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hat einen Eisberg gerammt und ist sofort gesunken. Es ist ein Drama«, hörte Heather den Besucher mit belegter Stimme sagen. »Stündlich erreichen das Reedereibüro neue Listen mit den Namen der Toten und Vermissten. Doch es gibt auch Überlebende.«

      »Ich muss sofort dorthin«, flüsterte Heather. Sie war schneeweiß im Gesicht, ihr Blick flackerte. »Meine armen Eltern! Ihnen wird doch nichts zugestoßen sein, ich …«

      »Beruhigen Sie sich, Miss Somersby«, bat der Anwalt sie eindringlich und drückte sie sanft aber bestimmt in einen Sessel. »Das ist kein Platz für eine junge Dame. Ich habe bereits einen Büroboten dorthin geschickt. Sobald er etwas erfährt, wird er sich hier melden. Ich bleibe solange bei Ihnen, wenn Sie erlauben. Es wäre nicht ratsam, wenn Sie jetzt allein sind. Ich bin es Ihren Eltern schuldig.«

      Heather nickte nur, sagte aber nichts. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, ihr Herz raste und eine kaum zu beschreibende Angst schüttelte sie. Die Titanic, der Ozeanriese, der angeblich unsinkbar war, sollte untergegangen sein? Das erschien ihr ebenso unvorstellbar wie die Möglichkeit, auf einen Schlag beide Eltern zu verlieren. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Ganz sicher war alles nur ein Missverständnis. Die Zeitungen übertrieben doch immer. Es gab vielleicht ein paar Verletzte, aber auf einem so riesigen Schiff war man sicher, das hatte ihr Vater vor der Abreise noch betont. Und Heather vertraute auf das, was er sagte.

      So beruhigte das junge Mädchen sich selbst und versuchte tapfer, die aufkommende Panik niederzukämpfen.

      Mr. Waterford-Langley blieb bis zum frühen Abend bei ihr. Da der Bürobote sich bislang nicht gemeldet hatte, glaubten sie beide, dass dies ein gutes Zeichen sein könnte. Als der Gast sich schließlich verabschiedete, ging es auf zehn Uhr zu.

      Miss Pringle hatte dafür gesorgt, dass Heather und ihr Gast etwas aßen und sie brachte das junge Mädchen nun auch zu Bett. Die schrecklichen Nachrichten, die auf den Straßen kursierten, behielt die Gesellschafterin lieber für sich. Tim, der Kutscher, hatte von Tausenden Toter berichtet, von schrecklichen Tragödien und kaum zu beschreibenden Szenen, die sich auf dem rasch sinkenden Schiff abgespielt hatten. In den Bierkneipen Londons gab es kein anderes Gesprächsthema. Und in vielen vornehmen Häusern bangten die Bewohner um einen Verwandten oder sogar ein enges Familienmitglied. Ein Hauch von Angst und Schrecken lag in dieser Nacht über der Stadt.

      Heather fand keinen Schlaf. Sie wälzte sich seufzend und stöhnend von einer Seite auf die andere. Tränen netzten ihr Kopfkissen und die Angst um die geliebten Eltern ließ sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Miss Pringle saß die ganze Nacht an ihrem Bett und wachte über sie.

      Sehr früh am Morgen, es war noch dunkel, brachte ein Bote dann die schlimme Nachricht. Der Butler sprach mit Miss Pringle, die sich sehr entsetzte und dann entschied, Heather erst später zu informieren, denn diese war endlich doch in einen leichten, erschöpften Schlaf gefallen.

      Als das junge Mädchen dann erfuhr, was geschehen war, hielt sich bereits ein Arzt im Haus auf. Die Gesellschafterin hatte ihn vorsorglich bestellt und diese Maßnahme erwies sich durchaus als notwendig. Heather erlitt einen schweren Schock. Sie verlor das Bewusstsein und lag dann tagelang wie tot im Bett. Der Arzt konnte ihren körperlichen Zustand stabilisieren, doch ihr Geist schien von dem Schock und der übergroßen Trauer der zarten, sensiblen Seele verdunkelt.

      Miss Pringle wachte an Heathers Bett, hielt ihre Hand und sprach beruhigend auf sie ein. Lange schien es ungewiss, ob das junge Mädchen wieder zu klarem Verstand kommen würde. Zu schwer war der Verlust, zu plötzlich das grausame Unglück über sie gekommen. Nach zwei Wochen schließlich ging es Heather allmählich ein wenig besser. Sie konnte das Bett verlassen und aß die Krankenkost, die man ihr vorsetzte. Doch sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Blass und überschlank, fast durchscheinend war sie geworden. In dem strengen schwarzen Trauerkleid wirkte sie älter, erwachsener. Ein bitterer Zug grub sich um ihren schön geschwungenen Mund ein und die himmelblauen Augen waren matt, hatten jede Strahlkraft verloren.

