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Jetzt, auf dem Seziertisch, arbeite ich wirklich schwerer, als ich je in meinem Leben gearbeitet habe, weil ich jetzt um mein Leben arbeite, und die da neben mir müssen mich hören, lieber Jesus, sie müssen!

       Nnnnnnnn …

      „Hören Sie gerne House-Musik?“, fragt die Ärztin (Sie fragt den berühmten Mr Schriftsteller, nehme ich an). „Ich habe aber auch amerikanische Country-Songs …“, beeilt sie sich hinzuzufügen.

      Stephen gibt einen abwehrenden Laut von sich. Ich höre ihn kaum und ziehe keine unmittelbaren Schlüsse aus dem Gesagten, was vermutlich eine Gnade ist.

      „Schon gut“, sagt sie lachend. „Ich habe auch klassische Musik.“

      „No, nein, nein, no Classics, please!“, ruft Grusel-King aus. „Haben sö dee Toten Hosen?“

      „Warum nicht? Eine liegt genau vor uns“, scherzt Frau Dr. Möller und fügt halb singend hinzu: „An Tagen wie diesen …“

      „Haben Sie die wirklich in Ihrer Playlist?“, fragt ungläubig Klaus, der unsichere Anlernling. Und ich hoffe schon, dass er über all dem vergisst, mich aufzuschneiden.

      „Na, seh‘ ich etwa immer noch spießig aus, wenn ich meinen grünen Kittel ausziehe?“

      Ich höre die Stimme der Ärztin und das Rascheln eines Kittels, der gerade abgestreift wird. Sie wird doch vor Stephen King, Klausi-Mausi und mir keinen Striptease hinlegen?

      Hört mir zu!, kreische ich in meinem Kopf, während meine unbeweglichen Augen zu dem eisig-weißen Licht aufstarren. Hört auf, wie Hausfrauen auf dem Marktplatz zu schwatzen, und hört mir endlich zu!

      Ich fühle mich verzweifelt – wie damals zu meinen besten Facebook-Zeiten, als ich mich selbst mit Bluttransfusionen retten musste und genau wusste, dass die Menge im Beutel nicht ausreichen würde. (Dass sich so vieles im Leben wiederholt, ist eine der Merkwürdigkeiten, die ich mir als Story vorknöpfen werde, sofern ich diesen Seziertisch hier lebend verlasse … Obwohl, stopp: Als nächstes Projekt steht »Willi, der Held von Lich« auf meinem Schreibplan – ein wütender Elon-Musk-LKW, selbstfahrend, selbstdenkend, der gegen ein Logistikmonster kämpft …)

      Ich fühle wieder Luft durch meine Atemwege strömen, und das bringt mich auf die Idee, was immer mir zugestoßen ist, könnte allmählich abklingen … aber das ist nur ein schwaches Echozeichen auf dem Radarschirm meiner flüchtigen Gedanken. Vielleicht klingt es ab, aber eine Erholung alleine wird jetzt keine Option für mich sein. Sie müssen mich hören! Meine gesamte Energie ist darauf konzentriert, sie dazu zu bringen, meine zart gehauchten Töne zu vernehmen, und diesmal werden sie mich hören, das könnte ich wetten.

      „Gut, dann die Toten Hosen“, sagt sie. „Es sei denn Mr King möchte aus gegebenem Anlass »Mein Herz« von Beatrice Egli hören. You like her?“

      Endlich sehe ich das Gesicht meines Protagonisten kurz über mir, sehe seine schräge Brille, sehe, wie er verneinend den Kopf schüttelt („Nein, keine Egli isch kennen“). Ich sehe, wie er seine Brille zurechtrückt, als er wohl die Instrumente in Augenschein nimmt, die links von mir auf einer (dem Klang nach) stählernen Ablage liegen; sehe, wie er wahrscheinlich zur Ärztin schaut, sehe ihren Zeigefinger auf die Gegend deuten, wo mein Herz noch schlägt, was sie und die beiden anderen allerdings nicht wissen.

      Jetzt spricht Frau Doktor ihren Helfer an: „Sind Sie einverstanden, wenn ich zu Ehren Ihrer ersten Autopsie und zu Ehren unseres Ehrengastes einen Song der Toten Hosen abspiele?“

      „Ist mir eine Ehre!“, ruft er, und alle drei lachen.

      Mein Ton beginnt herauszukommen, und diesmal ist er lauter. Nicht so laut, wie ich gehofft habe, aber laut genug. Sie müssen ihn hören, sie müssen! Dann, als ich eben beginne, den Ton wie eine rasch erstarrende Flüssigkeit aus meiner Nase zu pressen, füllt der Raum sich (viel zu laut) mit dem Gitarren-Geklimper und den (für mich) absolut unpassenden Singsangworten: „Ich wart‘ seit Wochen auf diesen Tag …“

      „Leiser!“, schreit Frau Dr. Cisco-Möller. Sie schreit komisch übertrieben. Bei diesem ganzen Krach ist mein eigener nasaler Laut, ein verzweifeltes kleines Summen durch die Nase, nicht besser zu hören als ein Flüstern in einer Eisenschmiede.

