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dieser Zwickmühle mache ich mir heute den Vorwurf, die Arbeit überbewertet zu haben. Aber von der Wohlfahrt zu leben, war nicht mein Ding; das hatte mir mein Elternhaus mit auf den Weg gegeben: dass man nicht unnötig der Gemeinschaft zur Last fallen darf. Jedenfalls habe ich vor lauter Schufterei völlig aus den Augen verloren, worauf es eigentlich ankommt. Egal wie ich es drehe und wende: Ich komme immer wieder an denselben Punkt, dass ich meine sensible Kleine zu häufig sich selbst überlassen habe. Sie hätte sicher mehr Halt und Führung gebraucht.

      Ich habe in dieser Zeit nicht im Entferntesten daran gedacht, dass Nina abgleiten und auf eine schiefe Bahn gelangen könne. Für mich war äußerlich die Familienwelt in Ordnung. Zugleich sah ich sehr wohl, was so in Kreuzberg abging, die Schlägereien, die Brüllereien aus den Fenstern der Familienwohnungen und der maßlose Alkoholkonsum an jeder Ecke. In den Hauseingängen lagen die Betrunkenen. Ich hielt die Selbsttäuschung hoch, dass meine Kleine sich an mir ein Vorbild nehmen würde, wenn ich nur nicht rumschlampen, sondern ordentlich unseren Haushalt führen würde; wenn ich nicht von Stütze lebte, sondern arbeiten ginge, wenn ich nicht mit Verboten und Brüllereien erzog, sondern mit Argumenten und Liebe.

      Nach meiner Überzeugung ging es aufwärts. Am Vormittag war Nina in der Schule gut aufgehoben, als Schlüsselkind kam sie mittags nach Hause und machte sich ihr Essen, das ich oft vorbereitet hatte, selber. Es gab so viele Schlüsselkinder, deshalb machte ich mir hierzu auch keine großen Gedanken. Nachmittags ging sie zu einem Tierheim, um sich dort ein wenig die Zeit zu vertreiben, Hunde zu füttern oder mal Gassi zu führen. Ob sie das auch wirklich tat, konnte ich nicht überprüfen.

      Alles ging so weit gut, bis auf kleine Eifersüchteleien zwischen Nina und meinem Freund Karl, der inzwischen bei uns wohnte. Nun hatte ich meine Arbeit, den Haushalt, Nina und hatte auch ihn, für den ich da sein wollte, denn er war für mich der einzige Erwachsene, mit dem ich mich gleichwertig und in liebevoller Weise zurückziehen konnte. Aber gerade auch dann hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber Nina, wenn ich ihr sagen musste, dass ich mal meine Zweisamkeit mit Karl brauchte. Ich glaube heute, dass sie sich in diesen Momenten zurückgestoßen fühlte.

      Zu dieser Zeit muss sie an die falschen Freunde geraten sein. Doch ich hatte dafür keinen Blick. Ihre beste Freundin war immer Chrissi gewesen. Ein vernünftiges Mädchen; sie wohnte in der Nachbarschaft, und ihre Mutter lud die beiden Freundinnen gelegentlich zum Essen oder zu einem gemeinsamen Zoobesuch ein. Chrissi besuchte auch uns und konnte bei uns mitessen – es war eine gute Freundschaft, bis dies irgendwann kippte. Aber selbst das bemerkte ich viel zu spät.

      Damals waren die beiden vierzehn Jahre alt, also in einem Alter, wo man viel erkunden möchte und mit oder ohne Jungs einiges ausprobieren will. Ich fand es deshalb ganz normal, dass sie in den Jugendtreff des Bezirks gingen und war mir sicher, dass sie dort gut aufgehoben waren – es war ja eine offizielle städtische Einrichtung. Dass dort schon Marihuana geraucht und harte Getränke konsumiert wurden, hätte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen können. Denn da gab es doch Sozialarbeiter und andere Aufsichtspersonen, oder?

      Ich war eigentlich eher beruhigt und zuversichtlich, weil sich Nina, wie ich es wahrnahm, zu einer fröhlichen Teenagerin entwickelte, wieder unbeschwert lachen konnte und dem verloren gegangenen Vater nicht mehr nachtrauerte.“

      Ich schlug die Mappe mit Doros Protokollen zu und ging ins Bett. Im Wohnzimmer schnarchte halblaut mein junger Besuch.

      *

      „Was machen wir heute?“ Schlaftrunken, wackelte Lutz in die Küche.

      Es war die erste Frage am ersten Morgen des ersten Tages, als Lutz in der Washington Street zum breakfast erschien. Es sollte die Dauerfrage der nächsten sechs Wochen werden.

      Ich hatte noch nichts zum Frühstück eingekauft. Das wollte ich mit Lutz gemeinsam machen. Ich ging mit ihm zur Natural Bakery, um frische Bagels zu kaufen, zeigte ihm die Shops und den Grocery Store, bei denen ich vorzugsweise unsere Lebensmittel und Dinge des Hausbedarfs besorgte.

