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für Stephan Remmler, den TRIO-Sänger, dessen Hit „Da Da Da“ sie mir laut und respektlos und mit feuchter Aussprache mitten ins Gesicht singen. Und dann gibt’s da noch diese Ärztin, die mich bisher noch nicht einmal richtig angeschaut hat … und jetzt endlich schmeißt sie Pit und seinen Kumpel raus.

       Raus mit euch, ihr schrecklich unfähigen, ihr schrecklich ungerechten Pathologen …

      Ich sehe jetzt keine Person mehr, kein dämliches oder beleidigtes Gesicht, aber ich kann mir denken, dass Pit ziemlich beleidigt sein muss. Er (oder Tim) gibt ein Räuspern von sich, dann schlurfen Schritte. Sie schlurfen Richtung Ausgang, nehme ich an. Tatsächlich, Pit ist offensichtlich eingeschnappt, denn nun fragt er die Ärztin aus einiger Entfernung, warum sie nicht einfach ein rotes Bändchen um den Arm trägt, wenn sie ihre Tage hat, damit die Leute wissen, woran sie sind. Ich höre noch, wie sie ein wirklich wütendes „RAUS!“ brüllt. Dann ist wieder ein leises Zischen zu hören und wahrscheinlich öffnet sich in diesem Moment die Druckluft-Tür, aber all diese Geräusche vermischen sich in meinem Gehör zu einer völlig neuen und doch irgendwie bekannten Szenerie.

      Ich höre mit einem Mal (Vergangenheit, ick hör dir trapsen!), wie es bei mir zuhause im Erdgeschoss klingelt, während ich oben im Badezimmer noch unter der Dusche stehe. Ich erinnere mich jetzt, wie ich mich eilig abrubbelte und an die Sprechanlage eilte. Es war mein Hausarzt, ein guter Bekannter, der mich seit einigen Wochen bekniete, ich möge mich unbedingt impfen lassen. Er meinte es zweifellos gut mit mir. Ich hatte mir schnell einen Trainingsanzug angezogen – so ein Teil war neuerdings kein modisches Verbrechen mehr, vielmehr ein must have.

      „Aha“, sagt Dr. Neumann. „Du hast schon dein Krankenhaus-Outfit angezogen.“

      Wir hatten gelacht. Dann habe ich ihm ein weiteres Mal erklärt (es war wohl schon mein dritter Versuch), warum ich mich in meinem besonderen Fall nicht mit einem völlig neuartigen, durch keinerlei Langzeitstudie abgesicherten Grippeimpfstoff impfen lassen wollte.

      Während ich im Moment immer noch den eiskalten Stahl des Seziertisches unter mir spüre, bin ich mir der damaligen Situation und meiner Argumentation voll bewusst. Das ermutigt und erschüttert mich zugleich. Ich bin mir jetzt sicher, dass ich zwar lebe und dennoch dieser Situation, in die ich geraten bin, hilflos ausgeliefert bin.

      Meine Erinnerung trügt mich nicht, mein Gehirn funktioniert noch einwandfrei. 1970 war ich zwanzig Jahre alt und lebte in Westberlin. Damals war in Funk und Fernsehen und von der BILD-Zeitung bis zum SPIEGEL vor einer schrecklichen Infektion, der Hong-Kong-Grippe, gewarnt worden. Deshalb hatte ich mich im Frühherbst 1970 von meiner Hausärztin mit dem gerade ein Jahr zuvor in Europa zugelassenen neuen Influenza-Impfstoff impfen lassen. Innerhalb eines Tages erkrankte ich schwer mit Dauerfieber über vierzig Grad. Meine normale Körpertemperatur beträgt 36,5 Grad. Meine damalige Ärztin in Berlin-Charlottenburg war täglich in unsere Wohngemeinschaft gekommen, um mich mit Fieber senkenden Mitteln zu behandeln. Aber sie schlugen nicht an. Das Fieber zehrte acht lange Tage immer mehr an mir. Dann konnte ich nicht mehr essen und litt abwechselnd unter Dauerschüttelfrösten und enormem Schwitzattacken.

      Schlafanzug und Bettwäsche mussten mehrmals am Tag gewechselt werden. Schließlich wies mich die Hausärztin in das Martin-Luther-Krankenhaus ein. Von ursprünglich 78 Kilo war mein Gewicht innerhalb von zehn Tagen auf 54 Kilo heruntergegangen. Meine Muskeln degenerierten zu wabbeligem Pudding. Im Krankenhaus rang ich vier Wochen lang um mein Leben und hing Tag und Nacht an Infusionen. Nachdem ich entlassen worden war, hatte ich für ein halbes Jahr ein durchgehendes Schlappheits- und Mattigkeitsgefühl und keinen Geschmackssinn. Das alles kehrte erst im Laufe des kommenden Jahres langsam und etappenweise wieder zurück.

