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Anflug von Traurigkeit. Sie ging die paar Meter zu dem mit Fasern und Seetang umwickelten, unförmigen Kadaver, um sich zu ver­gewissern, dass es sich dabei tatsächlich um eine Robbe han­delte. Die ersten Zweifel kamen ihr, als sie nur noch wenige Schritte entfernt war. Skeptisch trat sie etwas näher, ungeachtet dessen, dass sie knöcheltief im Wasser stand. Dann kam eine kleine Welle und drehte den Kopf des Kadavers in ihre Rich­tung. Unvermittelt starrte sie in ein entsetzlich zugerichtetes menschliches Gesicht, aus dessen leeren Augenhöhlen eine drekckige, ölige Brühe rann. Petras Schrei erstickte im Keim, und reflexartig fing sie ihr Handy auf, das ihr im Augenblick des Schocks aus den Fingern geglitten war.

      Der Anruf erreichte Inge Westerhus während der Mon­tag­mor­genbesprechung. Seit zwei Wochen halfen sie und ihr Team, so gut es ging, bei den anderen Dezernaten aus, sofern diese überhaupt Arbeit übrig hatten. Den letzten Fall, einen wegen der Lebensversicherung als Unfall ge­tarnten Suizid, hatten sie abgeschlossen, die Berichte und Dokumentationen lagen beim Staatsanwalt. Seither war nichts in ihrem Zuständ­igkeitsbereich passiert. Eine Knei­penschlägerei hier, ein Über­fall mit einem Taschenmesser dort…, nichts wirklich Heraus­forderndes. Inge Westerhus konnte sich nicht daran erinnern, wann oder ob dies in ihrer siebenundzwanzigjährigen Karriere als Polizistin zuletzt der Fall gewesen war. Auch wenn die Abteilung Gewaltver­brechen in Husum nicht unbedingt chron­isch überbe­schäf­tigt war, so ruhig war es ihrer Meinung nach lange nicht gewesen. Gerade hatten sie in der Besprechung fest­ges­tellt, dass niemand mehr Überstunden hatte, die er hätte abbau­en können, als das Telefon des Besprechungsraumes klein­gel­te. Der Beamte der Dienstbereitschaft setzte sie davon in Kenntnis, dass in der Nähe des Sielwerks am Wasserspei­cher eine im Wasser treibende Leiche gefunden worden war. Ob es sich dabei um ein Unfallopfer, einen Freitod oder ein Gewalt­verbrechen handelte, sei wohl nicht ohne weiteres zu bestim­men.

      OK dachte Inge Westerhus, dann also das volle Programm: Kriminaltechnik, Leichenbeschau und natürlich auch Ermittler aus dem Team. Sie überlegte schon, wen sie zum Tetenbüller Sielzug schicken sollte, entschied dann aber, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nicht, dass sie tatsächlich einen Kriminalfall hinter dem Leichenfund vermutete. Sie ging eher davon aus, dass ein einsamer Wattwanderer wieder unvorsichtig gewesen war, und die Umstände re­lativ schnell geklärt werden würden. Aber da ihre Schwie­ger­mutter diese Woche, und so Gott wollte, auch nur diese Woche, zu Besuch war, brauchte sie wenigstens keine Not­lü­ge aufzutischen, wenn sie wegen eines aktuellen Fal­les länger im Büro bleiben musste. Ein Blick auf die Uhr mach­te ihr die Hoffnung zwar zunichte, schließlich war es erst kurz nach halb zehn. Dennoch, entschloss sie rasch, würde der Leichenfund ihr als Vorwand dienen, nicht zum Abend­essen zu erscheinen. Also winkte sie noch während des Ge­sprächs ihrem Assistenten Arved Munz und deutete ener­gisch auf das Telefon in ihrer Hand. Arved, der wie die an­deren schon aufgestanden war, sah sie mit gehobenen Au­genbrauen fragend an.

      »Arbeit«, flüsterte Inge Westerhus, die eine Hand auf dem Mi­kro des Schnurlostelefons, und so wartete er geduldig, wäh­rend seine Chefin das Gespräch weiterführte. Bernd Hagen, die spär­lichen Unterlagen peinlichst genau sortiert unter dem Arm, und Feit Müller mit dem obligatorischen Schokoriegel in der Hand und braunen Spuren um die Lippen, waren ob des wilden Winkens ihrer Vorgesetzten zunächst auch stehen­geblieben. Ihnen bedeutete Inge Wes­ter­hus jedoch mit einem zielge­rich­teten Kopfschütteln, dass sie gehen durften. Sie glaubte nicht, dass sie noch je­manden am Fundort brauchen würde.

