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voller Wohlbefinden.

      Sie sannen beide auf Mittel, um ihr Gewissen zu beruhigen, sie gewöhnten sich an die Reue, die schwächer und schwächer wurde, an die Freude, die auch an Glanz abnahm, und als er nach Sylvanien zurückkehrte, blieb ihm wie ihr von diesen brennenden und grausamen Augenblicken nur noch ein sanftes, etwas kühles Gedenken.

      Kapitel 3

      Seine Jugend macht so viel Lärm;

      er hört nichts.

      Mme. de Sévigné

      Als Alexis an seinem vierzehnten Geburtstag seinen Onkel Baldassar besuchte, fühlte er nicht, wie erwartet, noch einmal das heftige Ergriffensein des vergangenen Jahres.

      Die vielen langen Ritte auf dem Pferd, welches der Onkel ihm geschenkt hatte, hatten seine Körperkräfte straff entwickelt, seine Schlaffheit überwunden. Jetzt durchströmte ihn die ununterbrochene Empfindung von Gesundsein, die sich der Jugend hinzugesellt als das unklare Bewusstsein der unermesslichen Tiefe ihrer tausend Quellen und der Macht ihrer frischen Freude. Er fühlt im Winde, den sein Galopp erweckt, die Brust einem Segel gleich sich spannen, sich ausweiten, er fühlt den Körper aufglühen, gleich einem Winterfeuer. Wie kühl streicht es um die Stirn, wie sanft berühren die fliehenden Blätter den Vorbeijagenden! Er fühlt, wie dieser Körper dann daheim unter dem kalten Wasser stramm wird – um dann zu schlafen, lange, in genießerischem Verdauen. So steigerte er in sich die lebendigen Kräfte des Daseins, die einst auch Baldassars unruhvoller Stolz gewesen waren. Nun aber hatten sie sich von jenem auf immer geschieden, um jüngere Seelen zu erfreuen, welche sie doch auch eines Tages verlassen mussten.

      Keine Faser in Alexis konnte mit der Schwäche seines Onkels zugrunde gehen, nichts in ihm konnte mitsterben bei Baldassars baldigem Tod. Das Blut sauste zu freudevoll in seinen Adern, seine Wünsche brausten zu jugendfroh in seinem Kopfe. Wie sollte er das Klagen, das Verlöschen des Kranken hören? Alexis war mitten in der glutvollen Periode, wo der Leib mit so kräftiger Energie daran arbeitet, seine Paläste zwischen dem Ich und der Seele aufzubauen, bis diese Seele endlich ganz verschwunden zu sein scheint. Aber verschwunden bloß bis zu dem Augenblick, da Krankheit oder Leid in langsamer Arbeit die schmerzhafte Spalte gebohrt haben, an dessen Ende sie wiedererscheint. Er hatte sich an die tödliche Krankheit seines Onkels gewöhnt, wie an alles, was rings um uns dauert. Obwohl Baldassar noch lebte, hatte er Alexis einmal zu Tränen gerührt, wie uns die Toten weinen lassen. So spielte er in Alexis' Dasein nur die Rolle eines Abgeschiedenen, denn Alexis begann ihn zu vergessen.

      Als sein Onkel ihm an diesem Tage sagte: »Mein kleiner Alexis, ich schenke dir den Wagen gleichzeitig mit dem zweiten Pferd«, hatte er verstanden, dass sein Onkel dachte: »Denn sonst kann es so werden, dass du den Wagen niemals bekommst«, und er wusste, dass es ein sehr trauriger Gedanke war. Aber er empfand ihn nicht so, denn im gegebenen Augenblick gab es in ihm keinen Raum für tiefen Schmerz.

      Einige Tage danach machte beim Lesen folgende Szene großen Eindruck auf ihn: Es war die Schilderung eines Bösewichts, den auch die ergreifendsten Zärtlichkeiten eines Sterbenden, der anbetend zu ihm empor sah, nicht rühren konnten.

      Am Abend hatte er Angst, er selbst sei der Bösewicht, in dessen Gestalt er sich wiederzuerkennen glaubte; diese Angst ließ ihn nicht einschlafen. – –

      Der Freiherr von Sylvanie konnte nun nur noch mit Mühe gehen, er entfernte sich gar nicht mehr aus dem Schloss. Seine Freunde und Verwandten verbrachten den ganzen Tag mit ihm; nun konnte er die tadelnswertesten Tollheiten bekennen, die dümmste Verschwendung gestehen, die widersprechendsten Paradoxien loslassen, das abscheulichste Laster aufweisen, ohne dass seine Verwandten ihm Vorwürfe zu machen oder seine Freunde sich einen Witz, einen Widerspruch zu erlauben wagten. Es schien, als sei man stillschweigend übereingekommen, ihn von jeder Verantwortlichkeit für seine Handlungen zu entbinden. Vor allem machte es den Eindruck, als wollte man ihn verhindern, das letzte Knarren und Ächzen seines sterbenden Körpers mit eigenen Ohren zu vernehmen, und deshalb hüllte man ihn fast mit Gewalt in Watte oder versuchte durch Liebkosungen dies Schwere zu überwinden.

