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ihnen an, um festzustellen, ob sich etwas verzogen hatte. Aber alles war noch voll funktionsfähig. Unser Haus war großenteils aus Holz gebaut, was zwar dem Brandschutz nicht zur Ehre gereichte, dafür jedoch einem Erdbeben besser als jeder Betonbau standhielt.

      Wir waren zunächst noch unsicher, ob die Lage stabil blieb. Sie blieb es; es gab kein Nachbeben.

      Wie wir am folgenden Tag erfuhren, gab es einige Risse in den Nachbarhäusern. Später erfuhren wir außerdem aus den News, dass eine Seite der Autobahnzubringerbrücke zum wichtigen Highway 80 eingestürzt war. Der Highway führte zur San Francisco-Oakland Bay Bridge, was für mich von Bedeutung war, da mich mein erster Arbeitsbesuch zu Professor Elliot Cahn an der dortigen Berkeley University führen sollte. Den Termin verschob ich am nächsten Tag telefonisch um einen Monat.

      Das Bild der dramatisch halb herabhängenden Brücke wurde noch zwei Wochen lang in wiederkehrenden News gezeigt. Eingeblendet wurde immer wieder die jeweils aktuelle Aufbauarbeit an der beschädigten Brücke. Das Beben hatte eine Stärke von 6,8 auf der Richterskala gehabt, wie der Nachrichtensprecher in so lockerer Weise erläuterte, als sei alles eine Lappalie gewesen. Er erklärte dann, was es mit der Richterskala auf sich habe. Dass sie dazu diene, Aussagen über die Stärke von Erdbeben zu treffen und vom US-amerikanischen Seismologen Charles Francis Richter entwickelt und in den 1930er Jahren eingeführt worden war. Ein Beben von der Stärke 6,0 bis 7,0 sei als „stark“ einzustufen, denn es könne zu Zerstörungen in besiedelten Gebieten führen.

      Dann zeigte man in dem Sendebeitrag eine Tabelle mit höheren Werten. Bei Stärken zwischen 7,0 und 8,0 bezeichne man demnach ein Beben als „groß“, denn es könne schwere Schäden über weite Gebiete verursachen. Eine Stärke von 8,0 bis 9,0 sei dagegen „sehr groß“, weil es starke Zerstörungen in Bereichen von einigen hundert Kilometern verursachen könne. Als „sehr groß“ zähle auch ein Beben in den Stärken zwischen 9,0 und 10,0 – denn hier wirkten Zerstörungen in Bereichen von tausend Kilometern verheerend. Ein Beben mit einer größeren Stärke als 10,0 sei noch nie gemessen worden. Man würde diese Stärke als „massiv“ bezeichnen.

      Das mussten wir nicht erleben. Wie durch ein Wunder war bei „unserem“ Beben niemand getötet oder lebensgefährlich verletzt worden. Das Epizentrum befand sich glücklicherweise 74 Meilen südlich-östlich von San Francisco mitten auf dünn besiedeltem Land in der Nähe der Mercey Hot Springs. Hätte es nur 60 bis 120 Kilometer weiter nordwestlich gelegen, wäre es zu Friscos Super-Gau und zu meiner ganz persönlichen Katastrophe gekommen.

      Die Forschung ging von einem großen Beben aus, das für Frisco unausweichlich sei. In den folgenden Tagen drehten sich die Fragen daher auf allen regionalen Fernseh- und Radiosendern darum, ob und wie man das erwartete, das unausweichliche »Große Beben« voraussagen könne. Mutmaßungen machten die Runde: Wächst die Spannung im Gestein unter San Francisco im Stillen? Oder wird sich das nächste Jahrhundertbeben durch anschwellendes Rumpeln ankündigen?

      Meine Nachbarn erzählten mir, dass schon im April 1979 Forscher zum 73. Jahrestag des Bebens von 1906 versucht hatten, die Kalifornier aufzurütteln. Denn, so meinte Mary, es stehe fest, dass der nächste »Big One« kommen werde. Die Geschäftigkeit und betonte Lässigkeit der Kalifornier deutete meine nachbarliche »Sack-Grapscherin« als Anzeichen einer kollektiven Psychose.

      „Verdrängung einer bevorstehenden Katastrophe“, lautete die Diagnose auch von Sam und Vicky.

      Sam wusste mehr zu berichten. „San Francisco begeht den Jahrestag jenes Erdbebens, das am 18. April 1906 die Stadt zerstörte, jedes Mal in geheuchelter Demut“, fand er. Zwar würden bei unzähligen Veranstaltungen Bilder der Katastrophe präsentiert. Man führe den Einwohnern vor Augen, was ihr Schicksal wäre, wenn die Katastrophe sich wiederhole. „Vorsorge muss dringend getroffen werden, heißt es dann – aber geschehen tut nichts“, sagte er.

