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Sündenlohn. Andre Rober
Читать онлайн.Название Sündenlohn
Год выпуска 0
isbn 9783738062830
Автор произведения Andre Rober
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sarah beobachtete ihre Mutter, wie sie schweigend jeden einzelnen Stängel der Tulpen penibel anschnitt und den Strauß in einer mit Jagdmotiven verzierten Zinnvase mit Henkel neu arrangierte. Als das recht grotesk wirkende Ensemble ihren Ansprüchen zu genügen schien, drückte sie es Sarah in die Hand.
»Wollen wir in den Wintergarten gehen? Dort ist es um diese Zeit am schönsten.»
Sarah nickte und ließ ihrer Mutter den Vortritt, die forschen Schrittes die Küche auf dem Weg zum Speisezimmer verließ.
2
Da war sie! Also hatte sich das Warten gelohnt! Er hatte nicht damit gerechnet, sie heute, wo er sie doch am Vormittag gesehen hatte, noch einmal an der Bushaltestelle anzutreffen. Aber offensichtlich war sie am Mittag zurück in die Stadt gekommen und befand sich - es war mittlerweile dunkel - wieder auf dem Nachhauseweg. Sie hatte dieselben Kleider an wie vor einigen Stunden und wieder beobachtete er genau, wie sie sich bewegte, die unbekümmerte, fast kindliche Art, wie sie ihre Arme schlenkerte. Wie sie ihre Schritte wie im Tanz setzte und sie ausgelassen und, ohne auf die anderen Leute zu achten, den Kopf zu dem Rhythmus aus ihren Ohrhörern hin- und herbewegte und dabei stumm den Liedtext mit den Lippen mitsang. So nah war er ihr heute Morgen nicht gekommen. Er selbst saß auf einem der verzinkten Stühle der überdachten Bushaltestelle, wo in Kürze ein Bus der Linie drei ankommen und die hier wartenden Menschen auf dem Weg nach Hause mitnehmen würde. Sie kam über die Straße direkt auf ihn zu, und wieder folgte er ihr mit seinem Blick aufs Genaueste. Aus einer unverfänglichen Kopfhaltung schielte er zu ihr, immer darauf gefasst, dass sich ihre Blicke treffen könnten und er dann schnell woanders hinsehen musste. Doch sie war so vertieft in ihre Musik und ihre Gedanken, dass diese Gefahr nicht bestand. Jetzt erreichte sie die Bushaltestelle, schaute auf ihre Armbanduhr und blickte sich um. Obwohl etwa acht Leute ebenfalls auf den Bus warteten, war der Sitz zu seiner Rechten nicht belegt. Ob sie sich dort hinsetzen würde? Innerlich spannte er sich an und hoffte, dass sie die paar Schritte in seine Richtung machen würde, um sich neben ihm niederzulassen. Dann wäre sie in Berührweite. Nicht, dass er es gewagt hätte, sie in irgendeiner Form anzufassen, auch eine scheinbar zufällige Berührung wollte er auf keinen Fall riskieren. Aber für ihn bedeutete die physische Nähe eine ungeheure Intimität, fast, als würden sich ihre Auren überlagern. Er würde den Luftzug spüren, den sie beim Hinsetzen verursachte, er würde hören, wie beim Umdrehen ihre Schuhsohlen leise über die Betonplatten scheuerten, vielleicht würde er sogar ihren Körpergeruch oder ihr Parfüm riechen können. Doch es kam anders. Sie lief zwar noch ein paar Schritte auf ihn zu, lehnte sich jedoch an die Stahlstrebe des Haltehäuschens und stellte, wie am Morgen an der Ampel, einen Fuß auf die Zehenspitzen und wiegte mit dem Bein im Takt der für ihn und die anderen Menschen unhörbaren Musik.
Er starrte vor sich auf den Boden. Seine Augen so weit nach rechts zu verdrehen konnte zu leicht von den Umstehenden gesehen werden. Außerdem, die Erfahrung hatte er schon mehrfach gemacht, erhöhte die extreme Augenstellung einen der, Gott sei Dank, selten gewordenen Krampfanfälle. Also beobachtete er zwischen seinen Schuhen, wie sich ein paar Ameisen fleißig an einem für sie gigantischen Stückchen Brot zu schaffen machten, Stück für Stück abtrennten und mit ihrer Last zwischen den Fugen der Betonplatten verschwanden. Obwohl sie nur in der Lage waren, verhältnismäßig kleine Bröckchen aufs Mal wegzutransportieren, war, als nach wenigen Minuten die Motorbremse des eintreffenden Busses zu hören war, fast das gesamte Stück Brot im Erdboden verschwunden.
Er hob den Kopf.
Linie drei.
