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Sündenlohn. Andre Rober
Читать онлайн.Название Sündenlohn
Год выпуска 0
isbn 9783738062830
Автор произведения Andre Rober
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie runzelte die Stirn. Warum war es aufgescheucht worden? Hatte sie sich doch kaum bewegt und sogar fast aufgehört zu atmen!
Doch dann hörte sie eine Stimme, die von der Terrasse her nur Das Eis! rief und sah, dass ihre Schwester das vor wenigen Minuten versprochene Eis in großen Bechern aus dem Haus brachte.
»Ja, Eis!«, freute sie sich lautstark und sprang von der Liege. Sie lief schnell um den Pool, um das kalte, süße Eis in Empfang zu nehmen, auf das sie sich seit dem späten Vormittag so gefreut hatte. Ihre Mutter wollte es ihnen zubereiten und in den Garten bringen, doch sie war den ganzen Tag nicht erschienen. Umso besser, dass ihre Schwester wusste, wo sich alles befand und auch schon richtig gut darin war, die Creme mit dem Ausstecher aus der Dose zu kratzen, und in ansehnlichen Kugeln in die Becher zu stapeln. Welche Sorten sie wohl ausgesucht hatte?
»Hol es dir, hol es dir!«
Sie schaute verdutzt auf. Ihre Schwester war mit beiden Bechern um den Pool gelaufen und befand sich auf der anderen Seite. Sie lachte hämisch hinüber.
»Hol es dir, hol es dir!«, wiederholte sie.
»Du bist gemein!«
Sie rannte rechts um den Pool, doch ihre Schwester lief immer in entgegengesetzter Richtung, so dass sie stets genau auf der gegenüberliegenden Seite war. Sie lachte und tanzte.
»Hol es dir, hol es dir!«
Das war zuviel! Sie konnte das Eis sehen, konnte erahnen, wie es in der Sonne zu schmelzen begann.
»Du bist so gemein«.
Sie fing an zu weinen. Die Arme vor dem Gesicht verschränkt schielte sie zu ihrer Schwester, um ihre Reaktion zu beobachten. Noch war sie nicht sonderlich beeindruckt und trieb ihr Spiel weiter.
»Heulsuse, hol es dir!«
Statt um den Pool zu rennen und die aussichtslose Jagd fortzusetzen, ließ sie sich auf den Boden fallen und erhöhte Frequenz und Lautstärke ihres nunmehr herzzerreißenden Tränenausbruchs: Fast war es schon ein verzweifeltes Schreien in der Vorahnung, das leckere, erfrischende Süß nicht mit dem Löffel zu schlecken, sondern einer Limo gleich einfach nur zu trinken. Obwohl sie sich auf dem Boden hin- und herwarf und auch mit den kleinen Fäustchen auf die Terracottafliesen schlug, versäumte sie es nicht, das Verhalten ihrer Schwester zu beobachten. Offensichtlich von der Angst geplagt, ihre Mutter würde wider Erwarten aus dem Haus stürmen und eine saftige Standpauke halten, vielleicht mit einer Ohrfeige versehen, um für mehr Nachdruck zu sorgen, gab ihre Schwester ein Pschschschscht! von sich und beeilte sich, das Eis nun doch zu ihr zu bringen. Den Heulanfall jetzt schon abzuschwächen oder gar ganz aufzugeben, kam ihr jedoch nicht in den Sinn. Das hatte ihre Schwester davon. Sie wollte es solange ausreizen, bis sie als der unumstrittene Sieger aus diesem Gefecht hervorgegangen war. Von ihrer Schwester einfach so das Eis entgegenzunehmen, war definitiv nicht genug. Also zappelte sie am Boden weiter, bis ihre Schwester, die anfing, beruhigend auf sie einzureden, unmittelbar neben ihr stand. Bevor sie sich zu ihr hinunterbeugen konnte, um ihr das Eis zu überreichen, sprang sie mit lautem Kampfgeschrei blitzschnell auf, um ihrer erschrockenen und entsetzt dreinblickenden Schwester das Eis zu entreißen.