      „Sehr bedauerlich, wirklich, dem ist nichts hinzuzufügen … aber …“, hatte Dr. Neumann meinen Krankenbericht von damals kommentiert, bevor er kurz darauf fortfuhr: „… aber wenn du einmal ein Auto kaufst, dass schon nach einigen Kilometern einen Motorschaden hat, wirst du dir dann niemals mehr ein Auto anschaffen?“

      Ich hatte Rainer Neumann, meinen lieben Bekannten, den Arzt meines Vertrauens, mit dem ich in einem gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Flutopfern im Ahrtal zusammenarbeitete, erstaunt angeschaut. Ich war erst einmal ob dieses hanebüchenen Vergleichs sprachlos. Dann setzte ich uns einen grünen Tee auf und sagte nur einen Satz: „Rainer, glaubst du im Ernst, dass dein Vergleich auf die Sache zutrifft?“

      Er hatte mich gutgläubig, von seinem Argument absolut überzeugt, angeschaut und mir eine Gegenfrage gestellt: „Was sollte an dem Vergleich falsch sein?“

      „Bleiben wir bei den Autos!“, antwortete ich ihm. „Stell‘ dir vor, du fährst auf der Autobahn und hast es satt, von den hinter dir fahrenden Geschossen gejagt zu werden und möchtest entspannt fahren. Du siehst auf der rechten Fahrspur eine große Lücke zwischen zwei LKW, die beide mit ihren angenehmen 100 Stundenkilometern dahinfahren. Freiwillig wechselst du zu ihnen auf die Spur.

      Nach einer Weile bremst der vordere Lastwagen langsam ab, du ebenso, aber der hinter dir fahrende LKW-Fahrer reagiert nicht zeitig und du siehst ihn näher kommen und links neben dir schießen die Geschosse vorbei und du kannst nicht ausweichen und wirst in Sekundenschnelle zusammengequetscht.

      Dein Auto ist futsch, aber das ist das Wenigste. Du selbst wirst gerade noch lebend aus dem Auto gezerrt, bevor es lichterloh brennt; du hast zahlreiche Knochenbrüche, überstehst das Ganze, auch wenn du noch monatelang darunter körperlich und psychisch leidest und nicht voll funktionsfähig bist. Du zweifelst, ob du jemals wieder gesund wirst, ob du jemals studieren und jemals deinen Lieblingsberuf als Journalist ausüben kannst

      Und jetzt meine Frage an dich: Würdest du dich nach einem solchen Erlebnis jemals wieder freiwillig und ohne Not in die rechte Autobahnspur zwischen zwei LKW einfädeln?“

      Trottel am Werk

      Ich starre immer noch in das grelle Vergewaltigungslicht. Um nicht diesem Dauerschmerz ausgeliefert zu sein, versuche ich meine Augen nach innen zu drehen, was natürlich nicht funktioniert. Also bemühe ich mich um die Gnade meines inneren Auges, auf dass es mich ablenken und darüber aufklären möge, was vielleicht wirklich am Tag meiner ersten Corona-Impfung geschehen war. Vielleicht ist nicht der Stich in den linken Oberarm die Ursache dafür, dass ich nun hier liege. Ich konzentriere mich ganz und gar auf die Frage, was in den Stunden vor meinem gemeinsamen Gang mit Ben zum Impfzentrum geschehen war.

      Und wo überhaupt war jetzt Ben?

      An diesem Punkt komme ich nicht weiter. Mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert im Moment offensichtlich nicht so gut wie meine Langzeiterinnerung. Ich weiß nur eines mit Sicherheit: Nach dem Impfstich dauerte es nicht lange, bis mich eine Dunkelheit überkam … bis ich ein rollendes Gefühl unter meinem Hintern verspürte ... auf einer fahrbaren Krankentrage in einem nach Plastik stinkenden Leichensack mit Reißverschluss, und dann der dämliche Rhythmus des quietschenden Rades und die noch dämlichere Stimme: „In welchen sollen wir ihn bringen?“ (Pit: „508, glaub ich. Ja, doch, Tiefgeschoss, die Fünfhunderter-Abteilung.“)

      Wichtig ist, dass ich überhaupt denken kann – und diese idiotischen Staatsdiener in ihrer trostlosen Pathologie, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun haben, als sich über die ihnen anvertrauten Leichen lustig zu machen, merken nicht, dass ich denke, dass ich atme, dass ich lebe. Sie tun so, als sei es das Natürlichste der Welt, dass hier nur Leichen existieren. Real existierende (lebende) Leichen. Kaum zu glauben, dass sie so unsensibel und unkritisch sind und nicht einmal einen winzigen Gedanken-Funken daran verschwenden, dass ich noch leben könnte. Ist natürlich mein Pech.

      Allmählich bezweifele ich, dass dieser Raum etwas mit Medizinwissenschaften und Pathologie zu tun hat.

      Doktor Schlauer, der Arzt, der am besten TV-Arzt geworden wäre, ich kenne ihn. Ausgerechnet er hat mich für tot erklärt. Wie ich vermuten kann, hat er das ohne große Umstände getan, ganz unbürokratisch, einmal einen Spiegel vor den Mund halten, dann den Puls fühlen, dann die Lampe aufs Auge richten – alles tot und starr, gut so, Leichenschein ausfüllen, ab zur Pathologie wegen ungeklärter Todesursache,

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