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Tag, als ich mich als Vierzehnjähriger mit Duldung meines Vaters übernommen hatte. Die kontrollierte pädagogische Duldung meines Besäufnisses hatte eine durchschlagende Wirkung. Es ging mir so schlecht wie noch nie. Daraus folgte eine fünfzehnjährige totale Abstinenz. Puhh, Hardcore-Pädagogik.

      So bescheiden es mir nun in Frisco ging, so brachte ich doch ein paar Planungsdaten zustande. Am nächsten Tag vereinbarte ich einen Termin in Los Angeles. Professor Harold Borko wusste bereits seit Mitte des Jahres, dass ich im Herbst zu einem Arbeitsbesuch kommen würde. Jetzt war es soweit. Ich bekam einen Termin bei ihm schon für die kommende Woche. Da rief ich meine altbekannte Anna aus der Gammler-Zeit am Marshallbrunnen an. Sie wohnte mit Mike, einem Musiker, in L.A.

      „Kara“, rief sie in die Sprechmuschel, „du kommst tatsächlich? Das ist ja toll! Du kannst bei uns pennen, klar doch.“

      Als Mary hörte, dass ich für eine Woche nach L.A. gehe, sagte sie mit einem einmaligen Unschuldsblick, sie wäre noch niemals dort gewesen, und ob ich sie nicht mitnehmen wolle.

      „I have to ask my friends if they have one more sleeping place.”

      Mary schaute verdammt glücklich aus ihrer knalligen und knallengen Punkwäsche. Ich rief Anne an und bekam prompt die Zusage. Schon am nächsten Tag fuhren wir früh morgens in meinem Station Wagon los. Auf dem Highway No.1, später auf der Route 101, ging es an Stanford vorbei, wo ich einen traurigen Moment lang an Siu denken musste. Ich sagte nichts und auch Mary schwieg.

      Über Palo Alto und San José erreichten wir Monterey, wo wir in einem McDonalds dicke Hamburger verdrückten. Anschließend besuchten wir das Stevenson-Haus. Hier schrieb Robert Luis Stevenson 1879 an seinen bekannten Werken »Die Schatzinsel« und »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde«.

      Beim Fahren wechselten Mary und ich uns ab. Mir schien sie inzwischen sympathischer denn je, obwohl ich mir eine echte Beziehung mit ihr nicht vorstellen konnte. Jetzt erfuhr ich aber mehr über ihren familiären Hintergrund. Während ich am Steuer saß, hatte sie zuerst nur ein bisschen belanglos daher geplappert. Aber nach einer Stunde hatte sie plötzlich ein für mich völlig unerwartetes Thema aufgelegt. Ihr Vater war 1965 im Vietnamkrieg gefallen; da war die kleine Mary-Kay gerade einmal acht Jahre alt. Sie saß abends vor dem großen Fenster ihres Kinderzimmers und starrte in den dunkler werdenden Himmel, während ihre Mutter kochte und die Sachen für den nächsten Tag herrichtete. Denn am Morgen musste alles schnell gehen; ihre Mutter hatte einen strengen Chef, der sie feuern würde, wenn sie unpünktlich zur Arbeit käme.

      Mary sprach dann mit ihrem Vater, den sie auf irgendeinem der da oben funkelnden Sterne vermutete. Sie konnte sogar seine Stimme hören, wenn er ihr Ratschläge gab und sie aufforderte, immer ihm zuliebe ehrlich, strebsam und erfolgreich zu sein.

      Eines Abends aber rief Mary ihm laut zu, dass er selbst nicht erfolgreich gewesen sei, sonst wäre er doch noch hier bei ihr. Er könnte sie jetzt beschützen, ihr die Angst vor Gespenstern nehmen; er könnte sie morgens zur Schule begleiten und ihr bei den Hausaufgaben helfen, was Mom nicht konnte, denn Mom war eine fast perfekte Analphabetin.

      Ihre Mom hatte den Ruf nach Dad gehört und nur den Kopf geschüttelt.

      „Dein Vater kommt nicht wieder, Mary.“

      Mary vermisste ihren Dad sehr. Ihre Mutter hatte sie alleine aufgezogen; es gab keine Grandma, keinen Grandpa. In der Pubertät kam es zum großen Krach. Seitdem irrte Mary durch die Welt.

      Als Mary innehielt, sah ich aus den Augenwinkeln ihre Tränen die Wange runterkullern. Aus meinem gewieften punkigen Sexmonster war eine traurige Figur geworden.

      Ich glaubte zu verstehen, weshalb sie sich mir, dem sieben Jahre älteren, an den Hals geworfen hatte.

      Kurz vor Los Angeles legten wir in Santa Barbara eine Pause ein. Ich umarmte sie. Arm in Arm machten wir einen Bummel durch die wunderschöne Altstadt, sofern man in diesem Land von Altstadt sprechen konnte; doch der spanisch-mexikanische Einfluss war im Stadtbild allgegenwärtig.