Lena stolperte. Doch anstatt die beiden Eisbecher fallen zu lassen, um den Sturz abzufangen, bemühte sie sich noch im Fallen die Süßigkeit vor der gewaltsamen Entwendung zu bewahren und riss beide Arme in die Höhe. Sie schlug mit dem Kopf auf die Travertineinfassung des Pools, und die Eisbecher entglitten ihren Händen. Eines der Gläser zerschellte laut splitternd auf dem Terracotta, das andere wurde mit einem tiefen Glucksen vom Wasser des Pools verschluckt. Da Sarah direkt über ihrer Schwester stand, konnte sie sehen, dass Lena die Augen verdrehte und wie in Zeitlupe in das Becken rutschte, erst ihr rechtes Bein, dann das linke, ihre Hüfte, ihr Oberkörper und schließlich ihr Kopf. Noch glaubte sie, Lena wolle sie veräppeln, um ihrerseits die Auseinandersetzung mit einem Sieg im Finale zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Opferung der beiden Eisbecher wäre allerdings ein sehr gewagter Schritt gewesen, schließlich musste das Malheur ja auch ihrer beider Mutter irgendwie erklärt werden. Doch ihrer großen Schwester hätte sie sogar das zugetraut. Dann aber entdeckte sie den dunkelroten Fleck auf dem Beige des Travertin und sah sofort angstvoll in das türkisblaue Becken. Lena trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Von ihren Haaren breitete sich in immer dünner werdenden Fäden das Blut aus, so, als würde man einen Pinsel mit Wasserfarben in ein Glas mit Wasser tupfen. In Schockstarre beobachtete sie einige Sekunden, wie das Blut ihrer Schwester ständig in Bewegung verschlungene, fast anmutige Bilder malte, während es sich nach und nach mit dem klaren Wasser des Pools vermengte.
Mit einem Mal begriff sie, dass sich Lena keinesfalls einen Scherz auf ihre Kosten erlaubte, sondern sich wirklich verletzt hatte und in ernster Gefahr schwebte.
»Lena!«, schrie sie laut und sah sich hilfesuchend um. Sie konnte mit ihren sechs Jahren schon gut schwimmen, aber sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter hatten ihr eingeschärft, nicht in den Pool zu gehen, solange nicht einer von ihnen dabei war.
»Lena! Lena!«, schrie sie und jetzt rannen auch echte Tränen ihr Gesicht hinab. Sie begriff, dass sie ihrer Schwester mit lautem Schreien nicht helfen konnte.
»Mama!«, kreischte sie nun und konnte den Blick nicht von dem leblos im Wasser treibenden Körper wenden.
»Mama! Komm ganz schnell! Mama!«
Obwohl es ihr unendlich schwer fiel, Lena zurückzulassen, hastete sie zum Haus, um ihre Mutter zu holen.
»Mama! Mama!«
Im Wohnzimmer war sie nicht, also rannte sie weiter in das Esszimmer. Auch dort niemand.
Auch in der Küche nicht.
»Mama!«
Sie stürzte in den kleinen Salon. Dort endlich sah sie ihre Mutter, die sich langsam auf der Liegecouch aufrichtete.
»Mama, komm ganz schnell! Lena ist etwas passiert!«
Die zeitlupenartigen Bewegungen ihrer Mutter machten sie rasend. Sie zerrte sie am Ärmel, riss fast die Seidenbluse entzwei, als sie versuchte, ihre Mutter vom Sofa zu ziehen.
»Mama, du musst kommen, ganz schnell! Lena ertrinkt!«
Doch anstatt wie elektrisiert aus der Chaiselongue aufzufahren, starrte ihre Mutter sie nur mit stark geröteten Augen an und bewegte sich kaum.
»Mama! Beeil dich!«
Ihre Mutter kniff die Augen zusammen.
»Ich komme ja schon.«
Sie versuchte, aufzustehen, musste sich jedoch mit der rechten Hand abstützen, um nicht wieder zurück auf das Sofa zu fallen.
»Einen Moment noch…«
Es dauerte zu lange. Ohne auf ihre Mutter zu warten, rannte sie aus dem Salon, durch das Esszimmer, das Wohnzimmer, über die Terrasse und sprang mit Anlauf in den Pool.
Sie hatte Lena schnell erreicht; ihre Schwester bewegte sich immer noch nicht, ihr