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Fräulein Plasse, meine Lehrerin, am Kellereingang. Ein Wunder, dass sie lebend bei uns angekommen ist. Tiefflieger machen tagsüber Jagd auf jeden, der sich in den Straßen sehen lässt. Noch zitternd vor Angst hält Fräulein Plasse Mama eine große Speckseite entgegen und bettelt, wir sollen sie aufnehmen. Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Wir können uns im Luftschutzkeller kaum noch bewegen!“

      Auch Klara ist dagegen. Sie hat meine Lehrerin nie leiden können. Denn Fräulein Plasse liebt den Führer. In der Schule schwärmte sie von Adolf Hitler: „Wenn kleine Mädchen den Führer auf dem Obersalzberg besuchen, lässt er ihnen Erdbeeren mit Schlagsahne reichen, selber aber isst er nur Erbsensuppe mit Speck!“

      „Quatsch!“ schrie Klara immer, wenn ich ihr berichtete, was ich in der Schule gehört hatte. „Glaubt doch den Blödsinn nicht!“

      Das letzte Mal besuchte Fräulein Plasse uns kurz vor Weihnachten. Bei der Begrüßung meckerte sie: „Fräulein Klara, Sie müssen darauf achten, dass die Kinder die Händchen schön hochheben, wenn sie ‚Heil Hitler’ sagen!“ Da wurde Klara giftig: „Wozu sollen sie das lernen? Bald wird der, den sie grüßen, sowieso nicht mehr da sein!“

      „Jetzt, da ihr geliebter Führer die Karre in den Dreck gefahren hat“, schimpft Klara, „will sie bei uns unterkriechen! Nein!“

      Aber mein Vater bestimmt: „Fräulein Plasse bleibt!“ Er fühlt sich für sie verantwortlich. Sie darf sich im Luftschutzkeller mit Vorhängen eine kleine Ecke abteilen. Da verkriecht sie sich, wenn Klara in der Nähe ist. Steckt Fräulein Plasse mal die Nase hervor, kriegt sie von Klara prompt zu hören: „Wir danken unserem Führer!“

      Fräulein Plasse erträgt Klaras Sticheleien mit scheinheiliger Geduld. Hauptsache, sie ist in der Nähe der SS. „Die werden uns beschützen!“ sagt sie. Ihr Parteiabzeichen trägt sie nicht mehr auf dem Revers ihrer Kostümjacke.

      „Durch Fräulein Plasse ist in unseren Keller etwas hineingekommen, was bisher nicht da war“, schreibt meine Mutter in ihr Tagebuch, „eine gereizte Stimmung. Wenn sie von deutschen Kriegsschiffen erzählt, die in der Danziger Bucht darauf warten, uns alle im letzten Augenblick zu befreien, kocht Klara vor Wut. Dann fragt sie Fräulein Plasse, warum sie sich mit den Nazibonzen nicht längst aus dem Staub gemacht habe. Woraufhin Fräulein Plasse sich eingeschnappt zurückzieht und muffig in ihrer Ecke sitzt. Nur Ernst ist noch nett zu ihr, ganz Kavalier alter Schule, statt ihr mal kräftig die Meinung zu sagen.“ Und weil auf dem Kalenderblatt an diesem Tag noch ein wenig Platz ist, fügt Mama hinzu: „Es sieht so aus, als ob die SS bald abzieht!“

      Die Russen haben angefangen, mit ihren ‚Stalinorgeln’ auch die Vororte von Danzig zu beschießen. Wenn zwanzig Raketen fast gleichzeitig gezündet werden und über uns hinweg heulen, wird es sogar den SS-Männern mulmig. Mit ihrer Funkstation kommen sie herunter in den Keller und bauen sie in der Waschküche auf. Klara soll mit ihren Töpfen und Pfannen hinausgehen. Aber Klara weicht nicht.

      „Ich muss für zwölf Kinder und sieben Erwachsene kochen!“ herrscht sie die SS-Männer an. „Soll ich draußen im Garten ein Lagerfeuer machen?“ Alle Funksprüche hört sie mit, auch die geheimen. Als sie mit dem Essen zu uns in den Luftschutzkeller kommt, weint sie.

      „Die Innenstadt brennt! Das kam gerade durch! Die Menschen springen in den Hafen, um den Flammen zu entkommen, ganze Familien ertrinken in der Mottlau!“ Und mit einem zornigen Blick auf die Vorhänge, die Fräulein Plasse rechtzeitig zugezogen hat, ruft sie mit bitterem Spott: „Führer befiehl, wir folgen dir!“

      Ich helfe Klara abwaschen, damit ich den SS-Männern beim Funken zuhören kann. Nach dem Mittagessen kommt eine Nachricht, die ein Melder sofort zur Front bringen muss. Die Front verläuft zwischen Pietzgendorf und Langfuhr. Der ‚Iwan’ steht also vor unserer Tür… Der SS-Mann, der bei uns das Sagen hat, schaut seine Leute einen nach dem anderen streng an und bellt: „Ein Freiwilliger vor!“