      Dass es draußen Frühling geworden war, der Himmel blau war, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten, nahm Heather kaum wahr. Der Flügel stand zugeklappt und stumm im Musikzimmer. Es schien ihr undenkbar, je wieder eine Note zu spielen. Traurigkeit erfüllte ihr Herz, in dem der Winter noch immer herrschte. Dass sich daran wieder etwas ändern könnte, glaubte das junge Mädchen nicht. Heather fühlte sich allein und verlassen, zutiefst traurig und bedrückt.

      *

      Eine Woche später erhielt Heather Besuch. Miss Pringle hatte ihr einen Brief vorgelesen, der das junge Mädchen in Erstaunen versetzt hatte. Er kam von Reginald und Prudence Hanley aus Hanley-Hall, Dartmoor. Sie waren entfernte Verwandte, die das junge Mädchen nicht kannte. Dass sie nach London kommen und sich um Heather kümmern wollten, erschien dieser eigenartig.

      »Prudence ist eine Kusine meiner Mutter«, wusste sie. »Aber meine Eltern hatten nie Kontakt zu den Hanleys. Ich kenne den Grund nicht, es wurde auch nicht darüber gesprochen. Woher wissen sie überhaupt von dem Unglück?«, wunderte sie sich.

      Die Gesellschafterin legte die übrige Post beiseite. Das Meiste waren Beileidsschreiben, die noch immer zahlreich eintrafen. Nun zeigte sich, dass George Somersby nicht nur ein erfolgreicher Anwalt gewesen war, sondern auch gesellschaftlich eine Rolle gespielt hatte. Die warmen Worte des Mitgefühls gaben Heather ein klein wenig Trost in ihrer Trauer.

      »Vielleicht hat der Kollege ihres Vaters sie informiert«, mutmaßte Miss Pringle. »Schließlich stehen Sie nun ganz allein, Miss Heather. Jemand muss sich um Sie kümmern.«

      »Das kann ich schon selbst«, kam es ablehnend von dem jungen Mädchen. »Ich werde mein Leben in die Hand nehmen. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, was ich tun soll, aber mir bleibt ja keine andere Wahl.«

      »Diese Leute meinen es gewiss gut mit Ihnen. Sie sollten sie empfangen und mit ihnen reden«, riet die Gesellschafterin ihr.

      Heather nickte. »Ja, das sollte ich wohl. Sie sind immerhin meine einzigen noch lebenden Verwandten …«

      Am Nachmittag trafen die Hanleys dann ein. Heather begrüßte sie mit zurückhaltender Freundlichkeit, auch wenn sie ihr alles andere als sympathisch waren.

      Reginald Hanley war ein Mann Anfang der Fünfzig, nicht sehr groß und untersetzt. Sein graues Haar war bereits an vielen Stellen gelichtet. Sein breitflächiges Gesicht war leicht gerötet und wurde von tiefblauen Augen dominiert, die hinter einer schmalen Brille neugierig funkelten. Er war im Stile eines bessergestellten Countryman gekleidet, doch sein Auftreten hatte nichts von einem Gentleman. Auf Heather machte er einen vulgären Eindruck und das herausgeputzte Äußere erschien ihr unpassend.

      Seine Frau Prudence war ein Stück größer als er, dürr und trug ein altmodisches Tageskleid. Ihr verhärmtes Gesicht wurde von dunklem Haar umrahmt, das sie in einem strengen Knoten trug. Sie hatte helle, scharfe Augen, die Heather sogleich sezierend betrachteten. Ihr Mund war nach unten verzogen und gab ihr einen zynischen Gesichtsausdruck. Heather konnte nun verstehen, warum ihre seligen Eltern mit diesen Leuten keinen Kontakt gehabt hatten. Sie waren auch dem jungen Mädchen unsympathisch. Unter anderen Umständen hätte sie die wenig angenehmen Besucher auf schnellstem Wege wieder hinaus komplimentiert. Doch sie dachte an das, was Miss Pringle ihr geraten hatte: Sich mit den einzigen Verwandten, die ihr noch geblieben waren, gut zu stellen. Das hatte Heather nun vor.

      »Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise«, sagte sie im Plauderton, als sie sich bei Tee und Gebäck gegenüber saßen. »Und ich freue mich wirklich, euch kennen zu lernen. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, noch jemanden auf dieser Welt zu haben, nachdem meine armen Eltern …« Sie verstummte und senkte den Blick.

      Reginald tätschelte ihr ungeschickt die Hand und versicherte: »Wir fühlen mit dir, mein Kind. Als wir von der schrecklichen Tragödie erfuhren, war es für uns keine Frage, herzukommen und dir beizustehen in deinem Kummer.«

      »Du scheinst dich schon wieder halbwegs gefangen zu haben«, stellte seine Frau fest. »Hast du denn bereits Pläne gemacht, was deine Zukunft betrifft?«

      »Nun ich … Nein, nichts Konkretes.«

      Reginald schien

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