Скачать книгу

in den Augen. »Du bist nicht tot. O mein Gott, ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin so – so entsetzlich durcheinander. Dieser Mann wollte … Er wollte mich umbringen. Es hat nicht viel gefehlt … Es wäre ihm fast gelungen … O Harry …«

      Er war leichenblass, lehnte an der Wand, hielt die Alabaster-Figur noch immer in der Hand und sah Molly mit glasigen Augen an.

      Er schien geistig nicht richtig da zu sein. Es ging ihm offenbar ziemlich schlecht. Er schien noch sehr unter den Nachwirkungen des Schlages zu leiden, der ihn niedergestreckt und für längere Zeit außer Gefecht gesetzt hatte. Er konnte im Moment weder etwas sagen noch sich von der Wand lösen. Wusste er überhaupt, was er getan hatte? Hatte er lediglich gehandelt, ohne zu begreifen, was er machte?

      Er sah besorgniserregend aus. Molly sprach ihn an: »Harry?«

      Er schaute durch sie hindurch, als wäre sie aus Glas.

      »Harry, sieh mich an!«, bat Molly.

      Er reagierte nicht. Sie nahm ihm die Aphrodite aus der Hand. Er ließ es geschehen. Vielleicht bekam er es gar nicht mit.

      Obgleich Molly selbst noch unter den Auswirkungen des Schocks litt, der sie vorhin mit voller Wucht getroffen hatte, war sie im Moment geistig besser dran als Harry. Sie legte ihm ihre kalte Hand behutsam auf die Wange. »Harry! Liebster! Komm zu dir!«

      Ihre Lippen berührten seinen Mund. Es hatte fast den Anschein, als wollte sie ihn – wie im Märchen – wachküssen. Und es funktionierte tatsächlich.

      Er blinzelte noch kurz verwirrt und im nächsten Augenblick war er geistig wieder voll da. Molly küsste ihn noch einmal, und heiße Freudentränen rannen ihr über die Wangen.

      Was immer in letzter Zeit zwischen ihnen gestanden hatte, es war so was von unwichtig geworden. Das Einzige, was für Molly in diesem Moment zählte, war die höchst erfreuliche Tatsache, dass sie Harry nicht verloren hatte.

      »Molly, bist du okay?«

      Er fragt mich, ob ich okay bin, dachte sie und nickte mit zuckenden Lippen lächelnd. Wie rührend. Wie selbstlos. »Ja«, krächzte sie. »Ja, Harry, ich bin in Ordnung. Und du?«

      Er schürzte die Lippen und wackelte mit dem Kopf. »Etwas benommen, aber es geht.« Er deutete auf den auf dem Boden Liegenden. »Wer ist das?«

      »Er heißt Toby Haggerty.«

      »Du kennst ihn?«

      »Er hat mir seinen Namen verraten«, sagte Molly.

      »Wieso trachtete er dir nach dem Leben?«, wollte Harry wissen.

      Molly blieb ihm die Antwort schuldig. Diese lange Geschichte konnte sie ihm erst später erzählen. Jetzt musste sie erst einmal feststellen, wie es um Toby Haggerty stand. Lebte er? War er tot?

      Und anschließend musste sie die Polizei verständigen. Sie sank neben dem Rechtsanwalt auf die Knie und fühlte dessen Puls.

      »Ist er …?«, fragte Harry nervös.

      »Er lebt.«

      »Bist du sicher?«

      »Ganz sicher«, sagte Molly. Sie schaute zu Harry hoch. »Ich muss ihn fesseln, sonst sind wir vor ihm nicht sicher, sobald er das Bewusstsein wiedererlangt.«

      »Aber …«

      Molly erhob sich und legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Du erfährst alles in wenigen Minuten, okay? Ich muss dich noch um ein klein wenig Geduld bitten. Bleib bei ihm. Lass ihn nicht aus den Augen. Du hast erlebt, wie ungemein gefährlich dieser Mann ist.«

      Sie eilte die Stufen hinunter und kam gleich darauf mit einer widerstandsfähigen Nylon-Wäscheleine zurück. Damit verschnürte sie Toby Haggerty erst mal sehr gewissenhaft zu einem »versandfertigen« Paket, dann rief sie die Polizei an und anschließend kümmerte sie sich um Harrys noch immer blutende Platzwunde am Hinterkopf.

      Es gelang ihr, die Blutung zu stillen, aber sie war nicht sicher, ob die Wunde nicht eventuell genäht werden musste. Das würde ein Arzt entscheiden.

