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sind nach meiner Kenntnis Spät-68er, die an allem etwas auszusetzen haben. Nicht dass Sie in die falschen Kreise geraten!“

      „Oh“, stieß ich scheinbar entrüstet hervor, „falsche Kreise kann ich für meine Dissertation überhaupt nicht gebrauchen. Doch nach meinen Kenntnissen gab es die ACLU schon lange vor 1968. Und geht es dieser zivilgesellschaftlichen Union nicht lediglich um die Sicherstellung von Datenschutz- und Bürgerrechten? Die ACLU stand jedenfalls auf der vom Auswärtigen Amt genehmigten Liste der Forschungseinrichtungen, mit denen ich zusammenarbeiten möge. Ich werde mir die Sache genau anschauen.“

      Ansonsten war Herr Wagner ein unaufdringlicher, bescheidener Mann, der sich mit einer Matratze im Nebenzimmer zufriedengab. Er lud mich jeden Tag zum Essen ein und ich konnte ihm trotz seiner verkorksten Ansichten und unterwürfigen Amerikahörigkeit viele gute menschliche Seiten abgewinnen.

      „Ihr Datenschutz-Thema ist wirklich überfällig und äußerst wichtig“, sagte er und klopfte mir freundschaftlich auf die Schultern. „Ein Staat, der seine Bürger durchleuchtet und ausforscht, ist nicht das, was wir Deutschen nach der Nazidiktatur brauchen.“

      Das klingt vernünftig, dachte ich. Zugleich aber musste ich an meine Erfahrung mit dem Verfassungsschutz und den Berufsverboten denken. Das ließ ich ihn aber nicht wissen.

      So, wie ich ihn jetzt aus unmittelbarer Nähe kennengelernt hatte, war ich mir sicher, dass auch konservative Urgesteine irgendwo ein Gewissen haben und sich gelegentlich fragen, ob sie alles richtig entscheiden.

       (Wie ich in späteren Jahren erfuhr, kam er tatsächlich mit seinen Ansichten ins Wanken.)

      Aus der BRD erreichte mich mit jeweils drei bis vier Tagen Verzögerung die taz. So blieb ich auf dem Laufenden. In Celle wurden Mitte September in einem ersten großen Prozess gegen Rechtsextremisten sechs junge Neonazis zu Freiheitsstrafen zwischen vier und elf Jahren verurteilt. Einer der Verurteilten war der frühere Bundeswehr-Leutnant Michael Kühnen. Ein früher Schwarm meines Schwagers. Denn wie Schwager Claus meinte, machte der Kühnen mit „den Roten zack-zack“. Die Mitglieder dieser kriminellen Vereinigung hatten in mehreren Städten bewaffnete Raubüberfälle verübt und dabei Geld, Waffen und Munition erbeutet.

      Ein paar Tage später entschied der Bundesgerichtshof, dass eine Leugnung der Ermordung von Millionen Juden durch die Nazis, die sogenannte »Ausschwitz-Lüge«, einen Straftatbestand darstellt. In der taz stand auch, dass die Hamburger Bürgerschaft für den Stadtstaat die Einführung der Gesamtschule als Form der Regelschule beschlossen hatte. Damit war Hamburg das erste unter den Bundesländern.

      Beruhigende Ankündigungspolitik: Anfang Oktober wollte der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew Ost-Berlin besuchen. Es sollten 20.000 sowjetische Soldaten und 1.000 Panzern aus der DDR abgezogen werden. Es gab unserer westlichen Friedensbewegung gute Argumente in Sachen Abrüstung contra Aufrüstung in die Hand. Doch im Moment war das alles weiter weggerückt als ich es mir zugestehen wollte. Zugleich war jede Zeile, die mich aus der Heimat erreichte, ein irgendwie gearteter Trost, wofür auch immer. »Heimat« – alleine dieser Begriff, ich hatte ihn seit meiner rebellischen Jugendzeit gemieden wie die Pest! Jetzt war er »auferstanden aus Ruinen«, wie es so traurig-schön in der DDR-Hymne von Johannes R. Becher hieß.

      Elke hatte mir aus Düsseldorf eine Karte geschrieben. Sie war dort auf dem Konzert »Woodstock Revival on Tour«; mit ihr war der Musikjournalist Norbert Wendling unterwegs, der für die BRAVO, die Westberliner zitty und den Tip schrieb. Aufgetreten waren Joe Cocker, Arlo Guthrie und Country Joe McDonald. „Ein tolles Konzert!“, schrieb sie.

      Mein ehemaliger Arbeitskollege Jan vom WZB, dem Wissenschaftszentrum Berlin, kündigte seinen Besuch für Mitte Oktober an. Ob er bei mir unterkommen könne. „Gerne“, schrieb ich auf einer Ansichtskarte von Fisherman‘s Wharf zurück. „Platz habe ich, nur ob ich touristische Freizeit rauspauken kann, weiß ich noch nicht … Viele Grüße aus dem Zentrum des Kapitalismus!“

      Zwischen Jan, der wie ich am Otto-Suhr-Institut studiert hatte, und mir hatte sich im Laufe meines WZB-Praktikums eine feste Freundschaft entwickelt. Wir verstanden und ergänzten uns nicht nur in fachlicher und politischer Hinsicht, sondern gewannen auch persönliche Vertrautheit und konnten uns über unsere Beziehungen offen und ungeschminkt unterhalten. Männliches Konkurrenzgehabe war da noch nicht zu spüren.

