Скачать книгу

ganze Weile steht Diti ratlos da, sagt kein Wort, schaut zu Papa hinüber.

      „Du musst ihm helfen abzuhauen!“ sage ich.

      „Wie denn?“

      „Du findest schon einen Weg!“

      Diti hat eine Idee. „Bleib hier stehen!“ befiehlt er mir. „Behalt Papa im Auge! Bin gleich wieder da!“

      Mit einer Decke, in die ein Kommissbrot gewickelt ist, kommt er zurück. Aber die Posten lassen ihn nicht an Papa heran. Sie drängen die Männer gegen ein hohes Gitter; dahinter, zwischen Bäumen und Hecken, steht ein Schlösschen, die Villa des Postpräsidenten. Diti läuft mir voraus durch die Toreinfahrt, schleicht am Gitter entlang durch den Garten zu den Gefangenen, zeigt einem, der am nächsten steht, unseren Vater und flüstert: „Den Mann da - schleusen Sie den vorsichtig ans Gitter!“

      Es dauert lange, bis Papa, Schritt für Schritt zurückweichend, die Posten im Auge behaltend, den Zaun erreicht. Diti will ihm das Päckchen durch die Stäbe schieben, aber das Kommissbrot ist zu dick. Er muss es hinüberwerfen. Ungeschickt und voll Angst, es könnte von den Soldaten bemerkt werden, versucht Papa, das Brot aufzufangen. Es fällt zu Boden. Mehrere Männer bücken sich danach. Diti steckt Papa noch eine Schachtel Zigaretten zu, in den letzten Kriegsjahren eine Kostbarkeit. Papa schüttelt verwundert und gerührt den Kopf. „Wo hast du die her?“

      „Mach was, damit er fliehen kann!“ verlange ich von Diti.

      Er schüttelt den Kopf.

      „Wenn du ihm hilfst, schafft er es bestimmt! Wir verstecken ihn im Wald – oder bei den Koschalkes auf dem Land.“

      Einen Augenblick lang ist Diti unsicher. Er schaut zu Papa hinüber.

      „Wenn die Russen ihn wegbringen“, versuche ich Diti umzustimmen, „kann er nichts mehr für uns tun, kann Mama und Klara nicht beschützen! Er muss fliehen!“

      „Es gibt so etwas wie Ehre“, sagt Diti. „Aber davon verstehst du nichts. Er hat nichts getan, weshalb soll er fliehen? Er hat ein reines Gewissen!“ Dann, nach einem Zögern: „Außerdem glaube ich, Papa ist nicht geschickt genug zum Fliehen...“

      Die ganze Zeit behält Papa uns im Auge. Er reckt den Hals, und wenn sich mal ein Größerer vor ihn stellt, schiebt er ihn beiseite. Er hebt die Hand und winkt vorsichtig.

      Im Luftschutzkeller erzählt Diti den Erwachsenen, wie streng die Russen Papa bewachen, dass sie uns nicht an ihn ranlassen, dass immer mehr Männer gebracht werden, alle so alt wie Papa und noch älter – viele stützen sich auf einen Stock.

      „Wohin können sie die alten Männer schon bringen?“ sagt Mama und macht uns Hoffnung, dass wir Papa bald wiedersehen. „Du musst mit Papa mitgehen“, bittet sie Achim. „Vielleicht lassen sie dich bald wieder frei. Dann wissen wir wenigstens, wo er ist, und können hingehen und ihn verpflegen.“

      Sie legt für Achim einen Anzug bereit. Er soll ihn anziehen. Wenn er älter wirkt, nehmen die Russen ihn mit.

      „Wo kommt Papa hin?“

      „Sicher in der Nähe in ein Gefangenenlager“, vermutet Mama. „Natürlich nur vorübergehend!“

      Achim ist skeptisch. „Nur vorübergehend?“ Er wechselt mit Klara einen zweifelnden Blick.

      „Wenn die Russen euren Vater so behandeln“, sagt Klara, „wie bei uns die russischen Kriegsgefangenen behandelt wurden… dann hat er nichts zu lachen!“ Aber Mama will jetzt keine Zweifel aufkommen lassen: „Arbeiten mussten die Gefangenen – wie jeder bei uns!“

      Klara weiß es besser. Klaras Vater war Häftling im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. „Dort haben auch russische Kriegsgefangene gearbeitet“, sagt Klara, „aber lange hat man sie nicht leben lassen…“

