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Sündenlohn. Andre Rober
Читать онлайн.Название Sündenlohn
Год выпуска 0
isbn 9783738062830
Автор произведения Andre Rober
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Anruf erreichte Inge Westerhus während der Montagmorgenbesprechung. Seit zwei Wochen halfen sie und ihr Team, so gut es ging, bei den anderen Dezernaten aus, sofern diese überhaupt Arbeit übrig hatten. Den letzten Fall, einen wegen der Lebensversicherung als Unfall getarnten Suizid, hatten sie abgeschlossen, die Berichte und Dokumentationen lagen beim Staatsanwalt. Seither war nichts in ihrem Zuständigkeitsbereich passiert. Eine Kneipenschlägerei hier, ein Überfall mit einem Taschenmesser dort…, nichts wirklich Herausforderndes. Inge Westerhus konnte sich nicht daran erinnern, wann oder ob dies in ihrer siebenundzwanzigjährigen Karriere als Polizistin zuletzt der Fall gewesen war. Auch wenn die Abteilung Gewaltverbrechen in Husum nicht unbedingt chronisch überbeschäftigt war, so ruhig war es ihrer Meinung nach lange nicht gewesen. Gerade hatten sie in der Besprechung festgestellt, dass niemand mehr Überstunden hatte, die er hätte abbauen können, als das Telefon des Besprechungsraumes kleingelte. Der Beamte der Dienstbereitschaft setzte sie davon in Kenntnis, dass in der Nähe des Sielwerks am Wasserspeicher eine im Wasser treibende Leiche gefunden worden war. Ob es sich dabei um ein Unfallopfer, einen Freitod oder ein Gewaltverbrechen handelte, sei wohl nicht ohne weiteres zu bestimmen.
OK dachte Inge Westerhus, dann also das volle Programm: Kriminaltechnik, Leichenbeschau und natürlich auch Ermittler aus dem Team. Sie überlegte schon, wen sie zum Tetenbüller Sielzug schicken sollte, entschied dann aber, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nicht, dass sie tatsächlich einen Kriminalfall hinter dem Leichenfund vermutete. Sie ging eher davon aus, dass ein einsamer Wattwanderer wieder unvorsichtig gewesen war, und die Umstände relativ schnell geklärt werden würden. Aber da ihre Schwiegermutter diese Woche, und so Gott wollte, auch nur diese Woche, zu Besuch war, brauchte sie wenigstens keine Notlüge aufzutischen, wenn sie wegen eines aktuellen Falles länger im Büro bleiben musste. Ein Blick auf die Uhr machte ihr die Hoffnung zwar zunichte, schließlich war es erst kurz nach halb zehn. Dennoch, entschloss sie rasch, würde der Leichenfund ihr als Vorwand dienen, nicht zum Abendessen zu erscheinen. Also winkte sie noch während des Gesprächs ihrem Assistenten Arved Munz und deutete energisch auf das Telefon in ihrer Hand. Arved, der wie die anderen schon aufgestanden war, sah sie mit gehobenen Augenbrauen fragend an.
»Arbeit«, flüsterte Inge Westerhus, die eine Hand auf dem Mikro des Schnurlostelefons, und so wartete er geduldig, während seine Chefin das Gespräch weiterführte. Bernd Hagen, die spärlichen Unterlagen peinlichst genau sortiert unter dem Arm, und Feit Müller mit dem obligatorischen Schokoriegel in der Hand und braunen Spuren um die Lippen, waren ob des wilden Winkens ihrer Vorgesetzten zunächst auch stehengeblieben. Ihnen bedeutete Inge Westerhus jedoch mit einem zielgerichteten Kopfschütteln, dass sie gehen durften. Sie glaubte nicht, dass sie noch jemanden am Fundort brauchen würde.
