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Das Herrenhaus war imposant und sehr gepflegt. Heather war überrascht, denn so hatte sie sich Hanley-Hall nicht vorgestellt. Auf dem Vorplatz plätscherte sogar ein Springbrunnen. Als sie den Blick wandte, bemerkte sie, dass Reginald sie aufmerksam musterte. Nun lächelte er und fragte: »Gefällt es dir, Heather? Bei Tageslicht ist es natürlich einladender. Aber ich denke, einen ersten Eindruck hast du auch so schon gewonnen, oder?«

      »Es ist sehr schön«, urteilte sie. »Ihr könnt stolz auf einen solchen Besitz sein.«

      »Darin steckt der Fleiß und die Sparsamkeit vieler Generationen«, versetzte Prudence spitz. »So etwas fällt einem nicht in den Schoß. Und es zu erhalten ist auch Arbeit.«

      »Pru, nicht.« Reginald bot Heather seinen Arm und half ihr beim Aussteigen. »Jetzt bist du sicher zu müde, aber morgen zeige ich dir gerne das Haus und die Umgebung.«

      »Darauf freue ich mich schon«, versicherte das junge Mädchen artig. Tatsächlich war Heather sehr erschöpft und freute sich darauf, schlafen zu gehen.

      Prudence machte sie knapp mit dem Hauspersonal bekannt, das in der Halle wartete und aus weitaus weniger Angestellten bestand als bei der Größe des Anwesens zu erwarten war. Heather bemühte sich, alle Namen im Gedächtnis zu behalten, dann folgte sie Prudence zu ihrem neuen Zimmer. Es war klein und eher karg eingerichtet. Das junge Mädchen war enttäuscht, ließ sich aber nichts anmerken. Das dünn mit Butter bestrichene Sandwich und das Glas Milch, das eines der Dienstmädchen brachte, nahm sie dankbar an.

      »Du kannst dich morgen einrichten. Iss etwas und geh dann gleich schlafen«, riet Pru ihr. »Wir stehen zeitig auf. Eines der Mädchen wird dich wecken und dir beim Auspacken helfen.«

      »Ich danke dir, Tante Pru.«

      »Schon gut. Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe, mein Kind. Und willkommen auf Hanley-Hall.« Nachdem Prudence gegangen war, aß Heather das Sandwich, das altbacken schmeckte, und trank auch die Milch, obwohl sie ebenfalls nicht wirklich frisch war. Doch ihr Magen knurrte, denn sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Mit einem Seufzer ließ das junge Mädchen sich auf dem schmalen Bett nieder. Der Rahmen knarrte und schwankte bedenklich. Heather schüttelte verwundert den Kopf. Sie warf einen Blick in den leeren Kleiderschrank. Zumindest war dieser sauber. Hier konnte sie ihre neue Garderobe einräumen.

      Bevor sie sich ins Bett legte, warf Heather noch einen Blick aus dem Fenster. Prudence hatte sie nicht beschwindelt, von hier aus konnte sie tatsächlich den Kanal sehen. Und auch den Leuchtturm, der vor der Küste sein Licht über das Meer sandte.

      Eine Weile schaute Heather gedankenverloren aufs Meer hinaus. Dann erklang unvermittelt ein schauriges Heulen. Das junge Mädchen zuckte erschrocken zusammen. Für einen Moment fühlte Heather sich in einen jener Albträume versetzt, die sie bis vor kurzem gequält hatten. Doch nun war es anders, denn sie war wach. Sie spähte hinaus in die Dunkelheit, die nur vom Licht des Mondes durchbrochen wurde. Es funkelte silbern auf dem Meer und ließ auch die Umrisse der Landschaft erahnen.

      Woher mochte das Heulen gekommen sein? Welches Tier gab solch einen Laut von sich, der eine Gänsehaut erzeugte? Heather bemühte sich, die Finsternis mit Blicken zu durchdringen, aber es wollte ihr nicht gelingen.

      Mit einem unguten Gefühl wandte sie sich schließlich vom Fenster ab und schlüpfte ins Bett. Sie zog die Decke bis zum Kinn, so als könne diese sie vor dem schützen, was da im Schutz der Nacht herumschlich, was immer es auch sein mochte …

      *

      Heather schlief in dieser Nacht tief und traumlos.

      Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, klopfte eines der Dienstmädchen an ihre Tür und rief: »Miss Heather, aufstehen!«

      Heather war es nicht gewöhnt, »mit den Hühnern« aufzustehen, wie das geschwätzige Dienstmädchen namens Polly anmerkte.

      »Aber das macht die Übung«, meinte die kecke Rothaarige, während sie geschickt Heathers Koffer öffnete und sogleich damit begann, deren Sachen in den Schrank zu räumen.