      Während sie auf das Eintreffen der Polizei warteten, bekam Harry einen ersten Abriss von Mollys haarsträubender Gruselgeschichte zu hören.

      »Das – das ist ja unglaublich«, sagte er zwischendurch immer wieder.

      Toby Haggerty kam zu sich und begann sofort wieder zu brüllen und zu toben. Er verlangte polternd, dass Molly ihm die Fesseln abnahm, und als sie das nicht tat, beschimpfte er sie und fluchte wie einer aus der dreckigsten Gosse. Als er damit keinen Erfolg hatte, verlegte er sich darauf, Molly mit verlockenden Angeboten zu ködern, von denen er mit Sicherheit kein einziges eingehalten hätte, wenn sie so dumm gewesen wäre, darauf einzugehen.

      Und dann kam die Polizei …

      *

      Es folgte eine lange Nacht voller Fragen und Antworten. Toby Haggerty landete schließlich in einer Arrestzelle, schrie, tobte und drohte auch dort wie ein Wahnsinniger – und das war er genau genommen ja auch. Einer, der (bei aller Genialität, die er sich einbildete) nicht ganz bei Verstand war.

      Molly Stone stand den Beamten bereitwillig Rede und Antwort, während man Harry Baxter in einem nahen Krankenhaus medizinisch betreute und zur Beobachtung da behielt. Sie erzählte den Polizisten ausführlich, was Toby Haggerty alles inszeniert und ihr angetan hatte beziehungsweise antun wollte, und als sie mit belegter Stimme schilderte, wie sie Harry »tot« auf dem Boden liegen gesehen hatte, konnte sie sich nicht beherrschen und brach in Tränen aus. Man ließ ihr verständnisvoll Zeit, sich zu sammeln. Eine dermaßen ungeheuerliche Geschichte hatte noch keiner auf dem Revier gehört.

      Selbst dem dienstältesten Beamten standen dabei die Haare zu Berge. Alle hatten Mitleid mit Molly und zeigten ihr das auch.

      Sie unterschrieb ihre Aussage in den frühen Morgenstunden und durfte das Revier anschließend verlassen. Für einen Besuch in der Klinik war es noch zu früh, deshalb nahm Molly ein Taxi und fuhr nach Hause.

      Obwohl sie hundemüde war, war an Schlaf nicht zu denken. Sie begann aufzuräumen, nahm als Erstes in der Küche den schrecklichen Strick ab und stellte den Hocker, auf den sie hätte steigen sollen, an seinen Platz.

      Dann säuberte sie den Boden von Harrys Blut und sehnte sich danach, ihn schon bald wieder liebevoll umarmen und küssen zu können.

      Um zehn Uhr telefonierte sie mit ihren Eltern, die erklärten, den Namen Agatha Pallin noch nie gehört zu haben und auch nicht zu wissen, dass diese Frau Molly zur Welt gebracht hatte.

      Molly hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Sie glaubte Mom und Dad. Von dem schrecklichen Spuk, den Toby Haggerty inszeniert hatte und der mit ihrem Tod hätte enden sollen, erzählte sie ihnen vorerst nichts.

      Davon würden sie erfahren, wenn sie von der Costa Brava nach Hause kamen. Sie erzählte lediglich, ein Rechtsanwalt namens Toby Haggerty habe sie darüber aufgeklärt, dass eine gewisse Agatha Pallin sie nach der Niederkunft zur Adoption freigegeben hätte, weil sie sich außerstande gesehen habe, ihr Kind selbst großzuziehen.

      Des Weiteren fügte Molly hinzu, dass diese Frau geraume Zeit später einen reichen argentinischen Granden geheiratet und nun, fast zwanzig Jahre später, den Wunsch geäußert habe, ihre beiden Töchter – Molly und Raffaela – sollten zu gleichen Teilen das immense Careira-Vermögen nach ihrem Tod, der angeblich schon sehr nahe war, erben.

      Delbert und Loretta Stone wollten ihren Urlaub sofort abbrechen und nach Hause kommen, doch Molly bestand darauf, dass sie das nicht taten, denn sie wollte die Zeit dazu nutzen, im Haus alle Spuren zu beseitigen, die der irre Anwalt hinterlassen hatte.

      Dazu gehörte vor allem auch, die »totgestochene« Tür auswechseln zu lassen. Alles sollte wieder wie gewohnt aussehen, wenn die Eltern von der Costa Brava zurückkamen.

      Und dann wollte ihnen Molly – gewissermaßen scheibchenweise – die ganze unglaubliche Geschichte beibringen.

      *

      Sechs

Скачать книгу