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Wenn alles in Scherben fällt. Wolfgang Kirchner
Читать онлайн.Название Wenn alles in Scherben fällt
Год выпуска 0
isbn 9783738007039
Автор произведения Wolfgang Kirchner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Also trampeln wir hinter dem Russen her und treten auf brennenden Papieren und Stoffen herum. Immer neue Russen kommen herein. Unser Haus lockt ganze Kompanien an, sie scheinen bei uns sagenhafte Reichtümer zu vermuten.
„Barbaren“, nennt Diti die Russen, „kulturloses Pack!“, weil sie Bücher aus den Regalen reißen und zu Boden werfen, weil sie auf Ölgemälden herumtrampeln. Aber wenn einer sich an Mamas Flügel setzt und eine Etüde von Chopin spielt, dass es durchs ganze Haus schallt, staunt Diti. Er lacht mit den Rotarmisten, wenn sie ihm Zigaretten drehen und der Machorka seine Kehle so reizt, dass er mit Husten nicht aufhören kann. Wenn er ihren Ruf hört: „Komm, Frau!“, wird Diti wütend und nennt sie Schweine. Mir geht es wie ihm – mal fürchte ich mich vor ihnen, mal lache ich über sie.
Von einem der Russen wird Diti gepackt. „Uri!“ Diti trägt keine Armbanduhr; rechtzeitig hat er sie versteckt. Er zeigt dem Russen die nackten Handgelenke. Der Russe besteht auf einer Uhr. Da sagt Diti: „Komm mit, Russki!“ Und führt ihn in Papas Arbeitszimmer. Auf einem der Bücherschränke steht eine schwere alte Messinguhr mit breit ausladendem, unförmigem Zierrat. Die Regalböden als Leiter nutzend, klettert Diti hinauf, packt die Uhr und reicht sie dem Russen herunter. Der hält das für einen schlechten Scherz. Was soll er mit dem schweren Ding anfangen? Er wirft die Uhr wütend zu Boden. Und weil er denkt, Diti habe ihn zum Narren gehalten, tritt er mit dem Fuß nach ihm und flucht drohend hinter uns her, als wir uns vor ihm in Sicherheit bringen.
Mit Diti fliehe ich die Treppe hinunter in den Keller. Auch hier überall Russen. Einer wühlt im Dunkeln zwischen den Kostbarkeiten, die Klara für Zeiten der Not gehortet hat: Gläser mit Obst aus unserem Garten, Kompott in zellophan-bespannten Töpfen, Fleisch, ganze Hühner in Weckgläsern, sorgfältig beschriftet. Mit Eingemachtem können die Russen wenig anfangen. Krachend fallen die Gläser zu Boden. Unsere Fleischvorräte sagen ihnen mehr zu. Sie schneiden die Würste mit dem Seitengewehr vom Haken und gehen zufrieden hinaus.
Bald ist im Keller kein Durchkommen mehr. Was in Kisten und Koffern sorgfältig verpackt war, liegt verstreut am Boden, vermischt mit dem Inhalt und den Scherben der Weckgläser. Papas Weinvorräte sind längst verschwunden. Nur die Kommissbrote werden nicht mitgenommen. Brot haben sie selber. Schnaps suchen sie. Es heißt, sie trinken alles, was Alkohol enthält, sogar Haarwasser und Parfüm…
Einen Russen hören wir auf Klara einreden: „Komm, Frau!“ Klara schreit um Hilfe. Aber der Russe will etwas anderes, als Klara befürchtet. „Schlüssel!“ sagt er immer wieder und zeigt nach oben. Klara soll ihm folgen, soll oben einen Schrank aufschließen, in dem er ein Schnapslager vermutet.
Im Esszimmer steht Mamas kostbares Büfett aus Birkenholz, daran rüttelt der Russe, es klirrt und klingelt darin, als sei der Schrank voller Flaschen. Klara ist so durcheinander, dass sie den passenden Schlüssel nicht gleich findet. Der Russe kann nicht warten. Er steckt sein Bajonett aufs Gewehr und sticht mit dem langen Messer ins Schloss. Splitternd öffnen sich die Türen: Nichts als Kristallgläser und leere Karaffen. Enttäuscht schlägt der Russe mit der Faust zwischen all das leere Glas, in hohem Bogen fliegt kostbares Kristall durchs Zimmer. Zum Glück lenkt ihn der Zipfel eines Teppichs, der unter dem Unrat am Boden hervorragt, von uns ab, er zerrt den Teppich ans Tageslicht, findet Gefallen an ihm, rollt ihn zusammen, wirft ihn sich über die Schulter und geht aus dem Haus.
4.
Nachts sind alle Russen betrunken. Sie kommen zu uns in den Keller und wollen die Frauen herausholen. Wir schreien uns die Kehlen heiser nach unserem Kommandanten, doch der lässt sich nicht sehen. Mit einem der Russen kämpft Papa um Klara. Fast hat der Russe sie schon am Arm aus dem Luftschutzkeller gezerrt. Papa bittet und fleht und hält die gellend schreiende Klara am anderen Arm fest, wird dabei immer weiter in den Kellerflur gezogen, weg von uns Kindern, die den Erwachsenen mit dem Hilfeschrei „Kommandant, Kommandant!“ Schutz zu geben versuchen.