      Jetzt beugt ihr Gesicht sich wieder über mich, und mich erfasst neues Entsetzen, als ich sehe, dass sie eine Schutzbrille aus Plexiglas trägt und ihre Gesichtsmaske über Mund und Nase hochgezogen hat. Sie blickt über ihre Schulter zurück. Gleich wird sie Stephen erklären, wer von ihnen was und warum und wie aufschneidet und wonach sie suchen und was sie zu finden hoffen. Vielleicht erfahre ich in meinen letzten Minuten zumindest von ihr, was mir zugestoßen sein könnte. Eine Vermutung würde mir reichen.

      „Ich strippe ihn für Sie“, erklärt sie Klaus, dann beugt sie sich mit einem glitzernden Skalpell in der Hand zu mir her, beugt sich, vom Gitarren- und Gesangsdonner der Toten Hosen begleitet, über mich.

      Meine momentan einzige geistige Stärke liegt in der Rekapitulation: Noch immer liege ich starr und steif in einem Autopsie-Raum und rechne damit, dass man mich mit einem zackigen Schnipp-schnapp aufschneidet, um meine angebliche Todesursache zu ermitteln. Zu meiner großen Überraschung tritt Stephen King neben die Aufschnippelmedizinerin und ihr Helferlein (Klausi-Mausi), um sich alles erklären zu lassen, weil er dieses Mal eine authentische Horrorgeschichte schreiben möchte. Er möchte alles möglichst realistisch schildern, wofür ich als Autor durchaus Verständnis aufbringe. Aber nicht als scheintote Nichtleiche, die bloß im Wachkoma liegt und alles (sehr realistisch) mitbekommt. Soll ich ihn jetzt hassen?

      Die Pathologin beugt sich über mich, und ich hoffe, dass sie das blanke Entsetzen in meinen Augen erkennen wird. Ich summe verzweifelt, aber das ist zwecklos. Ich kann mich nicht einmal selbst hören.

      Das Skalpell schwebt eine kurze Zeit über mir, dann schneidet es.

      Ich schreie in meinem Kopf auf, aber ich spüre keinen Schmerz, sondern nur, wie mein Polohemd in zwei Stücken zur Seite gleitet. (Und ich dachte erst, ich sei schon nackt; dabei hatte man mich wahrscheinlich nur aus dem Leichensack befreit.) Mein Hemd fällt auseinander, wie mein Brustkorb es tun wird, wenn Klaus seine erste Brustkorböffnung an einem lebenden Patienten vornimmt.

      Ich werde hochgezogen. Mein Kopf fällt nach hinten, und ich sehe einen Augenblick lang Klaus von unten, der sich seine Schutzbrille aus Plexiglas aufsetzt, während er an einem Stahltisch steht und ein erschreckendes Sortiment von Werkzeugen begutachtet. Ich sehe sie nur flüchtig, sehe den erbarmungslosen Satinglanz stählerner Klingen. Dann werde ich wieder flach hingelegt, und mein Hemd ist fort. Jetzt spüre ich meine Haut noch mehr als zuvor.

      Ich bin bis zur Taille nackt. In dem Raum ist es kalt. Dann ist wieder Dr. Möllers halbvermummter Kopf über mir.

      Sieh dir meine Brust an!, kreische ich sie an. Du musst sehen, wie sie sich hebt und senkt, selbst wenn meine Atmung noch so flach ist! Du bist die gottverdammte Expertin, Herrgott noch mal!

      Stattdessen sieht sie durch den Raum und spricht laut, um die Musik der Toten Hosen zu übertönen („In dieser Nacht der Nächte, die uns so viel verspricht, erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht“, singt diese unsensible Band, und ich stelle mir vor, wie ich diesen grölenden Siegersong in den Höllenfluchten bis in alle Ewigkeit hören werde.)

      „Worauf tippen Sie? Boxer oder Jockey?“

      Mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen erkenne ich, wovon die Rede ist.

      „Boxer!“ ruft Klaus zurück.

      Von Stephen King höre ich kein Wort, außer vielleicht einem dezenten Räuspern, das zu ihm gehören könnte.

      Klaus: „Natürlich! Sehen Sie sich den Kerl bloß an!“

      Arschloch!, würde ich am liebsten brüllen. Du denkst wahrscheinlich, dass jeder Ü-Vierziger Boxershorts trägt! Du denkst wahrscheinlich, dass du mit vierzig keinesfalls …

      Frau Doktor knöpft meine Bermudashorts auf und zieht

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