      Er durfte jetzt lange und reizvolle Stunden tête-à-tête mit sich selbst verbringen, mit dem einzigen Gast, den er während seines Lebens zum Abendessen einzuladen vergessen hatte. Er fand seine melancholische Freude daran, seinen leidenden Körper aufzuputzen, seine Ergebung an das Fenster zu lehnen und das Meer zu betrachten. Rings um seine Todesszene setzte er einen Kreis von Bildern dieser Welt, von der er noch ganz erfüllt war, welche ihm aber die Entfernung (die ihren Scheidestrich dazwischen gesetzt hatte) schon mit unbestimmter Schönheit schmückte; und so glich diese Todesszene, im Voraus ausgedacht, aber andauernd weiter retuschiert, einem Kunstwerk, ganz erfüllt von der heißesten Trauer. Schon erstand in seiner Phantasie sein Abschied von der Herzogin von Oliviane, seiner großen platonischen Freundin, deren Salon er beherrschte, obwohl die größten Herren, die berühmtesten Künstler und Literaten Europas dort versammelt waren. Es war ihm, als läse er schon die Beschreibung ihrer letzten Unterhaltung: »... Die Sonne war schon untergegangen, und das Meer, das man durch die Zweige der Apfelbäume erblickte, war malvenfarbig. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen schwebten am Horizont, so zart wie lichte welke Kränze, immer wechselvoll wie Klagen. Eine melancholische Reihe von Pappeln tauchte im Dunkel unter, ihre ergebenen Wipfel versanken, in einem Rosa leuchtend, wie es die Scheiben alter Kirchen haben. Die letzten Strahlen konnten nicht bis zu ihren Stämmen durchdringen und färbten bloß ihre Äste, die schattenhaften Balustraden mit Lichtgirlanden behängend. Die Brise vereinte den Duft von Meer, von feuchtem Blattwerk und von Milch. Nie war die Landschaft von Sylvanien tiefer mit wollüstiger Glut und mit der Wehmut des sanften Abends durchtränkt.«

      »Ich habe Sie sehr geliebt, aber ich habe Ihnen wenig gegeben, mein armer Freund«, sagt sie zu ihm.

      »Was sagen Sie, Oliviane? Sie mir wenig gegeben? Sie haben mir tausendmal mehr gegeben, als ich je erbeten habe, und wahrhaftig unvergleichlich mehr, als wenn die niederen Sinne ihren Anteil an unserer Zuneigung gehabt hätten. Sie waren nicht von dieser Welt, waren hoch wie eine Madonna, sanft wie eine Amme, so habe ich Sie angebetet, so haben Sie mich auf Ihren Armen gewiegt. Ich habe Sie mit einer Zuneigung geliebt, deren zartfühlende Klarheit durch keine Hoffnung auf Sinnenfreude getrübt wurde. Sie brachten mir dafür eine unvergleichliche Freundschaft, einen auserwählten Tee, ein Gespräch voll natürlicher Schönheit und frische Rosen – weiß ich noch, wieviel? ... Sie allein haben mit mütterlich beredten Händen meine im Fieber brennende Stirn kühlen können, haben Honig zwischen meine vertrockneten Lippen geflößt und schöne, edle Bilder in mein Leben gebracht.

      Liebe Freundin, geben Sie mir Ihre Hände, ich möchte sie küssen ...«

      Es gab für ihn nichts mehr auf der Welt als die Gleichgültigkeit Pias, einer kleinen Syrakuser Prinzessin, die er mit allen Sinnen und von ganzem Herzen liebte (sie aber war in unversiegbarer, toller Leidenschaft zu Castruccio entbrannt), diese Gleichgültigkeit war es, die ihn von Zeit zu Zeit an eine rauere Wirklichkeit erinnerte. Er bemühte sich, diese Wirklichkeit schnell zu vergessen. Noch in den letzten Tagen hatte er sich mit ihr auf Festen gezeigt, so glaubte er seinen Rivalen zu demütigen; aber auch dort sah er, wenn sie an seinem Arme ging, in ihren tiefen Augen nur den Widerschein einer Liebe zu dem andern; und wenn sie sie ihm verbarg, so war es nur aus Mitgefühl mit dem Kranken. Und nun konnte er sogar das nicht mehr. Seine Beine gehorchten ihm so wenig, dass er sich nicht mehr öffentlich zeigen konnte. Doch besuchte sie ihn oft, und als sei sie in die große Sanftheitsverschwörung der andern eingeweiht und aufgenommen, wandte sie sich stets zu ihm mit besonderer, sinnreich ausgedachter Zärtlichkeit, die niemals, wie früher sonst, vom Schrei ihrer unwilligen Kälte oder von dem Geständnis ihres Zornes Lügen gestraft wurde. Ihre Sanftheit war anders als die aller übrigen Menschen, er fühlte sie als tiefe Beruhigung über sich dahinströmen, und so wurde er von ihr beglückt.

      Als er sich aber eines Tages von seinem Stuhl erhob, um zu Tisch zu gehen, sah sein Diener in höchstem Erstaunen ihn viel besser gehen. Der Kranke ließ den Arzt kommen, der sich noch nicht entscheiden wollte. Am nächsten Tage ging er gut. Nach acht Tagen erlaubte man ihm auszugehen. Grenzenlose Hoffnung erfüllte seine Eltern und Verwandten. Der Arzt glaubte, eine einfache, heilbare Nervenkrankheit habe die Merkmale der

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