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der Beratung von draußen zuzuhören.

      Was es heute zu beschließen galt war von besonderer Tragweite für die Menschen der Enoderi. Die Versammlung der Auraträger würde sich daher nicht damit begnügen, sich untereinander zu beraten, sondern die Hilfe der Weisen Prophetin in Anspruch nehmen. Man würde sie in ihrem Tempel aufsuchen, der auf besondere Weise geweiht war.

      Bergos machte eine leichte, ausholende Bewegung mit der Hand. Von den Wänden begann sich ein sanfter Schimmer auszubreiten. Erst in einem wogenden Blau, dann im sanften Goldgelb der Sonne.

      Die sorgfältig bemalten Wände wurden nun sichtbar und ein großer schwarzer Stein, auf dem sich die Namen der Auraträger in zartem Blau abhoben. Jeder Auraträger, von Anbeginn an, war hier verzeichnet. Eine lange Liste von Namen und mit jedem neuen Träger wuchs der Stein ein wenig weiter aus dem Boden. Auf ihm würden noch viele Namen ihren Platz finden, bevor er die Decke berührte und man die Halle vergrößern musste. Die Decke war in einem glasiert wirkenden Blau gehalten und zeigte ein getreues Abbild des Sternenhimmels. Ihre gewölbte Form ruhte ohne stützende Säulen auf den tragenden Wänden des Rundbaus.

      Bergos zog fröstelnd die Schultern zusammen. Nach der Hitze des Tages empfand er die Kühle des abgeschirmten Raumes als unangenehm, aber bald wurde die Wärme von außen eindringen. Er schritt zu der Rundbank und die anderen folgten ihm schweigend. Als sie alle Platz genommen hatten, ergriff Bergos behutsam seinen Stirnreif, hob ihn über den Kopf an und wartete, bis die anderen es ihm gleich getan hatten.

      „Ein Gleicher unter Gleichen“, sagte er feierlich. „Die Aura ist Eins, so wie wir Eins sind. Möge ihre Kraft uns leiten und dem Wohl des Volkes dienen.“

      Die anderen wiederholten die rituelle Formel. Von den empor gehaltenen blauen Steinen breitete sich ein blaues Wallen aus, verdichtete sich in der Mitte zwischen den Auraträgern und wurde zu einem Gleißen, vor dem die Männer geblendet die Augen schlossen. Dann erlosch jeder Glanz und die Männer setzten die Stirnreifen wieder auf.

      „Ein furchtbares Schicksal hat uns getroffen“, eröffnete Bergos und sah die anderen Männer der Reihe nach an. „Die Gemeinschaft von Ayan wurde nahezu ausgelöscht. Überfallen von mordgierigen Barbaren, die viele der unseren entführt haben. Sie sehen nun einem ungewissen Schicksal entgegen. Unsere Herzen sind von Trauer erfüllt.“

      Die anderen nickten und Kender Ma´ara erwiderte Bergos Blick grimmig. „Von Trauer und von Zorn erfüllt.“

      „Wut ist ein schlechter Ratgeber“, ermahnte Bergos. „Wut verführt zu unüberlegtem Handeln und sie verführt zu Gewalt. Die Enoderi sind ein Volk des Friedens, Brüder der Aura.“

      Kender räusperte sich. „Kann ich frei sprechen?“

      „Jeder Enoderi darf frei sprechen“, stimmte Bergos zu, „und das gilt besonders für ein Mitglied des Rates, der über die Zukunft des Volkes entscheidet.“

      „Unsere Jäger haben die Spur der Mörder bis zur Grenze verfolgt. Sie haben unser Land verlassen, aber niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob sie nicht eines Tages zurückkehren werden.“

      „Ich habe mit der verletzten Baumhüterin gesprochen, die nun wieder bei Sinnen ist“, meldete sich ein anderer zu Wort. „Es waren Krieger mit kupferfarbener Haut.“

      „Berengar“, sagte Bergos mit tonloser Stimme. Einige der Männer sahen ihn ratlos an und der Führer der Auraträger zuckte die Schultern. „Krieger aus einem fernen Land im Osten. Es heißt sie seien keine Menschen, obwohl sie so aussehen. Ich hörte im Handelsposten an der Grenze zu Menteva von ihnen. Scheinbar fallen diese Barbaren öfter in die Gebiete des Reiches Menteva ein.“

      „Jetzt fielen sie bei uns ein.“

      „Aber was ist der Grund?“ Ein hagerer Mann blickte nachdenklich auf den Stein mit den vielen Namen. „Nie zuvor ist das geschehen. Eine ganze Gemeinschaft, einfach ausgelöscht. Diese Bemenkar…“

      „Berengar“, korrigierte Bergos leise.

