­nem Brief«, be­rich­te­te Ida.

      »Ein Brief; wozu? Ich soll wohl war­ten«, sag­te Rosa has­tig und er­griff den Zet­tel, den Ida un­ter ih­rem Tu­che her­vor­hol­te. Sie eil­te an das Fens­ter der Knei­pe, um bei die­sem spär­li­chen Lich­te den Brief zu le­sen. Er ent­hielt nur we­ni­ge, mit Blei­stift ge­schrie­be­ne Zei­len:

      »Lieb­chen! Der ver­damm­te Jude hat mei­nem On­kel al­les ver­ra­ten. Vor­läu­fig ist es aus mit un­se­ren Plä­nen. Mor­gen bringt mich der On­kel selbst zu mei­nen El­tern. Dein un­glück­li­cher A–.«

      Rosa hat­te so­gleich al­les be­grif­fen. Das war es also, was sie die gan­ze Zeit über ge­fürch­tet hat­te; nun war es da – das Un­mög­li­che. – Drin­nen in der Wirts­stu­be rüs­te­te sich der frem­de Mann zum Auf­bruch und zog sei­nen Man­tel fes­ter um die Schul­tern, wäh­rend die Wir­tin ihm die Rech­nung mit Krei­de auf den Tisch schrieb. Rosa schau­te dem zu; sie hat­te ja nichts mehr zu tun. »Ob der Mann auf dem Pfer­de dort fort­rei­ten wird? Wahr­schein­lich! Dann kann die Wir­tin schla­fen ge­hen, das arme ge­quäl­te Licht aus­lö­schen.«

      »Fräu­lein Rosa!« Ida zupf­te Rosa am Man­tel. »Sie müs­sen nach Hau­se ge­hen, sonst wird das Hau­stor ge­sperrt.«

      Nach Hau­se! Die­ses Wort traf Rosa wie eine neue Of­fen­ba­rung des Elends. Frei­lich muss­te sie heim­ge­hen, sich in ihr Bett le­gen – wie sonst! Sie lehn­te sich an die Mau­er des Hau­ses und schluchz­te laut. Ida blick­te neu­gie­rig das wei­nen­de Mäd­chen an; dann griff sie ent­schlos­sen nach Ro­sas Arm und führ­te sie fort. Rosa folg­te ihr. Was lag dar­an, es war ja doch al­les ver­lo­ren. Vor der Herz­schen Woh­nung ver­ab­schie­de­te sich Ida. »Gute Nacht«, sag­te sie und strei­chel­te un­be­hol­fen Ro­sas Arm. »Wei­nen Sie nicht, Fräu­lein Rosa. Ein an­de­res Mal wird es bes­ser ge­hen. Hier ist Ihr Rei­se­sack, hier die Stie­ge. Gute Nacht.«

      In der Kü­che war es still ge­wor­den, die Heim­chen schwie­gen alle; im Wohn­zim­mer lag noch der Licht­streif über der De­cke; Ro­sas Brief lag un­be­rührt auf dem Schreib­tisch – und der näch­ti­ge Frie­de, die lang­ge­wohn­te Luft der Räu­me be­druck­ten Rosa mit blei­er­ner Trau­rig­keit. In hilflo­sem Jam­mer sank sie auf ih­ren Rei­se­sack nie­der, stütz­te den Kopf auf einen Stuhl – – es war ja doch al­les vor­über!

Zweites Buch – Leid

      Erstes Kapitel

      Für die Fa­mi­lie

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