      »Bist du schon lange in Hanley-Hall, Polly?«, fragte das junge Mädchen, das sich ein Gähnen verkneifen musste.

      »Seit zwei Jahren. Das Personal wechselt hier öfter, niemand geht freiwillig zu den Hanleys. Leider habe ich aber nichts anderes bekommen können.«

      Heather wusch sich an der Porzellanschüssel, die auf der Kommode stand und zog sich dann an. »Was meinst du damit, Polly? Sind meine Verwandten denn schlechte Arbeitgeber?«

      »Nicht nur das.« Polly lächelte abfällig. »Geizig sind sie, beuten die Leute aus. Und Mister Reginald … Na, das werden Sie noch selbst herausfinden. Ich sag lieber nichts mehr, sonst verbrenne ich mir nur wieder den Mund.«

      »Was wolltest du denn sagen? Hast du kein Vertrauen?«

      Polly musterte das junge Mädchen abwägend. Heather machte einen sympathischen Eindruck auf sie und sie beschloss, offen zu ihr zu sein. Ganz gewiss war sie weder eine Gewitterziege wie die Hausherrin noch so haltlos wie deren Mann …

      »Sind Sie wirklich mit den Hanleys verwandt?«

      »Ja, das bin ich. Meine verstorbene Mutter war eine Kusine von Tante Prudence«, gab sie ehrlich Auskunft.

      »Und Ihre Eltern sind mit der Titanic untergegangen? Das tut mir sehr leid! Ich hab von Leuten gehört, die auch auf dem Schiff waren. Es muss schlimm gewesen sein. Besser nicht mehr daran denken, nicht wahr? Man kann es ja doch nicht ändern. Dann stehen Sie jetzt ganz allein auf dieser Welt.«

      »Die Hanleys sind meine einzigen Verwandten.«

      »Ich verstehe. Also, dann will ich Ihnen einen Rat geben, Miss: Halten Sie sich von Mister Reginald fern. Der kann nämlich seine Finger nicht bei sich behalten. Kein Wunder, wenn man mit einer so dürren Gewitterziege verheiratet ist …«

      »Polly! Es gehört sich nicht, so etwas zu sagen«, rügte Heather sie entrüstet. »Und ich möchte solche Reden auch nicht mehr hören, hast du mich verstanden?«

      Das Dienstmädchen hob schnippisch die Schultern. »Ich sag’s nur, wie es ist. Was glauben Sie, warum die Mädchen hier ständig wechseln? Wer eine bessere Anstellung kriegt, ergreift die Flucht. Und das ist die Wahrheit.«

      Heather setzte sich, damit Polly sie frisieren konnte. Sie war geschickt, ging behutsam mit den goldblonden Locken um und legte sie zu einer sehr hübschen Frisur. Heather bedankte sich und fragte ernst: »Stimmt das wirklich, was du mir da eben über Mister Reginald erzählt hast?«

      »Es stimmt. Ich rede viel, aber ich lüge nie. Schön sehen Sie aus, Miss Heather. Bald werden Sie sich hier nicht vor Verehrern retten können, denken Sie an meine Worte.«

      »Jetzt sollte ich wohl zum Frühstück gehen, damit ich nicht gleich am ersten Tag zu spät komme.«

      Polly nickte. »Das Frühstückszimmer ist neben dem Wohnzimmer auf der rechten Seite der Halle, nicht zu verfehlen.« Sie fing an, aufzuräumen und summte dabei ein lustiges Lied vor sich hin. Bevor Heather das Zimmer verlassen hatte, drehte Polly sich aber noch einmal zu ihr um und sagte: »Geben Sie nur Acht auf sich, Miss Heather. In diesem Haus ist nicht alles so, wie es scheint. Die Hanleys waren ganz versessen darauf, Sie hier aufzunehmen. Wenn Sie mich fragen, führen die etwas gegen Sie im Schilde.«

      »Was denn? Wollen Sie mich vielleicht mit einem Torfstecher verheiraten?«, scherzte das junge Mädchen spöttisch.

      »Das wohl nicht, denn das würde ihnen keinen Profit bringen. Und dafür tun die beiden einfach alles.« Polly nickte mit gewichtiger Miene. »Alles, sage ich Ihnen!«

      »An mir werden sie sich kaum bereichern können, denn außer einem kleinen Erbe besitze ich nichts.«

      »So? Ich dachte, Sie wären eine reiche Erbin.«

      »Leider nein. Du siehst, Polly, meine Verwandten hatten keinen Grund, mich aufzunehmen, außer ihrer Herzensgüte.«

      Polly hob die Schultern und verzog den Mund. Dass ihre Herrschaft so großzügig sein könnte und eine mittellose Waise

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