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jetzt fällt ihm auf, dass wir alle unsere Rucksäcke umgeschnallt haben. „Was habt ihr vor?“

      „Wir müssen hier raus“, erklärt ihm Klara.

      „Und zwar schnell!“ fügt Frau Duschau hinzu.

      „Wenn Diti einen Wagen hat…“ ruft Fräulein Plasse und zeigt hilflos auf ihren schweren Koffer. Niemand achtet auf sie.

      „Wir müssen weg!“ schreit Frau Duschau. „Und zwar bevor es überall brennt!“

      Diti zerrt mich durch den Notausgang ins Freie. „Stell dich neben den Leiterwagen und lass ihn dir nicht klauen“, ermahnt er mich streng. „Schrei, wenn einer ihn dir wegnehmen will!“

      Er springt in den Keller und hilft erst den Kindern hinaus, danach den Alten, dann den Frauen. Er trägt Taschen, Decken und Mäntel ins Freie, Eimer voller Gläser, Geschirr, Flaschen, Besteck, ein Bündel Handtücher – zuletzt auch Fräulein Plasses Koffer.

      Als alles sich auf dem hohen, zweirädrigen Karren stapelt, setzt sich ein kleiner Flüchtlingstreck in Bewegung: die Frauen dicht beim Leiterwagen, wir Kinder rings um sie, zu ihrem Schutz. Diti zieht vorn an der Deichsel, ich schiebe hinten. Noch geht es leicht: Der Johannisberg fällt zum Jäschkentaler Weg leicht ab. Doch der Wagen hat sein Gewicht. Noch müssen wir bremsen, aber wie wird es sein, wenn es bergauf geht? Wir fühlen uns schwach vom langen Herumsitzen im Keller, von all den schlaflosen Nächten.

      „Papa und Achim stehen immer noch an der Kreuzung“, rufe ich. Wir können nicht zu ihnen. Ein Flüchtlingsstrom aus der Stadt wälzt sich den Jäschkentaler Weg herauf. Tausende ziehen an uns vorüber. Russische Soldaten mit umgehängten Maschinenpistolen begleiten den Zug.

      „Ganz Danzig brennt!“ rufen die Flüchtlinge uns zu. „Es wird immer noch gekämpft!“

      „Wo wollt ihr hin?“

      „In die Wälder!“

      Manche schieben überladene Kinderwagen vor sich her, andere transportieren ihre Habseligkeiten auf Fahrrädern. Sie erzählen, sie seien schon seit Stunden unterwegs und todmüde. Als einige den Jäschkentaler Weg zu verstopfen drohen, weil sie für einen Augenblick verschnaufen möchten, kommen die Posten, drohen und treiben sie weiter.

      Wir wollen Papa und Achim Auf Wiedersehn sagen. Dazu müssen wir durch den Menschenstrom hindurch. Aber kaum sind wir in die Menge der vorwärts Drängenden eingetaucht, werden wir auch schon mitgerissen. Mama kämpft verbissen gegen den Strom an. Als sie ganz nah bei Papa ist, wird sie von einem der Posten zurückgeschickt. Nur Dorothee schafft es an den Soldaten vorbei. Zwischen den Gefangenen schlängelt sie sich hindurch, springt an Papa hoch und umarmt ihn noch einmal.

      Wo sehen wir uns wieder, Papa…?

      5.

      Nachmittags sind wir losgezogen. Abends fängt es an zu regnen. Es wird kühl. Ende März liegt in Danzig um diese Zeit Schnee.

      „Wir haben Diti verloren!“ Große Angst überkommt mich, ich fühle mich verlassen und weine.

      „Irgendwo hinten wird er sein, er kommt nach“, beruhigt mich Mama. Aber nichts kann mich trösten. „Ich höre seine Räder nicht quietschen!“

      Diti hatte mich nach vorn geschickt, zu Mama. Er sah, ich konnte nicht mehr. Ein hinkender Mann warf seine Tasche auf den Karren und half an meiner Stelle schieben. Der Weg geht über Feldwege, über einen Friedhof, dann durch den Wald, bergauf, bergab...

      „Auf dem Wagen ist alles, was wir zu essen und zu trinken haben“, sage ich zu Mama, „und die Decken für die Nacht!“

      „Ich hab was zu essen dabei“, ruft Klara. Über ihrer Schulter hängt eine schwere Tasche mit Proviant. Klara trägt den schlafenden vierjährigen Helmut auf dem Arm und hat einen Arm um den siebenjährigen Detlef gelegt, der ihr nicht von der Seite weicht.

