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Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Читать онлайн.Название Handbuch des Strafrechts
Год выпуска 0
isbn 9783811453555
Автор произведения Manuel Ladiges
Издательство Bookwire
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Die seitdem vom Bundesgesetzgeber entfaltete, zunehmend regere Tätigkeit kann in den ersten drei Jahrzehnten in zeitliche Phasen unterteilt werden. Danach lassen sich nur noch einige thematische Entwicklungslinien aufzeigen, die parallel und unverbunden verlaufen. Übergreifende Ansätze fehlen, auch in Aufgabenstellung und Resultat der 2014 vom zuständigen Bundesminister einberufenen Expertenkommission. Im Überblick:
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Die vordringlichste Aufgabe nach Gründung der Bundesrepublik war die Wiederherstellung der während der Besatzungszeit zersplitterten Rechtseinheit und Erneuerung der rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafprozesses, die mit dem VereinhG 1950 begann und bis in die 1960er Jahre hinein bewältigt wurde. Nach der Phase der Konsolidierung begann die Anpassung des einfachen Verfahrensrechts an die Anforderungen aus der Verfassung und der inzwischen ratifizierten EMRK, wofür vor allem die sog. „kleine“ Strafprozessreform des StPÄG 1964 steht. Es folgt die Phase der mit einem Ausdruck von Baumann[2] sog. „Strafprozessreform in Raten“, d.h. dem Versuch einer Erneuerung des Verfahrensrechts durch mehrere umfangreiche Novellen, namentlich dem 1. StVRG, der sich bis in die 1980er Jahre hinzieht. In diesen Zeitraum fällt mit dem Ergänzungsgesetz 1974, dem Antiterrorismusgesetz 1976, dem Kontaktsperregesetz 1977 und dem StPÄG 1978 der Beginn der bis heute immer wieder aufscheinenden Entwicklungslinie der Terrorismusbekämpfung, die man mit Rieß als parallel verlaufende Phase der „reaktiven Krisenbewältigung“[3] begreifen kann und die auch Spuren im Strafprozessrecht hinterlässt.
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Anschließend beginnt ab 1979 eine bis heute andauernde Reihe von Novellen, die der Entlastung und Vereinfachung oder auch Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtrechtspflege dienen. Seit dem Ende der 1980er Jahre ist eine prägnante Einteilung der legislativen Aktivität in zeitliche Phasen kaum mehr möglich, vielmehr lassen sich einige wiederkehrende Themen benennen, wie flankierende Maßnahmen der Verbrechens„bekämpfungs“gesetzgebung durch Ausbau der Ermittlungseingriffe, Prozessökonomie (Entlastung, Vereinfachung, Beschleunigung), Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Datenschutzes, Stärkung der Rechte des mutmaßlichen „Opfers“ nebst Wiedergutmachungsmaßnahmen, Zeugenschutz sowie der Verfahrensbeendigung mit Zustimmung des Beschuldigten oder Angeklagten.
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Eine umfassende Reform der aus der Kaiserzeit stammenden Strafprozessordnung ist seit der Frühzeit der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein von Politik und Wissenschaft durchaus befürwortet worden. Ansätze dazu verliefen aber rasch erfolglos, unvollendet blieb ebenso die stattdessen geplante schrittweise Reform durch mehrere große Novellen. Eine amtliche Strafprozesskommission wurde erst 2014 einberufen, freilich mit engen Zeitvorgaben und ohne den Auftrag einer Gesamtreform. Die Vorstellungen, was an die Stelle des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Modells des reformierten Strafprozesses treten sollte, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Dachte man anfangs an Annäherungen an den Parteiprozess anglo-amerikanischer Prägung mit einer Zweiteilung der Hauptverhandlung, so trat später eine Neugestaltung des Gerichtsaufbaus und des Rechtsmittelsystems in den Vordergrund, dann eine Neugestaltung des Ermittlungsverfahrens. An die Stelle von Gesamtkonzepten sind seit längerem einzelne Themengebiete getreten. Zugleich stellte sich heraus, dass das Geschehen in deutschen Gerichtssälen immer weniger durch das Strafverfahrensrecht als durch informelle Praktiken bestimmt wird. Der wohl tiefgreifendste Eingriff in das Gefüge der StPO ist durch das Verständigungsgesetz 2009, das diese Praktiken kanalisieren soll, erfolgt, ohne dass die Tragweite im Gesetzgebungsverfahren adäquat reflektiert worden wäre. Die legislative Umsetzung eines Teils der Vorschläge der Expertenkommission von 2015 ist inzwischen durch eine Vielzahl punktueller Änderungen erfolgt.
