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den Pazifik machten. Ich stellte mir dann diese modernen Frachtschiffe als alte Dampfer vor, wie sie zu Zeiten der europäischen Okkupation dieses herrlichen Kontinents über die Ozeane kreuzten. Ob auch die Ureinwohner diese Signale liebten? Eher nicht, für sie kündigten sich damit unabwägbare Gefahren an.

      Mir war bewusst, dass es damals keineswegs mit friedlichen Mitteln zugegangen war. Es war keine Idylle sondern knallharte Eroberungs- und Besatzungsrealität gewesen. Dennoch schlummerte in mir jene gewisse Wildwest-Romantik, die mir so anschaulich Karl May mit seinen Indianergeschichten mit Winnetou, Sam Hawkens und Old Shatterhand ins emotionale Gedächtnis eingebrannt hatte.

      Auch Mark Twain hatte mit Tom Sawyers Abenteuern und Streichen seinen Anteil an jener Romantik – diese gemütlichen, hupenden Schaufelrad-Dampfer, dieser unbändige Mississippi, diese überwältigende Natur, dieses ewige Fernweh und jene großen Fahrten zwischen Europa, Afrika und der Neuen Welt. Import von Menschen und Gütern; Sklavenhandel, Ranches, Cowboys, Forts und der Kampf zwischen den „Weißen“ und den „Rothäuten“, zwischen den Süd- und den Nordstaaten – wahrlich keine Idylle, eigentlich kein Platz für Romantik, eigentlich … aber dieses dumpf hupende Ankunfts- und Abschiedsritual der Überseeschiffe faszinierte mich dennoch jedes Mal aufs Neue.

      Einen kurzen Augenblick lang verfing sich mein Gefühl in diesem aus der Kurzzeiterinnerung hervorgekramten Schiffsgedröhne; wahrscheinlich sortierte mein Hirn die Signale, doch da war kein aufwendiger Sortieraufwand nötig. Dieses Dröhnen da draußen hatte nichts mit den Schiffsignalen gemein. Mein emotionaler Gedankenbrei wurde abrupt unterbrochen, als sich das unheimliche Geräusch jäh zu einem schrecklichen Donnergrollen steigerte.

      Ich zögerte einen Moment, ob ich bei diesem Orkan das Fenster öffnen sollte. Dann riss ich es auf – und spürte keinen einzigen Windhauch. Ein Orkan? Weit gefehlt. Ein unheimlicher Stillstand schien trotz des wütenden Geräusches zu herrschen. Unbegreiflich! Ich bekam eine Gänsehaut. Weit und breit bewegte sich nichts – außer mir.

      Alles drehte sich plötzlich um mich herum. Mir wurde schlecht. Ich erlebte etwas völlig Neues, Unbekanntes: einen Schwindelanfall. Ich schloss schnell das Fenster, torkelte ein paar Schritte zurück ins Zimmer, lehnte mich erschrocken mit dem Rücken an die Wand, um nicht hinzufallen. Und dann sah ich es: Das von mir gestern an einem Stück Kordel aufgehängte Bild der Berliner Malerin Monika Sieveking „Kohlekumpels im Streikrevier“ pendelte an der gegenüberliegenden Wand hin und her. Selbst die Wanduhr hinter dem Fernseher schien sich zu bewegen. Erst dachte ich, es läge an meiner Schwindelattacke, aber dann schaute ich noch einmal zum Kohlekumpel-Bild. Kein Zweifel, es pendelte tatsächlich von links nach rechts. Jetzt plötzlich hörte ich von überall her Schreie. All das passierte in Sekunden, aber mir kam es vor, als seien es lange, bange Minuten.

      „Open the door!”, hörte ich im Treppenhaus meinen Nachbarn brüllen. Meinte er mich? Ich war wie benommen.

      „Open it and get down under the doorway!“, schrie

      Sam. “It’s an earthquake!”

      Ein Erdbeben! Hätte ich es nicht ahnen können? Hatte ich doch erst kürzlich in Vorbereitung meines achtzehnmonatigen Frisco-Aufenthaltes einiges über den San-Andreas-Graben und über die im wahrsten Sinne des Wortes „bewegte Geschichte“ San Franciscos gelesen. Es war eigentlich klar, dass es wieder geschehen würde. Dennoch hatte ich die Gefahr völlig verdrängt. So wie ganz Frisco mit einer fast unbegreiflichen Sorglosigkeit und einem erstaunlichen Mangel an Wirklichkeitssinn das Urteil, das die Natur über die Stadt verhängt hatte, ignorierte.

      Was blieb mir auch anderes übrig, als mich dieser gängigen Ignoranz zu ergeben, wenn ich nicht als Angsthase mein gesamtes, mühsam erarbeitetes Forschungs-, Doktoranden-, Erlebnis- und Karriereprojekt an die Wand klatschen wollte! Natürlich hatte ich lange vor meiner Abreise in dahindämmernden Minuten vor dem Einschlafen gelegentlich an diese Gefahr gedacht. Doch ich hatte sie mit wunderbaren neuartigen Zukunftsphantasien aus dem Bett geworfen.