      Als Arved Munz den silbergrauen Opel Astra Caravan mit et­was zu scharf dosiertem Bremsen auf dem Schotter gerade noch vor der Polizeiabsperrung zum Stehen brachte, war am Siel­werk die Hölle los. Der Fundort war zwar weit­räumig abges­perrt, und alle paar Meter wachte ein uni­formierter Beamter da­rüber, dass die Bannmeile auch respektiert wurde, aber außer­halb des gelben Bandes tum­melten sich jede Menge Menschen. Die Landwirte, Hand­wer­ker und Servicemitarbeiter diverser ansässiger Firmen, die aus beruflichen Gründen die Abkürzung am Damm entlang nahmen, machten jedoch nur einen ver­schwindend geringen Teil der Menschenmenge aus, die sich hier ver­sammelt hatte. Die überwiegende Mehrheit, und Inge Westerhus verspürte sofort Abscheu und Unverständnis, waren Touristen und Bewohner der nahegelegenen Cam­ping­plätze und Ferienunterkünfte. Junge Pärchen mit Kin­derwagen oder Hunden, drahtig wirkende Jogger, Familien mit kleinen Kin­dern, die Schaufeln und Eimerchen noch in der Hand, Rad­fahrer mit ihren bei Scotty`s Bikeverleih gemie­teten Rädern, oder übergewichtige Halb-Senioren mit Nordic Walking Ambitionen - nahezu aus jeder Alters- und sozialen Gruppe fand sich zumindest ein Repräsentant, um der Sensation jenseits der von der Polizei gezogenen und mit­unter heftig verteidigten Linie beizuwohnen oder gar ein Foto zu machen. Noch in Gedanken gelangte Westerhus zu den Beamten, die unermüdlich auf die Menge einredeten und sie zum Weitergehen aufforderten. Sie hob zur Begrü­ßung die Augenbrauen, worauf einer der Uni­formierten einen Schritt zu Seite trat und ihr Zugang gewährte. So wie sie sich in gebückter Haltung unter der Absperrung hin­durch­geschoben hatte, sorgte ihr Kollege dafür, dass den lüster­nen Gaffern der Zutritt wieder verwehrt blieb.

      Inge Westerhus bedeutete Arved Munz, schon einmal zu der Stelle im seichten Wasser vorzugehen, wo einige Be­amte weiße Folien gespannt hielten, um den Blick auf den Leichnam abzu­schirmen. Sie selbst hatte es sich in ihrer lang­jährigen Dienstzeit zur Gewohnheit gemacht, erst ein­mal ihren Blick über die komplette Szenerie eines Tat- oder Fundortes schwei­fen zu las­sen, bevor sie sich den Details widmete oder anfing, Fragen zu stellen. Auch wenn in diesem Fall mit Sicherheit davon auszu­gehen war, dass es sich nicht um einen Tatort handelte, sondern die Leiche mit der auflaufenden Flut angespült worden war und mitunter etliche Kilometer von hier ihren Tod gefunden hatte, nahm sie sich die Zeit. Doch es gab in der Tat nichts, was ihre ge­stei­gerte Aufmerksamkeit erregte. Also folgte sie nach eini­gen Minuten ihrem Kollegen und schlüpfte durch die Lücke in der weißen Folie, die ihr ein uniformierter Kollege bereit­willig öffnete. Auch hier besah sich Westerhus erst einmal das komplette Bild: der nasse Sand, einige Tangreste, und inmitten eines kleinen Priels des wieder abfließenden Was­sers ein unför­miger Klumpen von der Größe eines mensch­lichen Körpers. Davor kniete ihre Hausärztin Alice Peters, die, da Husum nicht über eine eigene Gerichtsmedizin ver­fügte, für die erste Lei­chenbeschau zuständig war. Die durch zahlreiche Kurse und Weiterbildungen für die Zu­sam­men­arbeit mit der Polizei qualifizierte Medizinerin war mit Gummistiefeln und einer Anglerhose ausgerüstet und kauerte neben dem Leichnam. In ihrem Rücken standen auf einer hastig über zwei Klapp­schemeln ausgebreiteten Folie zwei geöffnete Aluminiumkoffer mit den Utensilien der Ärztin. Sie war gerade dabei, über die Arm­enden der Lei­che kleine Plastiktüten zu stülpen und mit Gummiringen zu fixieren. An den Füßen hatte sie diesen Transportschutz be­reits angebracht. Inge Westerhus wusste, was das zu bedeu­ten hatte.

      »Also kein natürlicher Tod. Jetzt schon sicher?«, fragte sie, ohne Alice Peters lange zu begrüßen. Da sie erst gestern ge­mein­sam zu Mittag gegessen hatten, befand sie diese Flos­kel im Moment für überflüssig. Ohne sich umzudrehen nick­te die An­ges­prochene.

      »Ja, jetzt schon sicher! Schau dir das mal an.«

      Sie winkte die Polizistin näher zu der Leiche. Inge Wester­hus trat heran. Dass der Körper schon mehrere Tage im Wasser ge­le­gen haben musste, war auch ihr sofort klar. Die Reste der Kleidung waren schon stark verschmutzt und gräu­lich. Um den Körper herum hatten sich dicke Büschel Seegras und Tang in irgendetwas verfangen, das ein Seil sein konnte. Die Haut der nackten Arme und Beine hatte ebenfalls eine gräuliche Farbe an­genommen und war an einigen Stellen schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Das typische Aussehen einer Wasser­leiche eben, kein schö­ner Anblick. Der einsetzende Geruch nach Verwesung sprach ebenfalls für eine längere Liegezeit. Teile des Kör­pers mussten schon eine ganze Weile der Luft und der Son­ne ausgesetzt gewesen sein.

      »Eine Frau!«, entfuhr es Inge Westerhus.

      »Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«

      Peters schüttelte den Kopf.

      »Nein. Aber sie ist, wie ich schon sagte, keines natürlichen Todes gestorben, soviel ist sicher.«

      »Du

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