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So war der Ruf nach einem Führer ein herausragendes Leitmotiv der öffentlichen Meinung in Deutschland.23 Das autoritäre „heroische“ Führertum erschien insbesondere den antidemokratischen Rechten als erstrebenswerte Alternative zum verhassten parteipolitischen System, aber auch in bürgerlich-konservativen Parteien und Bewegungen fanden sich hierfür zahlreiche Sympathisanten.24 Der nationalistische Führermythos beinhaltete die Erwartung, dass ein vom Himmel auserwählter, mit besonderen Gaben versehener großer Mensch Deutschland aus seiner Not reißen und zu neuer Größe führen würde.25 Der Führergedanke wies somit einen religiösen Akzent auf. Die Idee des Führertums war teils auf die traditionelle Autoritätshörigkeit, teils auf die Säkularisierung des christlichen Heilsglaubens zurückzuführen.26 Den völkisch-nationalen Vorstellungen zufolge sah man den idealen Führer in einem Mann, der aus dem Volk kam und in dessen Charakter sich Kampf, Konflikt und die Werte des Schützengrabens widerspiegelten. Seine Aufgabe war es, die in der Gesellschaft existierenden Privilegien und Klassen zu beseitigen und in selbstloser Entsagung das Volk in einer ethnisch reinen und sozial harmonischen „nationalen Gemeinschaft“ zu einen.27 Damit sollte die „führerlose Demokratie“ Weimars überwunden werden. Die „minderwertigen“ Parteifunktionäre erschienen als das genaue Gegenbild zum Führer, da diese angeblich nur den eigenen Vorteil im Sinn hatten. Den Parteiführern warfen die antidemokratischen Gruppen Volksverführung und Demagogie vor. Ihre gängige Auffassung ging dahin, dass man führungsbegabte Persönlichkeiten in einem parlamentarischen System nicht finden könne.28

      Nachdem Goebbels seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, ähnelten seine beruflichen Pläne eher phantastischen Träumereien. So wollte er freier Journalist oder Schriftsteller werden – beides waren Tätigkeiten, die ihn kaum hätten ernähren können. Anfang 1922 gelang es ihm, sechs Aufsätze in der Westdeutschen Landeszeitung zu veröffentlichen. Beim Feuilleton der Zeitung wurde er im Herbst kurzzeitig als Volontär angestellt.29

      Im Januar 1923 nahm Goebbels eine Stelle bei der Dresdner Bank in Köln an. Er hatte einen starken Widerwillen gegen die neue Tätigkeit, die seinen Überzeugungen widersprach. Die Erinnerungsblätter vermitteln seine labile psychische Verfassung.30 Seine „antikapitalistischen“ Tendenzen ließen sich nicht mit der Arbeit in einer Bank vereinbaren. Lange sollte Goebbels hier dann ohnehin nicht bleiben – im September desselben Jahres wurde ihm gekündigt.

      Schaut man sich Goebbels` Erinnerungsblätter an, so wird in dem Teil, in dem er seinen Lebensabschnitt bei der Dresdner Bank rekapituliert, zum ersten und einzigen Mal Hitler erwähnt. Völlig zusammenhanglos und unkommentiert vermerkte er: „Die Judenfrage in der Kunst. Gundolf. Geistige Klärung. Bayern. Hitler. Abends früh zu Hause.“31

      Goebbels wird hierbei auf die Geschehnisse, die sich nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen in Bayern ereigneten, angespielt haben. Unter dem Vorwand, Deutschland habe seine Reparationsforderungen nicht erfüllt, war eine belgisch-französische Armee im Januar 1923 ins Ruhrgebiet einmarschiert. Daraufhin hatte sich die Regierung in Berlin dazu entschlossen, den passiven Widerstand auszurufen.32 Hitler reagierte auf diesen Entschluss mit einer propagandistischen Offensive, indem er die Idee eines „Führertums“ beschwor und verlauten ließ, der deutschen Ohnmacht bald ein Ende bereiten zu wollen. Im April plante die „Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände“, zu der auch die SA, der Ordnerdienst der NSDAP, gehörte, zum Monatswechsel in München loszuschlagen. Am 1. Mai scheiterte jedoch ihr Versuch, die Mai-Kundgebung von SPD und Gewerkschaften auf der Theresienwiese zu sprengen. Der Sturz der bayerischen Regierung gelang ihr ebenfalls nicht. Der 1. Mai 1923 stellte sich für Hitler als der schwerste Rückschlag heraus, den er bis dahin hatte einstecken müssen.33

      Anfang der zwanziger Jahre bildeten sich bei Goebbels, der nicht im außergewöhnlich judenfeindlichen Umfeld aufgewachsen und erzogen wurde, allmählich antisemitische Annahmen heraus. Begünstigt wurde dies durch die Auseinandersetzung mit vielfältigen literarischen und fach- oder pseudowissenschaftlichen Werken. Goebbels begann in den Juden die Verkörperung des ihm verhassten Materialismus zu sehen und machte sie für alle Übel dieser Welt verantwortlich. Während seiner Anstellung bei der Dresdner Bank verstärkte sich diese Haltung gegenüber den Juden. Er warf ihnen vor, Deutschland innenpolitisch schwächen und wirtschaftlich ausbeuten zu wollen. Ab 1926 sollten sich diese antisemitischen Überzeugungen im Kontakt zu Hitler maßgeblich festigen.34

