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Die Übersetzungen von Ernst Weiß. Manfred Müller
Читать онлайн.Название Die Übersetzungen von Ernst Weiß
Год выпуска 0
isbn 9783742705754
Автор произведения Manfred Müller
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Baldassar hatte sich über seine Krankheit völlige Klarheit verschafft und wusste, dass er höchstens noch drei Jahre zu leben hatte. Alexis konnte natürlich nicht begreifen, dass diese kummervolle Gewissheit seinen Onkel nicht getötet oder in den Wahnsinn getrieben hatte. Er fühlte sich nicht stark genug, den Schmerz zu ertragen, wenn er ihn sah. Er war durchaus überzeugt, dass er dann mit ihm von seinem nahen Ende sprechen müsse. Wie sollte er sich die Stärke zutrauen, den Onkel zu trösten oder wenigstens das Schluchzen in seiner Kehle zu unterdrücken? Er hatte seinen Onkel immer verehrt, fast angebetet. Für ihn war er der größte, der schönste, der jüngste, der feurigste und gütigste von allen Verwandten. Er liebte seine grauen Augen, seinen blonden Schnurrbart, seine Knie; dies war für den Knaben der tiefe und wonnige Zufluchtsort, solange er noch ganz klein war. Damals waren die Knie ihm uneinnehmbar erschienen wie eine Festung, von der einen Seite belustigend wie Holzpferde, von der andern unverletzlich wie ein Tempel. Alexis, der an seinem Vater die dunkle, strenge Kleidung offenkundig missbilligte und von einer Zeit der Zukunft träumte, in welcher er, stets zu Pferde, eine Eleganz wie eine Dame und eine Pracht wie ein König entfalten wollte, sah in Baldassar das höchste Ideal, das er sich von einem Manne bilden konnte. Sein Onkel war schön, das wusste Alexis, und er selbst sah ihm ähnlich. Und dann war sein Onkel klug, großherzig, seine Macht war mindestens ebenso groß wie die eines Bischofs oder eines Generals. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er zwar aus dem Urteil seiner Eltern auch herausgehört, dass der Freiherr nicht ganz ohne Fehler war. Er hatte noch nicht vergessen, wie furchtbar zornig der Onkel hatte werden können, als sein Vetter Jean Galéas sich über ihn lustig gemacht hatte, und er dachte daran, wie das Aufflackern seiner Augen den Triumph seiner befriedigten Eitelkeit verraten hatte, als der Herzog von Parma ihm die Hand seiner Schwester anbieten ließ. (Der Oheim hatte damals, um nur ja seine Freude nicht offen zu zeigen, die Zähne zusammengebissen und eine Grimasse geschnitten, die ihm zur Gewohnheit geworden war und die Alexis missfiel.) Er erinnerte sich noch des Tons der Verachtung, mit dem er zu Lucretia sprach, als sie eingestand, seine Musik nicht zu lieben.
Des Öfteren spielten seine Eltern auf andere Handlungen seines Onkels an, die er nicht kannte, aber die er heftig tadeln hörte.
Aber jetzt waren alle Fehler Baldassars und seine banale Grimasse verschwunden. Wie sehr mussten die Spötteleien von Jean Galéas, die Freundschaft des Herzogs von Parma und seine eigene Musik einem Manne gleichgültig geworden sein, der sich dessen bewusst war, dass er in zwei Jahren vielleicht schon unter der Erde sein würde. Alexis stellte sich ihn vor, genauso schön, aber viel feierlicher und noch vollkommener, als er es vorher gewesen. Ja, feierlich und nicht mehr ganz von dieser Welt. Daher kam zu seinem trostlosen Leid noch ein wenig Unruhe und Schaudern. Die Pferde waren seit langem angeschirrt, man musste aufbrechen; so stieg er denn in den Wagen. Aber er verließ ihn wieder, um seinen Erzieher um einen allerletzten Rat zu fragen. Kaum hatte er begonnen zu reden, als er tief errötete.
»Herr Legrand, darf mein Onkel merken oder nicht, dass ich weiß, dass er sterben muss?«
»Nein, er soll nichts merken, Alexis!«
»Aber wenn er davon spricht?«
»Er wird nicht davon sprechen.«
»Er wird nicht davon sprechen?« sagte Alexis betroffen. Das war die einzige Möglichkeit, die er nicht vorausgesehen hatte. Denn sooft er sich den Besuch bei seinem Onkel in der Phantasie ausgemalt hatte, hatte er ihn über den Tod mit der Sanftheit eines Priesters sprechen gehört.
»Ja, aber wenn er doch davon spricht?«
»Dann sagen Sie ihm, dass er sich täuscht.«
»Und wenn ich weine?«
»Sie haben heute Morgen schon zu viel geweint, Sie werden in seiner Gegenwart nicht weinen.«
»Ich werde nicht weinen?« rief Alexis verzweifelt aus. »Dann muss er ja glauben, dass ich keinen Kummer fühle, dass ich ihn nicht mag... mein lieber armer Onkel...« Und er brach in Tränen aus. Seine Mutter mochte nicht länger geduldig warten, sie kam, um ihn zu holen, und die Reise ging los.