      Wir frühstückten zu Hause, danach spazierten wir bei gemäßigtem Vormittagsnebel durch Chinatown, fuhren Cable Car, gingen zur Bay und besuchten Fisherman’s Wharf. Ich stellte ihn meinen Nachbarn vor und besuchte mit ihm das »Art Institute«, wo Sam, Vicky und Mary studierten.

      Ich sparte nichts auf am ersten Tag, weil ich die Hoffnung hatte, Lutz würde sich die kommenden Tage dann selbständig auf die Pirsch durch das abenteuerliche Frisco machen. Aber ich sollte mich gründlich täuschen. Er war irgendwie doch noch der „kleine Lutz“ und benötigte die führende Hand des „Ersatzvaters“. Ich gab mir Mühe, nahm ihn mit zu meinen Pflichtbesuchen an den Unis und zu den Behörden. Wenn er nicht mit in die Gebäude kommen durfte und draußen im Station Wagon warten musste, war ihm schnell langweilig. Kaum saß ich am Lenker, fragte er mich: „Und was machen wir jetzt?“

      Dann brachte ich die Rede auf seine Zukunft. Ob er es ernst mit der Seefahrt meine, ob er wisse, wie hart und rau das Leben auf hoher See sei, ob er wisse, welches Naturell die Seeleute hätten, ob er glaube, dass er den Anforderungen harter körperlicher Arbeit gewachsen sei, ob er bereit sei, unentwegt das Deck zu schrubben und die Klos der Mannschaft sauber zu halten.

      Lutz sah mich dann ungläubig an, als seien dies merkwürdige Fragen und lenkte ab: „Kommt ein Hase in die Wirtschaft und sagt: »Ein Jägerschnitzel bitte!«“

      Ich musste zwar über diesen furztrockenen Witz lachen, ließ aber nicht locker. Das Ergebnis meiner Nachforscherei war stets das Gleiche. Lutz wollte sich Zeit zum Überlegen lassen und noch keine Antworten geben. War auch in Ordnung für mich. Erst gegen Ende seines Aufenthaltes hätte ich halt gerne eine Antwort, sagte ich ihm; hätte dann gerne gewusst, wie er sich seine Zukunft vorstelle, schließlich sei er schon zweiundzwanzig. Dann stöhnte Lutz hörbar auf und strafte mich mit einem kopfschüttelnden Blick.

      Mein Trost bestand in der erwarteten Ankunft von Jan. Er würde mich gewiss entlasten und könnte sich vernünftig und zielführend mit Lutz unterhalten. Jan war Zweiunddreißig und auch für mich eine Respektsperson auf Augenhöhe, schließlich hatte Jan bereits seinen Doktor und war einer von der superklugen Sorte. Von ihm konnte ich noch lernen. Vielleicht könnte auch Lutz von ihm und seinen Ideen profitieren.

      Zwei Wochen später holten wir Jan am Airport vom selben Arrival-point ab, wo zuvor Lutz und Emma auf mich gewartet hatten. Die Wiedersehensfreude mit meinem Arbeitskumpel aus WZB-Zeiten war groß. Lutz und Jan kannten sich nur vom Hören-Sagen. Jetzt lernten sie sich kennen, und es passierte, was ich erhofft hatte: Jan setzte sich mit Lutz und seinen jugendlichen Flausen auseinander, was Lutz erstaunlicherweise besser auf- und annahm als bei mir. Aber konnte mich das wirklich wundern? War es nicht fast immer so, dass die nächststehenden Personen eher als Puffer für sämtliche Unausgegorenheiten herhalten mussten und die Ernsthaftigkeit von Vorschlägen eher von völlig Fremden angenommen wurde?

      Ich hatte mir für die kommenden drei Wochen frei genommen. Meine Nachbarn freuten sich über meine Besucher und schleppten uns gleich nach Jans Ankunft zu verschiedenen punkigen Kunstveranstaltungen. Wieder mal ging es um einen Film, den sie drehten. Die neue Künstlergruppe, mit denen sie jetzt gemeinsam einen Punk-Film drehten, nannte sich »The Kino Kommando 1« – ich vermutete, dass die Verdeutschung mir, ihrem Aushänge-German, geschuldet war. Drehort war ein Beauty Salon.

      Vicky, die im Alter von Lutz war, überreichte uns zum Abendessen eine Einladungskarte: „We are shooting a film in a special location with special people. Please come ON THE HILL, 1916 Hyde Street. We need new actors. We need you.“

      Lutz fand Vicky und ihre Dreier-WG aufregend. Er war hellbegeistert über die Einladung. Jan gestand mir in einem unauffälligen Moment, er fühle sich eigentlich zu alt für solche Albernheiten.

      Ich beschwichtigte ihn mit den Worten: „Kunst ist Kunst und nicht Wurscht. Wir sind doch alle Lebenskünstler, oder?“

      Zirka zwanzig Mitwirkende bekamen verschiedene Rollen zugeteilt. Das Drehbuch war echt verrückt und aus meiner Sicht völlig wirr, der Inhalt nur spekulativ zu erraten: Es ging um Beziehungen und Seitensprünge und um die bürgerliche Doppelmoral.

      Das Ende vom Lied, also das Ende unseres Besuches bei

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