      Zwischen meinen Forschungsprojekten in Berkeley und an der Universität in Irvine, wo ich mit Professor Kenneth Kraemer zu den sozialen Risikofaktoren von Datenbanken und Informationssystem in öffentlichen Administrationen arbeitete, versuchte ich das hin und wieder aufflackernde Heimweh mit Blödelbriefen zu bekämpfen. Mein guter Freund Hörbi zahlte es mir in gleicher Münze heim:

       Dear Stephen, best wishi-Grüße ausm american sector from Börlin, westlich von the wall. And viele thanks for your nette Post Card from irgendein Lacy Point Motel. Ich bin astonished, was du alles schreibst, auch dass du alles vorher schon geahnt hast.

      Ich wusste nicht, was ich geahnt haben sollte. Vielleicht hatte mich beim Schreiben an Hörbi ein Blackout erwischt. Vielleicht aber auch war’s umgekehrt.

       Deine Sprachkenntnisse machen gewiss progress, machen sie nicht? Das ist doch really beautiful, ist es nicht? Pörhöps soon you are dreaming in american Kaugummispeech! Anyhow (aber hau nicht Änni!) you have to denken in english, that gives you the last Schliff. End blies meid Lübke-Inglisch …

      Ich hatte auf meiner Postkarte kein Wort von meinen Träumen geschrieben, aber Hörbi hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die letzten zwei Wochen hatte ich tatsächlich in englischer Sprache geträumt. Unglaublich. TV-Sendungen und Radionachrichten erfasste ich jetzt fast komplett; der Wortschatz wuchs von Tag zu Tag. Im gleichen Maß wuchs mein Eindruck vom aufgeschlossensten Teil der Vereinigten Staaten: Es gab sie tatsächlich, die Kaugummi- und Plastik-Kultur, die Oberflächlichkeit, das Desinteresse am Rest der Welt – und ich war immerhin im Golden State California, dem liberalsten und weltoffensten Bundesstaat des »Vereinigten kapitalistischen Wallstreet-Reichs«!

      Und doch bewunderte ich so vieles: Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme – ob beim Einkauf, in der Autowaschanlage oder in der Laundry, wo ich um die Ecke bei mir für ein paar »coins« meine Klamotten waschen und trocknen konnte. Bei Partys oder Besuchen wurden negative Themen ausgespart und kein Krankheitsgejammer erreichte fremde Ohren. Was mich beeindruckte: In den meisten Dörfern und Kleinstädten war nur eine Höchstgeschwindigkeit von 12 Meilen erlaubt. Oder dass es den Rezeptionisten in den Hotels und Motels völlig schnuppe war, in welch äußerlicher Erscheinung man auftrat, ob in den verrücktesten Outfits und mit den schrägsten Kopfbedeckungen, ob mit kurzen Seppelhosen oder im Punk-Look – jeder war gleich geachtet, wenn … wenn der Scheck gedeckt war.

      Das erste Mal in meinem jungen Leben hatte ich meinen Geburtstag vergessen. Ein Zeichen meiner fortschreitenden Adoleszenz – ja, ich näherte mich der jugendlichen Endphase. Wer seinen Geburtstag vergisst, so sagte ich mir, hat das Zeitalter der buntballonhaltigen Kindergeburtstage endgültig hinter sich gelassen. Als mich am Tag danach, dem 13. September, die ersten der noch länger eintrudelnden Luftpost-Geburtstagskarten erreichten, erfasste mich dennoch ein infantiles Jubiläumsfeeling – und dies, obwohl es noch kein Jubiläum war. Doch ich musste schon jetzt an diesen verflixten Dreißigsten des kommenden Jahres denken.

      Noch am selben Abend lud ich Mary, Vicky und Sam zum ganzjährig zelebrierten Oktoberfest in einer Kneipe in Fisherman’s Wharf ein. Sie schminkten mich und kleideten mich ein als Punk. Wir hatten Spaß bei Bier und bayrischen Haxen mit Sauerkraut, Wedges und Pommes. Ich fühlte mich bierselig beschwingt und schwadronierte in einem Amerikanisch-Denglisch daher, dass meinen Nachbarn nur so die Ohren schlackerten und sie aus dem Lachen nicht mehr rauskamen. In der Nacht war mir kotzübel.

      Der nächste Tag war nicht mein Tag. Ein Arbeitstag ging flöten; dafür versuchte ich in meinem dahindämmerndem Zustand, ständig an der Schwelle des Kopfschmerzes balancierend, einen Fahrplan für die nächsten Monate festzuzurren. Und dann musste ich wieder an früher denken, an jenes »damals«, das so prägend war.

      Ich

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