Alexis traf im Vorraum einen grün- und weißlivrierten Diener, der auf den Knöpfen der Livree das Wappen von Sylvanien trug, und übergab ihm seinen kleinen Mantel. Nun blieb er mit seiner Mutter einen Augenblick stehen und lauschte dem Geigenklang, der aus einem Nachbarzimmer drang. Dann führte man sie in einen sehr großen, runden Saal, der ganz verglast war und in dem der Freiherr sich oft aufhielt. Man sah gleich beim Eintritt das Meer vor sich; man musste nur den Kopf wenden, um Rasenplätze, Wiesen und Wälder zu erblicken. In der Tiefe des Gemaches gab es zwei Katzen, ferner Rosen, Mohnblumen und viele Musikinstrumente.
Sie warteten einen Augenblick.
Alexis stürzte sich auf seine Mutter, sie dachte, er wolle sie küssen, aber er flüsterte ihr zu, seinen Mund an ihr Ohr gepresst: »Wie alt ist mein Onkel?«
»Er wird im Juni sechsunddreißig Jahre alt.«
Er wollte fragen: »Glaubst du, dass er jemals sechsunddreißig Jahre alt wird?«, aber er wagte es nicht.
Eine Tür ging auf, Alexis zitterte, ein Diener sagte: »Der Herr Baron erscheint sofort.«
Bald kam der Diener wieder und ließ zwei Pfauen und ein Zicklein herein, die der Freiherr immer bei sich hatte. Dann hörte man wieder Schritte, die Tür öffnete sich noch einmal. Es ist nichts, sagte sich Alexis. Sein Herz schlug jedes Mal höher, sooft er ein Geräusch hörte. Es ist wahrscheinlich nur ein Diener, ja, es kann nichts anderes sein als ein Diener. Aber in diesem Augenblick hörte er eine sanfte Stimme: »Guten Tag, mein kleiner Alexis, ich wünsche dir Glück zum Geburtstag.« Aber sein Onkel machte ihm Angst, als er ihn umarmte, was unvermeidlich war. Nachher beschäftigte er sich nicht weiter mit dem Knaben, er wollte ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen, und begann nun lustig mit Alexis' Mutter, seiner Schwägerin, zu plaudern. Seit dem Tode seiner Mutter war sie der Mensch, den er am meisten auf der Welt liebte.
Jetzt hatte sich Alexis gefasst und fühlte nur noch eine große Zärtlichkeit für diesen jungen Mann, der immer noch so bezaubernd war, der kaum blasser schien als zuvor und der sein Leiden so heldenhaft trug, dass er in dieser tragischen Minute eine Komödie der Lustigkeit spielen konnte. Er hätte sich ihm gern an den Hals geworfen, aber er wagte es nicht. Denn er fürchtete, er könne die Energie seines Onkels lähmen, und wie sollte er sich dann noch beherrschen? Vor allem war es der traurige, sanfte Blick des Freiherrn, der ihm Sehnsucht nach Tränen gab. Alexis wusste, diese Augen waren nie anders als traurig, und selbst in den glücklichsten Augenblicken schienen sie um einen Trost zu flehen für Schmerzen, die lange schon vergangen waren. Aber in diesem Augenblick war sich Alexis bewusst, die Traurigkeit seines Onkels (mit aller Tapferkeit aus dem Gespräch verbannt) habe sich in die Augen geflüchtet, die mit seinen abgemagerten Wangen allein die Wahrheit sprachen.
»Ich weiß, dass du gern einen Wagen mit zwei Pferden fahren würdest, mein kleiner Alexis«, sagte Baldassar, »man wird dir morgen ein Pferd bringen. Zum nächsten Jahr werde ich das Paar vervollständigen, und in zwei Jahren werde ich dir den Wagen schenken. Aber vielleicht könntest du dieses Jahr immerhin das Pferd reiten, wir werden es nach meiner Rückkehr ausprobieren. Denn ich bin entschlossen, morgen zu reisen«, sagte er, »aber nicht auf lange. In kaum einem Monat will ich zurück sein, und wir werden zusammen in die Vormittagsaufführung gehen, weißt du, und das Schauspiel ansehen, wie ich es dir versprochen habe.«
Alexis wusste, dass sein Onkel einige Wochen bei einem Freunde verbringen wollte, auch wusste er, dass es jenem noch erlaubt war, ins Theater zu gehen; aber wenn er vor diesem Besuch bei dem Onkel von niederschmetternden Todesgedanken durchdrungen war, so empfand er doch jetzt bei seinen Worten ein tiefes und schmerzliches Erstaunen.
Ich will nicht hingehen, sagte er sich. Denn nur unter Qualen würde sein Onkel das Witzereißen der Schauspieler und das Lachen der Zuschauer anhören können.
»Was