      Immer tiefer werden wir in den Wald geführt. Wenn ich mich umdrehe, um nach Diti Ausschau zu halten, sehe ich am Himmel einen riesigen roten Feuerschein. Hinter uns brennt die Stadt.

      „Wissen Sie noch, Klara?“ sagt Mama. „Die polnischen Frauen auf der Langgasse – im September 1939? Sie zogen Bollerwagen mit armseligen Bündeln hinter sich her, und neben den Wagen gingen die Kinder. „Wohin gehen die bloß?“, habe ich die Leute auf der Straße gefragt. Keiner wusste Genaues. Einer sagte: „Aufs Land, wo sie hingehören! In unserer schönen deutschen Stadt jedenfalls haben sie nichts mehr zu suchen…“

      Mama hat einen Augenblick lang die schweren Taschen abgesetzt; an eine klammert sich die übermüdete Dorothee. Die Großeltern sind zurückgeblieben; wir müssen warten, bis sie uns einholen. Die Kleinen wollen trinken. Hinter uns schimpfen Flüchtlinge, weil wir ihnen den Weg versperren und sie über unsere Taschen stolpern. Frau Duschau bringt das Gepäck vor den Füßen der Nachdrängenden in Sicherheit.

      „Wir müssen weiter“, sagt sie, „meine Kinder schlafen im Stehen ein.“

      Klara hat angehalten, um Helmut auf die andere Schulter zu legen.

      „Als wir im Sommer in Bohnsack waren, weißt du noch?“ sage ich zu ihr. „Da hat auch was gebrannt.“

      „In Bohnsack?“ Klara ist zu müde zum Nachdenken. „Das musst du geträumt haben.“

      „Ich weiß genau, da hat was gebrannt!“ Immer habe ich daran denken müssen, wenn ich Papas Fotoalbum durchblätterte. Wir sitzen bei Bohnsack am Strand. Einige Fotos zeigen uns vor Kolskes Fischerhaus. Da wohnten wir zur Sommerfrische. ‚September 1939’ stand unter den Bildern.

      „Als der Krieg anfing“, versuche ich Klaras Gedächtnis aufzufrischen. „Als wir an der Ostsee waren. Als sie anfingen zu schießen.“

      Klara schweigt.

      „Es war nachts, die Vorhänge waren zu. Kleine Fenster hatte das Fischerhaus. Und rot karierte Vorhänge.“

      „An was du dich alles erinnerst!“

      „Du trugst ein schwarzes Kleid, hast dich aufs Sofa geworfen und geweint. Nie habe ich einen Menschen so weinen gesehen wir dich. Du hast geschrien!“

      Klara geht mit fast geschlossenen Augen neben mir her. Helmut auf ihrem Arm schläft.

      „Mama hat gesagt, du sollst aufhören, die Kinder… “

      Klara stöhnt. Helmut wird ihr zu schwer.

      „Klara, reißen Sie sich zusammen… vor den Kindern! War das nicht so, Klara?“

      „Ja. So war es. Genauso.“

      „Was war da?“ will ich wissen.

      Klara schaut sich um, ob Diti mit dem Wagen kommt.

      „Warum hat Mama damals mit dir geschimpft, Klara?“

      „Du musst das richtig verstehen!“ sagt sie. „Deine Mutter hatte Angst. Jeder hatte damals Angst. Man durfte kein lautes Wort sagen. Schon gar nicht vor Kindern…“ Und dann, nach einer Weile: „An diesem Tag ist meine Mutter umgekommen.“

      „Euer Haus brannte… hast du uns damals erzählt, nicht?“

      Klara nimmt den schlafenden Helmut auf den linken Arm.

      „Wer hat euer Haus in Brand gesteckt?“

      Klara schaut mich bittend an, ich soll sie in Ruhe lassen. Aber sie sieht, es ist zwecklos, ich würde sie noch lange mit Fragen quälen.

      „Das war am ersten Tag des Krieges“, sagt Klara mit leiser Stimme, damit Helmut nicht aufwacht und weint. „Mein Schwager war bei der polnischen Eisenbahn. Alle, die bei der polnischen Eisenbahn waren, wurden abgeholt.“

      „Von wem?“

      „Von wem schon? Von der SS.“

      „Das hast du uns nie gesagt!“

      „Ihr durftet nichts

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