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nach Hause ging und in die Washington Street abbog, musste ich an IBM und deren Telefonkosten denken. Wenn die pleitegingen, war es zu einem millionstel Teil gewiss meine Schuld.

      Um meine Gefühle in den Griff zu kriegen, haute ich in die Schreibmaschinentasten. Ich bombardierte meine Freunde auf dem guten alten Kontinent mit Briefen, in denen mein mehr oder minder verstecktes Heimweh aus allen Zeilenabständen triefte. Ich wollte kein Mitleid; nein, nein, nein, das wollte ich nicht; eigentlich ging es mir doch super – lebte ich nicht wohlversorgt in einem traumhaften Land? Aber Verständnis würde mir jetzt so gut tun, ein wenig Verständnis für meine Abgeschiedenheit in dieser freundlichen Atmosphäre des gelebten easy-going, der allgegenwärtigen Oberflächlichkeit.

      Nina & Helle & der Bahnhof Zoo

      Ich saß in meinem gemütlichen Wipp-Sessel, den dumpfen Signalhörnern in der Ferne lauschend. Bald schon würde der »kleine« Lutz, der jetzt immerhin schon zweiundzwanzig war, zu einem mehrwöchigen Besuch zu mir kommen. Die Clausewitzer, meine liebenswürdige Ex Doro, ihre Busenfreundin Elke, die ich sehr mochte, und die mich stets mit aktuellen Nachrichten aus Italien versorgte, und ich – wir alle hatten den Jungen 1973 als sechzehnjährigen „Kleinen“ unter unsere WG-Fittiche genommen. Er war bei seiner alleinerziehenden Mutter ausgebüxt. Sie hatte vor einiger Zeit hier in Frisco angerufen und mich gefragt, ob ich ihrem Sohn wegen seiner verrückten Berufswünsche den „Kopf gründlich waschen“ könne.

      „Seefahrer, Leichtmatrose – das ist doch nichts für meinen sensiblen Lutz!“

      Auf mich würde er doch hören. Ihre Worte seien bisher wirkungslos verpufft.

      Ich hatte unbedachter Weise zugesagt.

      Während mich das vage Gefühl von Heimweh ruhelos hin und her wippen ließ und ich damit nicht aufhören, musste ich noch einmal an Doro denken. Sie hatte ein soziales Herz, was uns stets verbunden hatte. Sie trat mit all ihren Fähigkeiten und mit ganzem Herzen für diejenigen ein, deren Not ersichtlich war. Sie hatte mir bereits vor meiner Abreise berichtet, wie sie sich um Nina, die blutjunge Freundin von Lutz, kümmerte.

      Hintergrund dazu war ihr Sozialpraktikum. Es gab ihr in der Szene eine gewisse Autorität, zumal man dort die blonde, langhaarige und unkonventionelle Doro in ihren modernen knöchelfreien, leicht ausgestellten Jeans als unbürokratisches, hilfsbereites Gutherzchen zu schätzen wusste. Einigen Fixern war Doro zu bürgerlich und modernistisch, und doch war es wohl gerade das, was sie faszinierte: Eine aus dem fortschrittlichen und doch so verhassten Bürgertum scheute sich nicht, sich zu ihnen, den heruntergekommenen Outlaws, zu gesellen und sich ihrer Probleme anzunehmen. Keiner von ihnen wusste von Doros politischer Weltanschauung. Politik interessierte Junkies nicht.

      Nina war vor einem Jahr, als sie am Bahnhof Zoo langsam in den Heroin-Sog geraten war, gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen. Jetzt war sie fünfzehn. Lutz kannte seine junge Nachbarin vom gegenüberliegenden Wohnblock und vom städtischen Jugendtreff, wo er ihr fast täglich begegnete. Sie gingen nicht fest miteinander; er war eher ihr Beschützer. Lutz war Ninas sieben Jahre älterer „Außen-Anker in der realen Welt der Kälte“, wie Nina es einmal so klug umschrieben hatte. Bei ihr konnte unser Kleiner der Große sein. Das Gute an dieser Verbindung war, dass Lutz niemals zu Drogen gegriffen hatte und auch nicht in Versuchung gekommen war.

      Eigentlich war er das ideale Vorbild für Nina. Er fand, dass es mit der Liebe nicht gut zugehen konnte, wenn man zugedröhnt war. Er stand bedingungslos auf der Seite der Liebe. „Dope und Liebe vertragen sich nicht“, war sein Statement. Aber Ninas Sucht war bereits viel zu ausgeprägt.

      Für Nina hatte er Mitleid empfunden und versucht, sie aus dem Sumpf zu befreien. Es war ihm nicht gelungen. Das lag an Ninas intimem Freund, der schon lange vor ihr zur H-Szene, wie man die Heroin-Szene kurz nannte, gehört hatte. Er hieß Helmut und sein Nickname war Helle. Beide verkehrten im Sound, einer Diskothek in der Genthiner Straße im Westberliner Bezirk Tiergarten. Nina war beeindruckt von »Europas modernster Disco« mit diesen einmaligen Laserprojektionen, der Nebelmaschine und dem professionellen Video-Aufzeichnungsgerät – Dinge, die es in keiner anderen Berliner Disco gab, noch nicht einmal im Big Eden, das dem schwerreichen Playboy Rolf Eden gehörte. Im Sound versorgte sich Nina mit Haschisch. Sie war anfangs nicht mehr als eine kleine Hascherin, wenn auch mit dreizehn, vierzehn Jahren viel zu jung.