      Ich hatte von dem historischen Beben gelesen und erinnerte mich. In der Morgendämmerung des 18. April 1906 um kurz nach 5 Uhr riss Kalifornien auf halber Länge auf. Die Erdkruste brach entlang einer von Norden nach Süden verlaufenden Nahtzone auf einer Länge von 1.280 Kilometern. Der Bruch war örtlich 500 Meter breit. Konservativen Schätzungen zufolge starben 3.000 bis 4.000 Menschen, Hunderttausende wurden obdachlos. San Francisco wurde fast völlig zerstört. Niemand hatte mit dieser Katastrophe gerechnet.

      „Jetzt wissen wir wieder einmal, auf welchem Pulverfass wir sitzen!“, rief Mary aus und holte mich in die Gegenwart zurück. „Und deshalb müssen wir unser Leben genießen! Let’s get together for sauna this evening. Du kommst doch hoffentlich mit?“

      Ich war überrumpelt, und bevor ich näher darüber nachdenken konnte, ob ich das unter den gegebenen Umständen wollte oder nicht, nickte ich.

      Mary strahlte. „Sure?“

      „Sure!“, entfuhr es mir. Hätte ich nur geahnt, worauf ich mich einlasse!

      Es war bereits Ende August. Einen Monat zuvor, am 29. Juli, am Tag, als der große Philosoph – der Lieblingsphilosoph der frühen APO-Studenten – Herbert Marcuse, starb, waren meine Freundin Siu und ich in unsere „neue Heimat auf Zeit“ aufgebrochen. „Heimat auf Zeit“ hatte mein Vater Otto bei unserem Abflug Frisco genannt.

      Siu und ich waren nun schon ein halbes Jahr zusammen, und wir verstanden uns prächtig. Nach unserer Ankunft in Californias schönster Stadt hatten wir gemeinsam Anschaffungen und nötige Erledigungen gemacht und in meiner neuen Wohnung einiges eingerichtet. Dann hieß es für Siu, ihre Uni aufzusuchen und ihr eigenes Studentenzimmer an der Stanford-University zu beziehen.

      Wir hatten uns erst vor zwei Wochen in ihrem supermodern eingerichteten Zimmer auf dem Stanford-Campus innig geliebt und uns mit sehnsüchtigen Küsschen voneinander verabschiedet. Stanford war nicht weit von meinem Wohnsitz in San Francisco entfernt. Wir würden uns an den Wochenenden immer besuchen; manchmal vielleicht sogar unter der Woche. In den Semesterferien würden wir gemeinsame Fahrten machen. Ins Death Valley, nach Las Vegas, in den Yosemite-Nationalpark. Wir hatten viel vor – neben unserer Studien- und Forschungsarbeit.

      Wir beide waren gemeinsam mit großen Hoffnungen nach Frisco aufgebrochen. Ich hatte für Siu alle Hebel bei der Naumann-Stiftung in Bewegung gesetzt, damit wir zeitgleich hier aufschlagen konnten. Was die Sponsoren von der FDP-nahen Stiftung nicht wussten, war, dass wir inzwischen ein Pärchen waren und natürlich hier in Übersee neben unseren Arbeits- und Studienaufträgen eine schöne gemeinsame Zeit verbringen wollten.

      Nun hatte ich tagelang nichts mehr von Siu gehört, obwohl wir uns versprochen hatten, jeden übernächsten Tag anzurufen. Sie war nicht ans Telefon gegangen, egal zu welcher Uhrzeit ich anrief. Gerade heute, nach dem Beben, wurde ich unruhig. In dem Moment, als ich jetzt bei ihr anrufen wollte, klingelte das Telefon. Es war Siu.

      „Hi Stefan“, sagte sie. „habt ihr das Beben gut überstanden?“

      „Ich bin so beruhigt, deine Stimme zu hören“, antwortete ich. „Dir geht es also auch gut? Wir alle hier sind ohne Kratzer davon gekommen.“

      „Ja. Schön.“ Pause.

      „Geht es dir gut? Ich habe dich so oft angerufen, dich aber nicht erreicht. Ist etwas mit deinem Anschluss nicht in Ordnung?“

      Stille am anderen Ende.

      „Hallo, Siu?“

      „Doch, alles in Ordnung. Ich habe viel zu tun. Das ist hier ziemlich hart. Bin voll im Studium und noch im Eingewöhnungsmodus.“

      „Kommst du mit den Kommilitonen klar?“

      Pause.

      „Siu?“

      „Ja, ja, alle sehr nett hier.“ Ich hörte sie kichern.

      „Das freut mich. Ich liebe dich.“

      „Oh ja. Ich habe wirklich viel zu tun. Kann ich dich demnächst wieder anrufen? Heute haben wir eine Campus-Party für alle Neulinge. Da möchte ich nicht fehlen. Verstehst du?“

      „Na klar. Dann viel Spaß. Wann höre ich wieder von dir?“

      „Hier ist

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