      „Schön, also diese Berengar… Sie müssen ein Stück durch das Gebiet der Mentever bevor sie unser Land betreten, nicht wahr? Warum gehen sie so ein Risiko ein? Sie nahmen nichts mit, außer Frauen und Kindern, und die finden sie auch in den Dörfern Mentevas.“

      „Es war eine sinnlose Bluttat“, stimmte ein Auraträger grimmig zu. „Welcher Sinn kann schon dahinter stehen, einem anderen Wesen das Leben zu nehmen? Nichts als der nackte Wahnsinn.“

      „Es muss einen Sinn haben“, erwiderte Bergos. „Nichts geschieht im Kreislauf des Lebens, ohne dass es einen tieferen Sinn hat. Er ist uns nur verborgen.“

      „Dann sollten wir die Prophetin fragen.“

      Zustimmendes Gemurmel erhob sich und Bergos nickte. „Das sehe ich ebenso. Ich habe sie bereits darauf vorbereitet, das wir ihren Rat benötigen.“

      „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“ Kender erhob sich. „Dieses Gemetzel in Ayan bereitet mir großes Unbehagen. Ich fürchte diese Bestien werden eines Tages zurückkehren und wir müssen uns darauf vorbereiten.“

      Einer der anderen Männer räusperte sich. „Was ist mit Ayan? Lebt es wieder?“

      „Natürlich.“ Bergos erhob sich nun ebenfalls. „Wir können die Kegelbäume nicht alleine lassen. So, wie wir sie als Heimstatt benötigen, brauchen die Bäume unseren Beistand gegen die Käfer. Einige Familien sind schon nach Ayan umgesiedelt und andere werden bald folgen. Ich, äh, haben ihnen zugesichert, dass immer zwei von uns Auraträgern in der Nähe sein werden.“

      „Dem stimme ich zu“, sagte Kender. „Und nun sollten wir zur Prophetin gehen.“

      Bergos runzelte die Stirn und sah Kender mahnend an, als der zum Ausgang eilen wollte. Errötend hielt sich der jüngere Mann zurück und ließ Bergos den ihm zustehenden Vortritt.

      Vor der Ratshalle hatte sich eine schweigende Menge versammelt. Der Respekt vor den Auraträgern verhinderte, dass man ihnen Fragen zurief, deren Antworten die Männer ohnehin noch nicht kannten. Als die Menge sah, wohin sich die Ratsmitglieder begaben, folgte sie ihnen in einigem Abstand. Der Weg zum Tempel war nicht weit. Die beiden Bauten lagen einige hundert Meter außerhalb des Waldes von Ayanteal, umgeben von Gras und Blumen. Insekten erhoben sich von den Blüten, aufgeschreckt von den Schritten der vielen Menschen. Schließlich erreichten die Enoderi den Ort, an dem die Weise Prophetin lebte und wirkte.

      Der Tempel war auf einem sanft ansteigenden Hügel erbaut worden. Ein mit Steinplatten ausgelegter Weg führte zu dem Gebäude, das in seiner Form an einen Kegelbaum erinnerte. Es war allerdings ungleich kleiner und bestand aus weißem Holz, von dem sich die tiefgrünen Blätter deutlich abhoben. Es war lebendes Holz und somit ein lebendes Gebäude. Nirgends sonst hatte man eine Pflanze gefunden, die aus weißem Holz wuchs. Die Blüten wiesen auch nicht die übliche ovale Form auf, sondern waren dreieckig und ihre stumpfen Enden wiesen nach außen. Es gab auch nicht die Fangwurzeln eines Kegelbaums und obwohl der Tempel der Prophetin lebte, gab es keine Baumhüterin, die ihn beeinflussen konnte. Er fügte sich nur dem Willen der Weisen Frau, so wie sich die Enoderi ihren Prophezeiungen fügten.

      Die Platten des Steinweges waren nicht in Stufen verlegt. Einem gleichmäßigen weißen Band gleich, stieg er sanft zum Tempel empor. Selbst wenn im Winter Schnee und Eis das Land bedeckten, blieb dieser Weg immer frei. Bergos hatte sich einmal in einem, wie er hoffte, unbeobachtetem Augenblick gebückt und die Platten betastet. Sie waren warm gewesen. Wie ein lebendes Wesen, dabei bestanden sie aus totem Material. Kein Enoderi konnte toten Stein beherrschen, aber die Prophetin schien über diese Gabe zu verfügen.

      „Wer begehrt Einlass?“

      Es war eine wesenlose Stimme, die in ihren Köpfen zu schwingen schien.

      Bergos hatte den Eingang des Tempels noch nicht ganz erreicht und nun verharrte er. „Der Rat der Auraträger sucht die Prophezeiung der Weisen Frau.“

      „Dann tretet ein und fügt euch dem Willen der Göttin.“

      Vor ihnen wichen die Wände des Tempels auseinander.

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