      Doro hatte in zig vertrauensvollen Gesprächen mit Nina herausgefunden, dass sie keines jener armen Mädchen war, die von einem bösen Fixer oder Dealer bewusst angefixt worden war, wie man es immer in der Zeitung las.

      „Die meisten Jugendlichen kommen ganz allein zum Heroin, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war“, sagte Nina. Sie war eine durchaus ehrliche Haut und erkannte ihren Tanz auf dem Vulkan, sagte mir Doro später. Sie hatte eine Art Tagebuch über Ninas und Helles Leben in der Dope-Szene und auf dem Babystrich verfasst. Ich konnte es später lesen und war erschüttert.

      An jenem Abend als ich in Frisco meine Arbeiten für das Forschungsvorhaben „Privacy and Freedom of Information Act“ vorbereitete, wollte Nina mit Helles Freund Kalle zu dem bei den Teenies »total angesagten« David-Bowie-Konzert in Westberlin gehen. Das war in ihrer Vorstellung das bedeutendste Ereignis ihres Lebens. Darauf wollte sie sich gut vorbereiten. Helle hatte von seinem Vater ausgerechnet an diesem Abend Ausgehverbot erhalten, aber dafür stand Kalle bereit. Er war Helles bester Freund. Kalle war in Ninas Augen ein taffer souveräner Fixer, den nicht nur sie, sondern viele Mädels aus dem Sound wegen seiner coolen Fixer-Mentalität bewunderten.

      Während ich also In Frisco über meiner Arbeit brütete, traf sich Nina mit dem spindeldürren Kalle am Hermannplatz, um auf das Konzert zu gehen. „Du bist verdammt dünn“, sagte sie.

      „Ich wiege immerhin noch 63 Kilo. Habe mich gerade beim Blutspenden gewogen.“

      Kalle verdiente sich einen Teil des Geldes für sein Dope mit Blutspenden, wofür man alle vier Wochen antreten durfte und wofür es sagenhafte vierzig Mark gab. Obwohl ein vierwöchiger Rhythmus medizinisch unverantwortlich war und obwohl Kalle blass wie ein Todgeweihter und seine Venen total zerstochen waren und Fixer ja nicht unbedingt Gelbsuchtfrei waren, nahmen sie ihn immer wieder zum Blutspenden.

      Als die beiden in der U-Bahn saßen, fiel Nina ein, dass sie ihr Valium zu Hause vergessen hatte. „So ein Kack, ich wollte es mitnehmen, falls ich beim Konzert durchdrehe.“

      Sie hatte allerdings heimlich, ohne dass ihre Mutter es bemerkt hatte, im Bad schon ein paar Valium eingeschmissen. Das sollte für Coolness beim Bowie-Konzert sorgen. Ohne eine weitere Portion Valium in der Tasche fühlte sie sich unsicher.

      Kalle wollte sofort kehrt machen und das Valium holen. Nina sah in genau an und schnallte, was Sache war. Seine Hände zitterten. Er kam auf Turkey. Das Wort stammt aus dem Amerikanischen und bedeutet »Truthahn«. Wenn ein Truthahn erregt ist, beginnt er gewaltig zu flattern. Turkey sind die Entzugserscheinungen bei alten Fixern, wenn die Wirkung des Drucks nachlässt, hatte mir Doro erklärt.

      „Du bist auf dem Affen!“, sagte Nina. „Aber wir können nicht zurück, sonst kommen wir zu spät zum Konzert.“

      „Ohne Dope und ohne Kohle aufs Konzert zu gehen ist Wahnsinn!“ Kalle wurde zusehends nervöser. Er war plötzlich nicht mehr der souveräne, erfahrene Fixer, den Nina noch vor ein paar Stunden bewundert hatte. „Vielleicht ergibt sich ja dort noch was“, fügte Kalle dann hoffnungsvoll hinzu.

      Die Stimmung in der Deutschlandhalle muss spitze gewesen sein, wie Nina später Doro berichtete. Räucherstäbchen- und Marihuana-Düfte durchzogen die Sitzreihen. Neben Nina und Kalle saßen auf der einen Seite »echt coole« Berliner und Westdeutsche, die extra wegen Bowie gekommen waren; auf der anderen Seite saßen amerikanische Soldaten, die eine Pfeife rauchten. Nina und Kalle brauchten nur hinzugucken und man gab die Pfeife an sie weiter. Kalle zog wie verrückt an der Pfeife, aber es half nichts – es ging ihm immer schlechter.

      Passender Weise sang Bowie gerade seinen Song »It’s too late«. Nina schleuderten die Worte mit einem Mal aus der Wahnsinnsstimmung heraus. Sie musste daran denken, dass der Song genau

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