      „Papa wird eine Weile interniert, bis der Krieg vorüber ist, dann wieder zu seiner Familie entlassen“, fährt Mama unbeirrt fort, während sie für Achim einen Rucksack packt. „Barackenlager gibt es genug in unserer Gegend, da brauchen die Männer nicht weit zu laufen. Das Narvik-Lager zum Beispiel.“ Sie wendet sich an Großvater. „Du hast erzählt, dass ihr winterfeste Baracken für russische Kriegsgefangenen gebaut habt.“

      „Nein, nein“, sagt Großvater, „das musst du verwechselt haben. Meine Leute haben zwar winterfeste Baracken gebaut – aber nicht für Russen!“

      Mama hat jetzt Wichtigeres zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, was die Nazis mit ihren Feinden angestellt haben. Sie steckt ein Kommissbrot und eine Flasche Mineralwasser in den Rucksack, denn es geht ja nicht weit, meint sie, Papa und Achim werden nur kurze Zeit fort sein. Obendrauf packt sie frische Wäsche für Papa und eine Decke, und als Achim sich den Rucksack umschnallt, legt sie ihm noch Papas Regenmantel über den Arm. Zum Abschied umarmt sie Achim.

      „Wenn du nicht fliehen kannst, musst du eben für Papa sorgen!“

      „Mama, ich hab solche Angst!“ sagt Achim leise.

      Sie macht ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. „Hab keine Angst um uns“, tröstet sie ihn. „Diti ist ja da, er wird für uns sorgen. Pass du auf Papa auf!“

      Wir bringen Achim zur Tür. Draußen ist es warm geworden. Ein sonniger Frühlingstag. Brandgeruch liegt in der Luft, ein beißender Dunst, es riecht nach verbranntem Holz, angesengten Kleidern, und obwohl nirgendwo in unserer Umgebung brennende Häuser zu sehen sind, schweben überall grauschwarze Flocken zur Erde herab.

      Auf Mamas Flügel im Salon klimpert ‚unser’ Kommandant herum. Wir hören die Stimmen der Russen im Haus. Sie lachen und singen ihre herrlichen Lieder.

      Als ich in den Luftschutzkeller zurückkomme, packt Frau Duschau hastig die Sachen ihrer Kinder zusammen. „Es brennt in der Nähe, riecht ihr das nicht? Wie schnell kann das Feuer hier sein! Wir müssen raus!“

      „Wohin denn?“ fragt Mama. Aber auch sie fängt an zu packen, und Klara hilft ihr dabei.

      Reglos steht Fräulein Plasse und schaut zu. „Was mache ich bloß mit meinem schweren Koffer?“ Sie blickt Klara an, als ob sie erwartet, dass Klara ihr den Koffer trägt.

      Großvater zankt mit Großmutter um jedes Stück, das sie aus ihren Koffern herausholt, um es in kleinere, leichtere Taschen umzupacken. „Das brauchen wir alles nicht! Wer soll das schleppen?“ Schließlich gibt Großmutter auf. „Lasst uns doch hier!“ stöhnt sie. „Was können die uns alten Leuten tun?“

      Frau Duschau drängt zur Eile. „Wir müssen hier raus, solange es Tag ist. Noch so eine Nacht mit den Russen ertrage ich nicht!“

      Mama holt Rucksäcke mit Wäsche, die sie nach den ersten Bombennächten für jedes von uns Kindern vorbereitet hat. Jeder muss seinen Rucksack umschnallen. Aber wer soll das Essen, die Wasservorräte, die Decken schleppen? Wohin gehen wir überhaupt? Wie lange werden wir unterwegs sein?

      „Diti! Wo ist Diti?“

      „Diti ist mit Achim mitgegangen“, sage ich.

      „Ohne Diti können wir nicht weg!“ erklärt Mama.

      „Gehen wir wenigstens aus dem Keller!“ Frau Duschau wird immer ungeduldiger.

      „Nicht durch die Waschküche!“ ruft Klara. In der Waschküche haben die Russen eine Funkstation eingerichtet – der Raum scheint Funker anzuziehen.

      „Probieren Sie, ob die Tür zum Notausgang aufgeht“, schlägt Frau Duschau vor.

      Vergeblich versucht Klara, den schweren Hebel, der die niedrige eiserne Tür verschließt, herumzulegen. Ich hole ein Beil und schlage auf den Hebel, aber er lockert sich nicht. Die Tür ist nie benutzt worden und der Hebel eingerostet. Einen Augenblick lang haben wir das Gefühl, in der Falle zu sitzen… Da wird der Hebel plötzlich bewegt, quietschend öffnet sich die Eisentür. Diti hat sie von draußen aufgestemmt.

      „Ich hab einen Wagen gefunden!“ ruft er uns aufgeregt entgegen.

      „Was

Скачать книгу