„Diti!“ ruft Papa in den Luftschutzkeller, „Diti!“ Der hat sich hinter einem Pfeiler verkrochen und ist in tiefen Schlaf gefallen, als einziger von uns. „Diti, du musst sofort aufstehen, du musst jetzt helfen!“
Taumelnd kommt mein Bruder hinter dem Pfeiler hervor.
„Hilf uns“, sagt Papa, „hol den Kommandanten!“
Diti rennt los – und ich hinterher, an dem Soldaten vorbei, gegen den Klara sich immer noch wehrt. Wir jagen die Treppe hinauf, stolpern oben im Dunkeln über schlafende Russen. Im Wohnzimmer schläft der Offizier, der uns Schutz zugesagt hatte, auf dem Sofa. Wir erkennen ihn an den breiten, mit allerlei Zeichen geschmückten Achselklappen, an den vielen Orden auf der Brust.
Diti redet auf ihn ein, doch der Kommandant schnarcht. Immer wieder rüttelt Diti ihn: „Kommandant… Du musst helfen, du musst kommen!“
Aber der Kommandant wird nicht wach. Wahrscheinlich betrunken. Wütend zerrt Diti an ihm: „Im Keller, da murksen die Russen inzwischen die ganze Familie ab!“
Das Geschrei der Kinder unten und Ditis Rütteln machen den Offizier endlich wach. Torkelnd geht er hinter uns her zur Kellertreppe, reißt die Tür auf und brüllt etwas hinunter. Keiner der Soldaten hört auf ihn. Er stolpert die Stufen hinab, doch sie nehmen keine Notiz von ihm. Unser Kommandant ist klein, und die Soldaten sind schwere, selbstbewusste Kerle. Der Kommandant kann nicht befehlen, muss seinen Soldaten gut zureden, damit sie von Klara ablassen. Es dauert einige Zeit, bis sich das Knäuel um Klara löst. Fluchend gehen die Soldaten aus dem Keller. Der Kommandant folgt ihnen nach oben. Wer weiß, ob er noch einmal kommen wird, um uns zu helfen. In den nächsten Stunden haben wir Ruhe – aber was wird morgen sein?
Am nächsten Tag steigen zwei Russen die Treppe zur Waschküche herunter. Sie gehen schnell, entschieden, als ob sie einen Auftrag haben. Im Keller suchen sie gründlicher als alle, die vorher da waren. In jede dunkle Ecke schauen sie. Aber sie nehmen nichts mit. Endlich kommen sie auch in den Luftschutzkeller. Mama, Klara und Frau Duschau haben die Kleinsten auf den Arm genommen. Ängstlich starren sie den beiden entgegen, die weder „Uri“ sagen noch „Komm, Frau!“, sondern nur „Dokumente!“
Sie lassen sich Zeit mit der Prüfung der Pässe. Großvater erklärt auf Polnisch, wie alt er ist, aber davon nehmen sie keine Notiz.
Sie reichen die Pässe zurück und fragen etwas auf Russisch. Da niemand sie versteht, gehen sie wieder. Ich folge ihnen und erschrecke, als einer von ihnen die Tür zum Heizungskeller öffnet. Ich weiß: Dort ist Papa. Hier unten gibt es keine Toilette, daher gehen die Erwachsenen hinter den Koks. Ich schaue an den Soldaten vorbei in den dunklen Heizungsraum. Papa ist nicht zu sehen. Der Soldat ruft etwas in den Keller, da höre ich Schritte auf dem Koks, und Papa kommt hervor. Der Russe winkt ihn heraus. An der Tür packt er Papa am Arm, hält ihm die Pistole an den Kopf und drängt ihn zur Kellertreppe. Weil Papa die Stufen nicht schnell genug hinaufgeht, gibt der andere Soldat ihm einen Tritt. Papa schaut sich nach ihm um – und sieht mich. Da fange ich an zu schreien...
Schreiend laufe ich zurück in den Luftschutzkeller. „Sie haben Papa mitgenommen!“ Ich werfe mich über den Tisch und schluchze.
„Wo ist Diti?“ fragt Mama ruhig, als habe sie es kommen sehen. „Geh Diti suchen! Sag, er soll Papa hinterhergehen! Er soll aufpassen, wo sie in hinbringen!“
„Lassen sie Papa wieder laufen?“ frage ich heulend. „Lassen sie ihn bald wieder frei?“
„Warum sollen sie ihn festhalten?“ beruhigt Mama mich. „Er hat keinem was getan!“
Weinend laufe ich in den Garten. Diti sitzt bei den Russen am Lagerfeuer, als ob er schon zu ihnen gehört.
„Diti!“ schreie ich. „Sie haben Papa geholt!“
Er springt auf, und zusammen laufen wir auf die Straße. An der Kreuzung Johannisberg – Jäschkentaler Weg stehen, von Soldaten bewacht, etwa dreißig Männer, und immer mehr werden gebracht. Mitten unter ihnen Papa.
„Warum ist er hinter dem Koks hervorgekommen?“ Wieder fange ich