      Dann träumte ich lieber von meiner zügigen Arbeit an meinem Forschungsprojekt, das letztlich der Steuerzahler trug, weshalb ich mich zu guten Ergebnissen verpflichtet fühlte. Ich stritt innerlich mir selbst gegenüber entschieden ab, dass dies alles eine Stufe auf der Karriereleiter sei, denn als Karrierist wollte ich vor mir selbst keinesfalls gelten. Nein, ich war nur ein kleiner Doktorand, der versuchte, im Land seines Erzfeindes ein realistisches Bild von dessen Innerem zu gewinnen.

      Meine „Gefahren-Verdrängungs-Träume“ entführten mich durch das gesamte Umfeld von Frisco, führten an den mammutgroßen Red Woods vorbei nach Sausalito in die Golden Gate National Recreation Area, entlang der kalifornischen Weinanbaugebiete, entführten mich an die berühmte Hippie-Uni von Berkeley, anschließend in den Süden ins Silicon Valley und zur Stanford University, weiter nach Santa Cruz bis Monterey, um schließlich in Los Angeles anzukommen. Dort würde ich Anne treffen, meine liebenswerte Bekannte aus alten Gammler- und Provo-Zeiten vom Frankfurter Marshallbrunnen. Sie musste jetzt auch schon Mitte Zwanzig sein. Wenn ich mich recht erinnerte, war sie 1968 vier Jahre jünger als ich, also vierzehn Jahre alt, gewesen. Sie konnte wunderschön zur Gitarre singen. Noch vor Weihnachten dieses Jahres würde ich sie in L.A. besuchen. Davon und von Amy träumte ich.

      Denn Amy, meine frühere Intimfreundin, die ich erst vor kurzem zufällig vor der Haustür meiner Wohnung in der Washington Street getroffen hatte, war ebenfalls mit Anne eng befreundet gewesen. Anne und ich hatten uns damals ewig lange gefragt, wohin Amy wohl verschwunden sei, und was die Umstände ihres abschiedslosen Verschwindens gewesen sein mochten. Jetzt aber befanden wir Drei uns in California – yippie yeah!

      Diesen Traum träumte ich mehrere Male. Dann wachte ich auf und freute mich über die Neuerkundungsmöglichkeiten und das Wiedersehen.

      Als ich mir eines Tages dieser Träumerei noch beim Aufwachen bewusst wurde, dachte ich wieder einmal an unsere frührevolutionäre Devise: »Trau keinem über Dreißig«. Und noch eines dieser früheren Vorhaben trotzte mir ein müdes Morgenlächeln ab: Keiner von uns pubertierenden Jungrevolutionären, die wir damals nur der „schonungslosen Wahrheit“ verpflichtet waren, wollte jemals dieses Alter erreichen. Dreißig – pfui Deibel! Eher würden wir im Guerillakampf neben Che Guevara sterben wollen. So alt werden! Nein. Ausgeschlossen!

      Nun stand ich also ein Jahr vor diesem teuflischen Alter und empfand nichts Ungewöhnliches dabei, diese Altersgrenze bald zu erreichen. Erwachsenwerden ging also automatisch. Das hatten wir uns damals, 1968 am Marshallbrunnen, ganz anders vorgestellt, als uns all die Spießer wegen unserer Beatles-Haare anpöbelten. Als uns die LKW-Fahrer einen Groschen aus dem Autofenster zuwarfen und meinten, wir sollten mal auf einen Frisör sparen. Wollten wir auf diese erbärmliche Art erwachsen werden, in Frisiersalons sozialisiert werden? Nein, niemals! Erwachsene schienen uns größtenteils aus völlig abgehalfterten, abgestumpften, unzufriedenen, ewig grollenden Untertanen zu bestehen.

      Jetzt, rund um mein neues Zuhause in Friscos Washington Street, grollte es auf andere, viel bedrohlichere Art und Weise. Plötzlich fing alles zu zittern und zu holpern an.

      Ich kam zu mir.

      Neben dem Donnergrollen hörte ich hektisches Klopfen an meiner Wohnungstür. Ich öffnete und stand meinen Nachbarn Sam, Vicky und Mary-Kay gegenüber. Mary packte mich am Arm.

      „Stay here!“, brüllte sie gegen das Grollen an. Sie blieb mit mir unter dem Türrahmen stehen, während Sam und Vicky unter dem gegenüberliegenden Türrahmen ihrer Wohnung Schutz suchten. Meine Güte, wie konnte ich das vergessen haben: Bei einem Erdbeben musst du unter baulichen Verstrebungen Schutz suchen, wenn du nicht rechtzeitig hinaus ins weite Freie gelangen kannst.

      Im nächsten Moment rumpelte es noch einmal gewaltig, und dann trat eine unheimliche Stille ein. Mary sah mich erleichtert an, dann küsste sie mich unversehens auf den Mund und griff mir zwischen die Beine, um mal kurz zuzudrücken. Puh! Eine verrückte Nudel, dachte ich. Das Erdbeben war hoffentlich vorüber, doch welches persönliche Beben stand mir nun bevor?

      Wir warteten zehn urig lange Minuten. Danach liefen wir auf die Straße, wo schon andere Anwohner ängstlich und aufgeregt durcheinanderquasselten. Einige hatten Kofferradios dabei. Zwei Stunden später kam die Entwarnung. Wir

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