Als Arved Munz den silbergrauen Opel Astra Caravan mit etwas zu scharf dosiertem Bremsen auf dem Schotter gerade noch vor der Polizeiabsperrung zum Stehen brachte, war am Sielwerk die Hölle los. Der Fundort war zwar weiträumig abgesperrt, und alle paar Meter wachte ein uniformierter Beamter darüber, dass die Bannmeile auch respektiert wurde, aber außerhalb des gelben Bandes tummelten sich jede Menge Menschen. Die Landwirte, Handwerker und Servicemitarbeiter diverser ansässiger Firmen, die aus beruflichen Gründen die Abkürzung am Damm entlang nahmen, machten jedoch nur einen verschwindend geringen Teil der Menschenmenge aus, die sich hier versammelt hatte. Die überwiegende Mehrheit, und Inge Westerhus verspürte sofort Abscheu und Unverständnis, waren Touristen und Bewohner der nahegelegenen Campingplätze und Ferienunterkünfte. Junge Pärchen mit Kinderwagen oder Hunden, drahtig wirkende Jogger, Familien mit kleinen Kindern, die Schaufeln und Eimerchen noch in der Hand, Radfahrer mit ihren bei Scotty`s Bikeverleih gemieteten Rädern, oder übergewichtige Halb-Senioren mit Nordic Walking Ambitionen - nahezu aus jeder Alters- und sozialen Gruppe fand sich zumindest ein Repräsentant, um der Sensation jenseits der von der Polizei gezogenen und mitunter heftig verteidigten Linie beizuwohnen oder gar ein Foto zu machen. Noch in Gedanken gelangte Westerhus zu den Beamten, die unermüdlich auf die Menge einredeten und sie zum Weitergehen aufforderten. Sie hob zur Begrüßung die Augenbrauen, worauf einer der Uniformierten einen Schritt zu Seite trat und ihr Zugang gewährte. So wie sie sich in gebückter Haltung unter der Absperrung hindurchgeschoben hatte, sorgte ihr Kollege dafür, dass den lüsternen Gaffern der Zutritt wieder verwehrt blieb.
Inge Westerhus bedeutete Arved Munz, schon einmal zu der Stelle im seichten Wasser vorzugehen, wo einige Beamte weiße Folien gespannt hielten, um den Blick auf den Leichnam abzuschirmen. Sie selbst hatte es sich in ihrer langjährigen Dienstzeit zur Gewohnheit gemacht, erst einmal ihren Blick über die komplette Szenerie eines Tat- oder Fundortes schweifen zu lassen, bevor sie sich den Details widmete oder anfing, Fragen zu stellen. Auch wenn in diesem Fall mit Sicherheit davon auszugehen war, dass es sich nicht um einen Tatort handelte, sondern die Leiche mit der auflaufenden Flut angespült worden war und mitunter etliche Kilometer von hier ihren Tod gefunden hatte, nahm sie sich die Zeit. Doch es gab in der Tat nichts, was ihre gesteigerte Aufmerksamkeit erregte. Also folgte sie nach einigen Minuten ihrem Kollegen und schlüpfte durch die Lücke in der weißen Folie, die ihr ein uniformierter Kollege bereitwillig öffnete. Auch hier besah sich Westerhus erst einmal das komplette Bild: der nasse Sand, einige Tangreste, und inmitten eines kleinen Priels des wieder abfließenden Wassers ein unförmiger Klumpen von der Größe eines menschlichen Körpers. Davor kniete ihre Hausärztin Alice Peters, die, da Husum nicht über eine eigene Gerichtsmedizin verfügte, für die erste Leichenbeschau zuständig war. Die durch zahlreiche Kurse und Weiterbildungen für die Zusammenarbeit mit der Polizei qualifizierte Medizinerin war mit Gummistiefeln und einer Anglerhose ausgerüstet und kauerte neben dem Leichnam. In ihrem Rücken standen auf einer hastig über zwei Klappschemeln ausgebreiteten Folie zwei geöffnete Aluminiumkoffer mit den Utensilien der Ärztin. Sie war gerade dabei, über die Armenden der Leiche kleine Plastiktüten zu stülpen und mit Gummiringen zu fixieren. An den Füßen hatte sie diesen Transportschutz bereits angebracht. Inge Westerhus wusste, was das zu bedeuten hatte.
»Also kein natürlicher Tod. Jetzt schon sicher?«, fragte sie, ohne Alice Peters lange zu begrüßen. Da sie erst gestern gemeinsam zu Mittag gegessen hatten, befand sie diese Floskel im Moment für überflüssig. Ohne sich umzudrehen nickte die Angesprochene.
»Ja, jetzt schon sicher! Schau dir das mal an.«
Sie winkte die Polizistin näher zu der Leiche. Inge Westerhus trat heran. Dass der Körper schon mehrere Tage im Wasser gelegen haben musste, war auch ihr sofort klar. Die Reste der Kleidung waren schon stark verschmutzt und gräulich. Um den Körper herum hatten sich dicke Büschel Seegras und Tang in irgendetwas verfangen, das ein Seil sein konnte. Die Haut der nackten Arme und Beine hatte ebenfalls eine gräuliche Farbe angenommen und war an einigen Stellen schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Das typische Aussehen einer Wasserleiche eben, kein schöner Anblick. Der einsetzende Geruch nach Verwesung sprach ebenfalls für eine längere Liegezeit. Teile des Körpers mussten schon eine ganze Weile der Luft und der Sonne ausgesetzt gewesen sein.
»Eine Frau!«, entfuhr es Inge Westerhus.
»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«
Peters schüttelte den Kopf.
»Nein. Aber sie ist, wie ich schon sagte, keines natürlichen Todes gestorben, soviel ist sicher.«
»Du