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      Ja, alles ist im Fluss. Und einiges geht den Bach runter: Hoffnungen, Wünsche, Illusionen, Visionen – gewissermaßen die soziale Software. Was bisher trotz aller 68er-Rebellion blieb, ist die Hardware. Das harte Kerngeschäft des ein-prozentigen Establishments: Die Welt der Waren und des Geldes. Wir Jungen von damals, wir Politfreaks und Blumenkinder, wir versuchten die wahre Welt zu erkunden und der jugendlichen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In stolzem und berechtigtem Eigeninteresse traten wir ein für Frieden, Gleichberechtigung von Frau und Mann, soziale Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Freiheit – für all die guten alten Ideale der französischen Revolution, auch wenn wir von dieser Historie noch nicht wirklich etwas verstanden.

      Im ersten Band der Zeitreise-Serie, »Sexy Zeiten – 1968 etc.«, habe ich unser jugendliches Aufbegehren in seinen Anfängen geschildert, zum Teil eine individuelle, teils eine Familien- und im Ganzen eine gesellschaftliche Geschichte. Geschichte in Form eines Romans. Ich hoffe, Sie hatten Freude an diesem Einsteiger. Nun reisen wir von den Sechzigern weiter in die erste Hälfte der Siebziger Jahre. Auch hier erleben wir den Protest in all seinen Variationen. Und wir verspüren bereits erste gesellschaftliche Veränderungen – einige von uns gingen auf den großen Hippie-Trail, andere versanken im Studium von Marx und Engels, engagierten sich in Kirchen, Kinderläden, Verbänden und Parteien. Einige standen, however, abseits. Die Politik trieb Wandel durch Handel und wurde etwas weniger aggressiv. In diesem Moment wurde die alte Bundesrepublik bunter. Das allgegenwärtige Grau blätterte ab und eine andere Fassade kam zum Vorschein. Was bewegte uns damals?

      1970 - Aufbruch & Liebe & Musik & Terror

      Karin feuerte mich an. „Ich liebe dich.“ Ich war kurz vorm Kommen. Raketen zischten am Europacenter hoch. Eine knallte ein paar Fenster weiter gegen die von uns frisch eroberte Chefetage. Ein sexy Sternenregen ergoss sich, während auch ich fast am Explodieren war und Karin die Situation stöhnend untermalte. Ein tolles Schauspiel.

      Sie liebt mich. Sind solcher Art Liebesgeständnisse eigentlich immer der speziellen Situation geschuldet? Ist es Schauspielerei? Ich weigerte mich, den Gedanken zu vertiefen. Einen Moment hielt ich inne und sagte: „Ich dich auch. Für immer und ewig.“

      Draußen böllerte es ununterbrochen. Vor etwa zehn Minuten war das neue Jahrzehnt angebrochen. Wir hatten die Siebziger Jahre mit unserer ungeplanten wilden Liebesnacht rasant eingeläutet. Mitten in Westberlin. Hoch über den Dächern der Stadt. Drei Etagen unter uns würden unsere gleichaltrigen Partygäste der Center-Disco bis in den frühen Morgen tanzen – wir hörten sie nicht, aber wir wussten es. Alle Pärchen würden jetzt noch weitere Male anstoßen, sich umarmen, gegenseitige Versprechungen ins Ohr flüstern und Mumm trinken.

      Mumm war in. Was würde ihnen und uns das neue Jahrzehnt bringen? Hätten wir Jungen den Mumm, weiterhin für eine neue Gesellschaft Rabatz zu machen und unsere Freizeit für die große Freiheits-Revolution und gegen das Geld-Establishment zu opfern? Was würde aus der Hippie-Kultur werden? Was aus der Friedenssehnsucht der Blumenkinder in California, einer hoffnungsvollen Sehnsucht, die auch in unserem noch immer viel zu grauen Land um sich griff?

      Es war eine Stunde vor Mitternacht, als wir von der Uni-Silvester-Fete abgehauen waren. Sie fand unter dem Motto „Sieg dem Vietcong!“ statt. Das war ehrenhaft und politisch korrekt. Aber es war uns zu voll, zu viel Gedränge. Und zu qualmig, denn Rauchen war eine übliche Form der wortlosen Kommunikation – so „in“ wie die Räucherstäbchen und der bekannte süßliche Duft aus den gedrehten Joints. Uns war es an diesem Silvesterabend zu viel des Guten. Wir husteten beim Abtanzen um die Wette – und wir sehnten uns nach Zweisamkeit. So hatten wir zufällig auf dem Nachhauseweg statt in die Wohngemeinschaft in die geheime 21. Etage des Europacenters – in die verlassene Chefetage – gefunden.