      Im Sommer 1923 wurde Goebbels vom Tod seines Freundes Richard Flisges erschüttert. Er glaubte, sich an einem weiteren Tiefpunkt seines Lebens zu befinden35 und beschloss, seinen Kummer literarisch zu verarbeiten – eine Methode, die er schon oft im Leben in für ihn schwierigen Situationen angewandt hatte. In dem nun entstandenen Roman Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern kam Goebbels` Sehnsucht nach einem Führer erneut zum Vorschein. Diesem wollte er sich bedingungslos dienstbar machen, um mit ihm zusammen ein „neues Deutschland“ zu erschaffen.36 Noch war seine Sehnsucht aber nicht auf eine bestimmte Person konzentriert.

      Der seit September arbeitslose Goebbels erlebte nun den Abbruch des Ruhrkampfs durch die Reichsregierung. Die Wirtschaft war völlig zerrüttet, die Inflation stieg unaufhaltsam in die Höhe. Goebbels glaubte an den „Untergang des deutschen Gedankens“.37

      Den Hitler-Putsch in München am 8./9. November 1923 registrierte er in seinem am 17. Oktober begonnenen Tagebuch. Allerdings erwähnte er Hitler mit keinem Wort und handelte den Putsch sehr kurz in zwei Sätzen ab: „In Bayern Nationalistenputsch. Ludendorff ist wieder einmal zufällig spazierengegangen.“38 Ludendorff, der im Ersten Weltkrieg als Erster Generalquartiermeister Berühmtheit erlangt hatte, galt allgemein als der symbolische Kopf der nationalistischen Rechtsradikalen, obwohl er selbst keine Gruppe offen leitete. Als prominenter Verfechter der „Dolchstoßlegende“ bewegte er sich im Fahrwasser der Alldeutschen. Er hatte im Kapp-Putsch eine Nebenrolle gespielt, bevor er sich am Hitler-Putsch beteiligte. Daher auch Goebbels Formulierung „wieder einmal“. Zwar war Hitler zwischen 1921 und 1923 vom örtlichen „Bierkelleragitator“ zum „Trommler“ der nationalistischen Rechten aufgestiegen,39 aber im Gegensatz zum Kriegshelden Ludendorff, der als hochrangige Persönlichkeit galt, wird er für Goebbels noch immer eine untergeordnete Rolle gespielt haben – falls er ihn überhaupt wahrgenommen hat. Die Tatsache, dass er Hitler in den Erinnerungsblättern zu einem früheren Zeitpunkt aufgeführt hatte, lässt sich damit erklären, dass er diese erst im Sommer 1924 anfertigte, nachdem er mit der NSDAP in Berührung gekommen war und entsprechende Vorkenntnisse erworben hatte.

      Während nach dem Hitler-Putsch durch die Einführung der Rentenmark am 15. November das Ende der Inflation eingeleitet wurde und sich die junge Republik nach erfolgreicher Abwehr der Angriffe von rechts und links zu konsolidieren begann, war Goebbels noch immer arbeitslos und auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Seine Versuche, als Journalist eine Arbeit zu finden, erwiesen sich jedoch als vergeblich.

      Anfang des Jahres 1924 sah Goebbels „seinen Führer“ in einer konkreten Person. So schrieb er im Februar in sein Tagebuch: „Dostojewski. (…) Er kommt von nirgendwo und gehört nirgendwohin. Ich kenne kaum etwas aus seinem Leben und Werden. Und doch ist er mein Prophet, mein Engel, mein Bruder, mein Freund, mein Führer, mein Bruder, mein großer Lehrer und Weiser in die Zukunft.“ 40 Goebbels hatte bereits in seiner Studienzeit angefangen, sich mit Fjodor Michailowitsch Dostojewski zu beschäftigen und sich zu einem glühenden Verehrer des russischen Schriftstellers entwickelt, der ihn auch bei den eigenen literarischen Versuchen inspirierte. Durch ihn meinte er erkannt zu haben, dass das Wesen des russischen Volkes dem des deutschen verwandt sei. Goebbels war von Russland geradezu fasziniert – ganz im Gegensatz zu Hitler.

      Im Zusammenhang mit dem am 26. Februar begonnenen Münchner Hochverratsprozess gegen die November-Putschisten, in dem Hitler die Anklagebank als Rednertribüne nutzte und hierbei zahlreiche Sympathien in der deutschen Öffentlichkeit weckte, wurde Goebbels auf ihn aufmerksam. In seinem Tagebuch vermerkte er: „Ich beschäftige mich mit Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung und werde das wohl noch lange tuen müssen.“41 Zwei Tage später ist zu lesen: „Viel mit Hitler zu tuen. Ich komme nicht durch. Verquickt mit allen schwierigen Problemen des Abendlandes.

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