      Alle SS-Männer schauen auf den Jüngsten unter ihnen, der muss sich als ‚Freiwilliger’ melden. Er nimmt den Funkspruch in Empfang, beißt noch einmal in den Pfannkuchen, den er sich gerade auf dem Herd gebacken hat, und läuft hinaus zu seinem Motorrad. Ich dehne das Abwaschen und Schrubben der Töpfe besonders lange aus, um recht viel vom Funkverkehr mitzukriegen. Viel verstehe ich nicht, es ist im Kauderwelsch der Funker gesprochen oder stark gestört. Aber dann kommt ein Funkspruch ganz klar durch, und alle hören entsetzt zu: Der junge Melder, der eben noch am Herd stand und seinen Pfannkuchen durch die Luft wirbelte, ist tot. Auf seinem Motorrad wurde er von einer Granate getroffen. Alle schauen wir den schneidigen SS-Mann an, der ihn losgeschickt hat. In der Stille ist nicht zu überhören, was Klara vor sich hin murmelt: „Warum musste der arme Kerl sterben – so kurz vor dem Ende?“

      Der schneidige SS-Mann baut sich vor Klara auf und brüllt: „Fräulein Klara, Sie glauben also nicht daran, dass unser Führer Wort hält und die Wunderwaffe einsetzt?“

      „Hauptsache, Sie glauben daran!“ sagt Klara schnippisch und geht aus der Waschküche.

      In dieser Nacht zieht die Waffen-SS endlich ab. Vorher kommen sie zu uns in den Luftschutzkeller. Alle haben sie eine mächtige ‚Fahne’, stoßen überall an und sprechen noch lauter als sonst. Einer bringt seine Maschinenpistole mit. Wir kriegen einen Schreck, weil wir denken, sie suchen die Kommissbrote, die wir ihnen geklaut haben. Aber der schneidige SS-Mann, den wir hassen, weil er den jungen Melder in den sicheren Tod geschickt hat, sagt: „Wir hauen jetzt ab und empfehlen euch mitzukommen.“

      „Aha“, murmelt Klara, „die Ratten verlassen das sinkende Schiff.“

      Entsetzt schaue ich den schneidigen SS-Mann an, der so tut, als habe er es überhört.

      Mama dreht sich zum unserem Vater um. „Was meinst du, Ernst?“

      Papa ist ratlos. „Wie wollen Sie uns alle mitnehmen? Meine Frau und mich und unsere sechs Kinder? Meine Schwiegereltern und Klara? Frau Duschau mit ihren sechs kleinen Kindern - und Fräulein Plasse?“

      Großvater, der in der Ecke neben dem Notausgang mit Großmutter ein schmales Lager teilt, flüstert Mama zu: „Bloß nicht mit denen mitgehen!“

      „Warum nicht?“

      „Wenn erst die Russen weitergezogen sind“, sagt Großvater leise, „kommen die Polen, dann geht's uns wieder gut!“

      Vor dem Krieg hat Großvater, der Bauunternehmer war, die polnische Post gebaut. Er trug einen polnischen Namen, bis die Deutschen ihn zwangen, sich eindeutschen zu lassen.

      „Die Polen werden uns nichts tun, ich kenne sie!“ flüstert er Mama ins Ohr.

      Der schneidige SS-Mann hat es gehört. „Bedenken Sie, wie wir mit den Polen umgesprungen sind…!“ Er wendet sich an Papa: „Ich kann Sie nicht verstehen. Ich würde meine Familie doch nicht dem Iwan ausliefern!“

      „Wir bleiben!“ sagt Papa.

      3.

      „Seit die SS weg ist“, schreibt meine Mutter abends auf das Kalenderblatt vom 27. März, „fragen die Kinder mich, warum wir nicht längst aus Danzig geflohen sind. Warum ich nicht ohne Ernst mit ihnen ins Reich gefahren bin. Im Januar hatten wir Karten für das Flüchtlingsschiff ‚Wilhelm Gustloff’. Aber ich wollte meinen Ernst nicht alleinlassen. Er war verpflichtet, in Danzig zu bleiben. Dann wurde die ‚Wilhelm Gustloff’ torpediert und ging unter – mit Tausenden von Frauen und Kindern. Und alle aus der Verwandtschaft beglückwünschten mich, dass ich im letzten Augenblick die Schiffskarten zurückgegeben hatte.“

      In dieser Nacht wird es draußen ruhig, zum ersten Mal, seit im Januar die Offensive der Russen begann. Kein Fliegerangriff mehr. Keine Granaten heulen übers Haus. Keine Luftminen explodieren in unserer Nähe. Nur Gewehrfeuer ist in der Ferne zu hören. Dann verstummen auch die MGs. Die plötzliche, ungewohnte Stille macht uns Angst. Wir sitzen im Luftschutzkeller eng aneinandergedrückt und beten. Plötzlich fällt Klara etwas ein. Rasch schickt sie Diti nach oben. „Schau nach, ob die SS etwas vergessen hat, das die Russen nicht finden dürfen!“

      Als

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