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Im Folgenden wird ein zusammenfassender Abriss der einzelnen Phasen und wichtigsten Entwicklungslinien der Gesetzgebung gegeben. Eine umfassende Darstellung der Änderungsgeschichte der StPO im Detail wird nicht angestrebt;[4] eine Einbeziehung der zahlreichen amtlichen und privaten Reformentwürfe würde den Rahmen eines Kapitels sprengen.
I. Konsolidierung: Wiederherstellung der Rechtseinheit (1950–1964)
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Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (VereinhG)[5] stellte der Bundesgesetzgeber zum einen die Rechtseinheit auf dem Gebiet der neu gegründeten Bundesrepublik wieder her und konzentrierte zum anderen das Strafverfahrens- und zugehörige Gerichtsverfassungsrecht wieder vollständig in StPO und GVG, indem zahlreiche außerhalb dieser Gesetze stehende Vorschriften der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus aufgehoben wurden. GVG, ZPO und StPO wurden zugleich erstmals seit der Emminger-Reform 1924 neu bekannt gemacht. Das Ziel des Gesetzgebers war restaurativ; dem durchaus erkannten Reformbedarf, etwa der Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz für Schwerkriminalität, sollte später Rechnung getragen werden. Wiederhergestellt wurde im Wesentlichen der Rechtszustand vor 1933, wobei Regelungen aus der NS-Zeit, die auf frühere Vorarbeiten zurückgingen und sich bewährt hatten, beibehalten wurden wie z.B. §§ 206a, 251 StPO. Wiedereingeführt wurden das 1942 abgeschaffte Eröffnungsverfahren sowie die gerichtliche Voruntersuchung. Zu den wenigen Neuerungen gehört u.a. der auf die Missbräuche in der NS-Zeit reagierende § 136a StPO, die neuen §§ 81a bis 81c StPO über körperliche Untersuchungen, die Integration des beschleunigten Verfahrens in die StPO (§§ 212 bis 212b), der Numerus clausus der Ablehnungsgründe in § 244 StPO des dadurch gestärkten Beweisantragsrechts in der Hauptverhandlung in allen Verfahren[6] sowie das amtsrichterliche Strafverfügungsverfahren (§ 413 StPO a.F.), das das polizeiliche ersetzt. Das in Art. 96 Abs. 1 GG a.F. vorgesehene obere Bundesgericht erhielt die Bezeichnung „Bundesgerichtshof“ mit Sitz[7] in Karlsruhe (§ 123 GVG). Neu geschaffen wurde die Pflicht der Oberlandesgerichte zur Divergenzvorlage in Strafsachen (§ 121 Abs. 2 GVG).
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Die als erforderlich erachtete umfassende Reform des Strafprozessrechts sollte der Reform des StGB nachfolgen, für die 1954 die Große Strafrechtskommission eingerichtet wurde. Da sich die Strafrechtsreform viel länger hinzog als erwartet, begannen 1959 Vorarbeiten für ein Vorschaltgesetz zur Strafprozessreform, das in der 3. und 4. Legislaturperiode im Bundestag intensiv beraten,[8] aber erst Ende 1964 verabschiedet werden sollte.[9]
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Bis Ende 1964 erfolgten nur wenige Änderungen, die aber zum Teil bis heute Bestand haben. So schuf das 1. StrÄndG vom 30. August 1951,[10] das das Staatsschutzstrafrecht reformierte, mit der Staatsschutzkammer des § 74a GVG die erste Spezialkammer beim LG und den Ermittlungsrichter beim BGH (damals § 168a StPO); eingefügt wurde ferner die Einstellungsmöglichkeit bei möglichem Absehen von Strafe (damals § 153a, heute § 153b StPO). Das Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. Dezember 1952 schafft die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, § 111a StPO.[11] Das 3. StrÄndG vom 4. August 1953[12] führt zur Entlastung des BGH das erweiterte Schöffengericht wieder ein, § 29 Abs. 2 GVG, schreibt nun in § 35a StPO eine Rechtsbehelfsbelehrung bei befristeten Rechtsmitteln vor, erweitert die Zeugnisverweigerungsrechte der Berufsträger in §§ 53, 53a, 97 StPO und präzisiert die Regelung des Klageerzwingungsverfahrens. Eingeführt wird auch in einem neuen § 467 Abs. 2 S. 2 StPO die kostenmäßige Unterscheidung zwischen Freisprüchen wegen erwiesener Unschuld und mangels Beweises, womit auch rechtlich ein „Freispruch zweiter Klasse“ entsteht. Der heutige § 153d StPO wurde durch das 4. StrÄndG[13] eingefügt. Die bisher in §§ 2 bis 9 GVG rudimentär geregelte Amtsstellung der Richter wurde, wie es Art. 98 Abs. 1 GG verlangt, in einem eigenen Bundesgesetz, dem Deutschen Richtergesetz vom 8. September 1961,[14] eingehend reglementiert. Von Bedeutung sind ferner