      Traurige Mütter, frische Lehrer & Lutz, der Seefahrer

      Doro hatte mir ihre Bahnhof-Zoo-Protokolle mit der Bitte um Kommentierung zugesandt. Sie musste einerseits ihr Sozialpraktikum bewältigen und sich zeitgleich auf die Abschlussarbeit in Sozialkunde und Germanistik an der Uni vorbereiten. Ich hatte ihr unter der Bedingung zugesagt, sie möge mir etwas Zeit geben.

      „Hat Zeit bis Ende des Jahres“, hatte sie geantwortet.

      Okay, das war für mich machbar.

      Und jetzt, nach Marys und meinem einwöchigen Besuch bei Anne, Mike und meinem Kontakt zu Professor Borko am Institute for Library and Information der University of Ca. in L.A., hatte ich Muse, mir die Protokolle zu Gemüte zu führen:

      (Vorbemerkung Doro: »Zusammengefasstes Interview mit Ninas Mutter, Verkäuferin«)

      „Wieso habe ich die ganze Zeit über nichts gemerkt? Nina hatte sich anders als sonst verhalten, das stimmt, aber ich verdrängte die Frage nach dem Warum. Später, nach Kontakten zu anderen betroffenen Eltern, fand ich die Antwort: Im Innersten wehrte ich mich dagegen, mir einzugestehen, dass meine Tochter irgendeiner Sucht zum Opfer gefallen sein könnte. Ich ahnte es, schob es aber zur Seite – bis es einfach nicht mehr wegzuschieben war.

      Sie ist doch erst vierzehn, dachte ich, ein Kind ist sie, auch wenn sie sich die Lippen rot schminkt und sich für die Kinder-Disco meine Hochhackigen ausleiht, sie ist ein Kind und hat nichts mit Rauschgift zu tun. Das kann nicht sein.

      Es war der große Fehler zu denken, meine Kleine sei noch nicht soweit. Sie war schon lange so weit. Ich nahm vieles auf die leichte Schulter. Spätestens als Nina sich isolierte und die Wochenenden mit mir mied, auch nicht mehr ihren von uns getrennt lebenden Vater besuchen wollte, sondern beim Hinausgehen rief: „Ich treffe meine Freunde“ und dann einfach bis in die Nacht hinein verschwand, da hätte es bei mir Klick machen müssen. Aber ich war von der Fünfeinhalb-Tage-Woche geschafft, wollte keinen Streit am Wochenende, wollte meine Ruhe und hoffte, dass schon nichts schief lief mit meiner Kleinen.

      Wenn sie sich nicht an Verabredungen hielt und ich harte Worte vermied, um keinen Streit zu provozieren und sie sanft zur Rede stellte, um herauszufinden, was sie die Nächte lang trieb, hörte ich immer wieder Ausflüchte. Ich wollte die Ausreden nicht weiter hinterfragen. Ich wollte Nina nicht zu irgendetwas zwingen, weil ich am eigenen Leib die schlimmsten Erfahrungen damit gemacht hatte.

      Mein Vater war noch nach dem Führerprinzip gestrickt, natürlich musste er der Führer sein. Er war ein Patriarch, der mit absoluter Strenge über die Familie regierte, keine Widerworte duldete und nur ein Erziehungsmittel kannte: das Verbot. So wollte ich nicht werden. Deshalb hatte ich viel Nachsicht für Nina und ließ ihr Freiheiten, die ich heute bereue. Die Verhältnisse in meiner Jugend waren so schrecklich konservativ, dass ich nicht einmal normalen Kontakt zu Jungs haben durfte.

      Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich einmal zu meiner Mutter, einer herzensguten Frau, die jedoch zu Hause nichts zu melden hatte, sagte, dass ich einen Jungen aus meiner Parallelklasse sehr nett fand und dass er mir auf dem Nachhauseweg eine Blume von einem Park-Beet gepflückt hatte. Mein Vater hatte das wohl im Flur gehört, kam um die Ecke geschossen und haute mir derart eine runter, dass mein Ohr noch einen Tag danach dick geschwollen war und mein Lehrer mich fragte, ob ich Ohrenschmerzen habe. Da war ich schon sechzehn.

      Später, mit achtzehn, lernte ich einen Bauarbeiter kennen, Hermann. Er wollte für mich ein Haus bauen, falls wir einmal eine Familie werden würden. Das fand ich goldig. Seine Eltern hatten einen Handwerksbetrieb, eine Schlosserei, aber da wollte er nicht rein. Mein Vater hatte etwas gegen einen Bauarbeiter, der könne mich nicht versorgen, das sei kein anständiger Beruf und so weiter. Je mehr mein Vater gegen Hermann polterte, desto trotziger wurde ich und steigerte mich in eine Liebessehnsucht mit vielen Kindern hinein. Als es zu Handgreiflichkeiten zwischen meinem Vater und Hermann kam, war das Fass zum Überlaufen voll. Ich sah nur einen einzigen Ausweg, nämlich baldmöglichst schwanger zu werden. Und so legte ich es darauf an.

      Das war natürlich

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