Sie machte sich bereit einzusteigen. Folglich erhob auch er sich bemüht lässig, ließ den meisten der Mitwartenden den Vortritt und stieg dann durch die hintere Tür in den Bus ein. Er wandte sich nach links in der Hoffnung, dort noch einen Platz vorzufinden, denn nur, wenn er hinter der letzten Tür saß, konnte er, ohne sich verdächtig zu verhalten, überwachen, wo sie ausstieg. Er hatte Glück. In der letzten Reihe, wo sich normalerweise immer ein Haufen Jugendlicher lautstark breitmachte, saß niemand. Also wählte er den Platz links außen, so konnte er alle drei Türen bestens einsehen. Als auch der letzte Fahrgast Platz genommen hatte – der Bus war nur gut zu einem Drittel gefüllt – versuchte er, sie zu erspähen. Er ließ den Blick schweifen und fand sie relativ zügig. Sie saß direkt hinter der mittleren Tür mit dem Rücken zu ihm und bewegte immer noch ihren Kopf im Takt.
»Was wolltest du mir denn jetzt so Wichtiges erzählen? Hast du dich doch dazu entschlossen, etwas zu tun, was deiner Intelligenz und deiner Erziehung mehr entspricht, als eine kleine Beamtin bei der Polizei?«
Der Augenblick war gekommen, wo Sarah Hansen ihrer Mutter reinen Wein einschenken musste. Ob sie wollte oder nicht, durch diese Konfrontation mussten sie beide durch. Bevor sie ansetzen konnte, ihrer Mutter von der bevorstehenden Versetzung zu berichten, brachte ihr Gegenüber die immer wieder und wieder aufs Neue geführte Diskussion über Sarahs Beruf auf den Tisch.
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass solch ein Beruf nicht gut für dich ist! Seine Zeit mit Halunken, Schlägern, Mördern und Prostituierten zu verbringen, ist nichts für eine junge Frau aus so gutem Hause, wie du eine bist.« Waldburg Hansen stellte den gut gefüllten Schwenker mit Armagnac auf das Beistelltischchen neben ihrem Fauteuil und beugte sich mit übertriebener Gestik nach vorne.
»Für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften ist es noch nicht zu spät! Du weißt, ich habe immer noch Kontakte in höchste Kreise. Es wäre kein Problem, dich in einer herausragenden Position in einem namhaften Unternehmen unterzubringen!«
Noch vor wenigen Jahren hätte sich Sarah zu diesem Zeitpunkt den Beistand ihres zu damals schon verstorbenen Vaters gewünscht. So wie damals musste sie hier aber alleine bestehen und die langwierige Therapie, mit der sie ihre Mutter-Tochter-Beziehung zuerst analysiert und dann aufgearbeitet hatte, gab ihr jetzt den nötigen Rückhalt.
»Mama, das hatten wir doch schon so oft. Du weißt doch, dass BWL oder VWL nun mal nichts für mich ist. Ich…«
»Nein, Kind, du weißt einfach nicht, was gut für dich ist und was nicht! Und ihren Kindern das beizubringen, dafür sind Eltern ja nun mal da!«
Sie hob kurz den Zeigefinger, lehnte sich dann wieder zurück und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem Armagnac.
»Dein Vater hätte auch gewollt, dass du etwas Ordentliches machst. Ein richtiges Studium, das zu einem anständigen Beruf führt. Polizistin! Was für einen Ruf haben denn Frauen, die als Polizistinnen arbeiten?«
Dass ihre Mutter am heutigen Abend nicht in die Rolle der sorgenvollen, vor Angst um ihre Tochter leidgequälten Mutter schlüpfen würde, hatte Sarah schon bei der Begrüßung gemerkt. Heute war also die strenge, um Ansehen und Ruf bemühte Waldburg Hansen ihr Gegner in der Diskussion und so, wie sie ihren letzten Satz betont hatte, würde auch die du-beschmutzt-das-Ansehen-deines-Vaters-Karte rücksichtslos ausgespielt werden. In welcher Rolle sich ihre Mutter am Ende der Diskussion befinden würde, war sich Sarah noch nicht sicher, aber eines war klar: Beide würden verletzt sein, sie würden sich wieder ein Stück, wahrscheinlich ein sehr großes Stück, voneinander entfernen. Ob es zum Bruch kommen würde, vermochte Sarah zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen, aber sie war entschlossen, auch das zu riskieren.
»So? Mama, erkläre mir bitte mal, welchen Ruf Polizistinnen, so wie ich eine bin, denn haben.«
Natürlich hätte sie gleich auf den Punkt kommen können, ihre Mutter mit ihrer Entscheidung konfrontieren und dann, abhängig