      Jetzt schossen sprühende Leuchtraketen aus Ost und West in Berlins kalte Winternacht. Das bunte Feuerwerk erreichte uns scheinbar mühelos in Westberlins höchstem Stockwerk. Gerade ging ein Lichterregen über der benachbarten Gedächtniskirche nieder. Was für ein Anblick!

      Ich musste meine Aufmerksamkeit wieder auf Karin lenken, unbedingt. Das gebot nicht nur die ritterliche Höflichkeit, die man uns allerdings in Sachen Sex in der Tanzstunde nicht beigebracht hatte. Auch da war das Thema galant umgangen worden. Den ersten entsprechenden Hinweis hatte mein Schulfreund Pit ein Jahr zuvor von seiner Gaby erhalten, wie er damals entrüstet berichtet hatte.

      „Mach ein bissi langsamer. Noch nicht! Noch nicht kommen! Konzentrier‘ dich mal ein bissi mehr auf mich!“, hatte Gaby ausgerufen. Und er sagte, das hätte leider etwas abtörnend gewirkt. Musste man beim Sex nicht auch Egoist sein, wenn alles klappen sollte?

      Sex = Egoismus = Kapitalismus? Auch diesen Gedanken scheuchte ich sofort hinweg.

      Nun galt es. Ich war hochkonzentriert und versuchte den Feuerwerksreigen zu ignorieren. Gleich musste die Erlösung kommen, und auch ich sollte endlich meine Rakete abschießen. Wir kamen gleichzeitig – ich und eine anonyme Silvesterrakete, die ihren silbernen Sprühregen im Moment meiner Erlösung genau in Richtung des großen Panoramafensters, vor dem Karin und ich uns liebten, ergoss. Karin stöhnte, ich stöhnte.

      Puh, welch einen Kraftakt uns die Natur abnötigte, um – wenn es darauf ankam – Nachwuchs zu zeugen. Aber das sollte noch Zeit haben, hofften wir, viel Zeit. Karin nahm die Pille. Ich vertraute Karin; aber konnte man der Pille vertrauen? Hin und wieder sollte es zu TroPi-Kindern gekommen sein, Kindern, die sich trotz Pille auf den Weg durch diese enge Öffnung in die weite Welt machten.

      Ich schnaufte und küsste Karin erschöpft. Leidenschaftlich erwiderte sie den Kuss.

      „Bist du auch ge …?“

      „Ja klar“, sagte Karin. „Ich bin etwas vor dir gekommen.“

      Konnte ich das überprüfen? Ach, die Sache mit dem weiblichen Orgasmus musste noch näher erforscht werden. Irgendwann. Von irgendwelchen Forschern.

      So lagen wir halbnackt, vor Erregung glühend, auf dem dicken Florteppich jener einsam und verlassen daliegenden Chefetage, die wohl erstmals solch einen menschelnden Jahreswechsel erlebt hatte. Auf diesem einladenden Teppich hatten es die hohen Herren des Establishments gewiss noch nie getrieben – höchstens in Gedanken. Aber konnten wir es wirklich wissen? Wie viele Male hatte vielleicht einer der hier residierenden Manager seine Sekretärin verführt und machtbesessen geknallt? Macht und Sex. Männliche Skrupellosigkeit und weibliche Sehnsucht. Gegenseitige Ausnutzung oder Missbrauch von Lohnabhängigen? Ich wollte nicht daran denken, nicht jetzt.

      „Es ist gut, dass auch Chefetagen keine Tagebücher schreiben“, sagte ich. Karin hatte mir gestern erzählt, dass sie kein Tagebuch mehr schreibe. Das sei kindisch. Ihre politische Arbeit erfordere ihre ganze Kraft und man dürfe sich nicht in belangloser Privatheit verzetteln. Ich war mir sicher, dass diese Chefetage unser Geheimnis bewahren würde – bis in alle Ewigkeit, unvergessen.

      „Tagebücher schreiben nur völlig unterbeschäftigte Kindsköpfe“, sagte Karin. Da wusste ich noch nicht, dass sie mich gerade anlog.

      Wir schmiegten uns aneinander und schauten hinaus in die hell erleuchtete geteilte Stadt, deren Himmel in diesen Minuten im Feuerwerksreigen vereint war. Wir drückten uns noch enger aneinander, glücklich, überglücklich. Ohne Sekt, ohne formelles Prost Neujahr, ohne unsere WG-Freunde; das war schon merkwürdig. Hätten wir wenigstens einen kleinen Transistorradio, wie er gerade trendy war. Ein paar Melodien. Abseits der Gedanken zum Jahreswechsel und all den guten Vorsätzen, die jetzt langsam mein Hirn zu fluten begannen. Nur ein paar Songs. Vielleicht unsere Liebeshymne „Je t’aime … moi non plus“. Oder „Love is love“ von Barry Ryan. Oder „Hey Jude“

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